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Kompaktlexikon der Biologie: Aspekte der Zwillingsforschung

ESSAY

Prof. Manfred Dzieyk, PH Karlsruhe

Aspekte der Zwillingsforschung

Eineiige oder monozygote Zwillinge (Abk. EZ oder MZ Zwillinge 1 ) galten lange als eine „Laune der Natur“ und werden noch heute von der Umwelt meist als ein Mensch in Doppelausgabe angesehen. Es handelt sich ja um eine genetische Kopie und damit um einen natürlichen Klon des jeweils anderen Paarlings. Das gilt ebenso für die sehr viel selteneren eineiigen oder monozygoten Drillinge. Zweieiige oder dizygote Zwillinge (Abk. ZZ oder DZ Zwillinge) und dreieiige oder trizygote Drillinge ähneln sich dagegen soviel oder so wenig wie übrige Geschwister.

Hier soll nicht über Ergebnisse der Zwillingsfor-schung berichtet werden, für deren differenzierte Er-läuterung hier der Raum fehlt, sondern es werden Aspekte zu den verschiedenen Forschungsansätzen aufgezeigt, um deutlich zu machen, dass und warum ältere und jüngere Ergebnisse nicht in allem miteinan-der verglichen werden können.

Zwillingsforschung und Ideologien

Als erster veröffentlichte F. Galton 1876 Ergebnisse aus einer Untersuchung (kombiniert mit Fragebögen und statistischer Auswertung) von 100 Zwillingspaaren, von denen sich 80 sehr ähnlich waren. Er kam zu dem Schluss, dass auch Intelligenz, Charakter, Gemüt, Neigungen und berufliche Leistung weitgehend anlagebedingt seien.

Diese Grundauffassung der Schicksalhaftigkeit durch das Erbgut hielt sich bei den Zwillingsforschern der ersten Hälfte des 20. Jh., gesellschaftliche Faktoren wurden unterbewertet oder als nicht relevant angesehen, wenngleich die „Zwillingsmethode“ das Verhältnis von Erbgut und Umwelt klären sollte. Ideologien wie die des Rassismus (Höherwertigkeit der weißen Rasse) sollten damit wissenschaftlich begründet werden.

Auf dieser Basis nahm die Zwillingsforschung im nationalsozialistischen Deutschland durch Otmar von Verschuer, der sich wie viele andere Wissenschaftler ganz in den Dienst der Rassen-Ideologie stellte, einen verwerflichen Weg, indem er die Verbrechen der Nationalsozialisten an Juden, Geisteskranken und anderen Gruppen, z.T. mit Fälschungen, legitimierte. Dazu kamen die verbrecherischen, Menschen verachtenden und unqualifizierten Lebendversuche an Zwillingen und deren gezielte Ermordungen durch den SS-Arzt Mengele im KZ Auschwitz. Von 3000 von ihm selektierten Zwillingspaaren sollen nur 157, z.T. schwer geschädigt, überlebt haben. In England hat bis zu seinem Tod renommierte Psychologe Cyril Burt (gest. 1972) als fanatischer Anhänger der reinen Erbtheorie bewusst gefälschte und erfundene Ergebnisse veröffentlicht, um diese Theorie zu beweisen.

Als Gegenpol entwickelte sich die ebenso unhaltbare Milieutheorie, nach der es bei der Formung des Menschen nur auf die Umwelt, insbesondere auf die Erziehung ankommt. Auch diese Theorie wurde politisch missbraucht. Heute gibt es diese extremen Positionen in der Forschung nicht mehr, der jeweilige Anteil von Erbgut und Umwelt im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen wird aber doch wissenschaftlich verschieden diskutiert: Durch eine Voreingenommenheit in der einen oder anderen Richtung können Fragestellungen verschieden sein und Ergebnisse unterschiedlich interpretiert werden. Anders zu bewerten ist die z.T. heftige bis polemische Kritik von außen an Ergebnissen, die einen Anteil des Erbguts an Merkmalen der Persönlichkeit und des Verhaltens deutlich machen, weil dies für manche ihr idealisiertes Menschenbild aus dem Humanismus und dem Christentum nicht zulässt. Von dieser Seite wird dann der Vorwurf des Biologismus oder Neodarwinismus erhoben.

Methoden der Zwillingsforschung

Die klassischen Methoden sind der Vergleich von EZ untereinander (Intra-Paarvergleich), von EZ mit ZZ, wobei bei den EZ der Vergleich zwischen gemeinsam und getrennt aufgewachsenen interessant ist.

Weitere Methoden sind seit wenigen Jahrzehnten der Vergleich von Zwillingen (EZ und ZZ) mit anderen Geschwistern, mit Adoptivgeschwistern, mit Eltern und nahen Verwandten, der experimentelle Vergleich von EZ-Paarlingen (nur einer wird motorischen und geistigen Trainingsprogrammen unterzogen), von Kindern von EZ-Eltern und schließlich der Vergleich mit einer Kontrollgruppe aus der Bevölkerung. For-scher sind Biologen, Humangenetiker, Mediziner, Psychologen und Soziologen.

Zur Einschätzung der Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit des Aussehens, der Persönlichkeit, des Erlebens und Ähnlichem wird auch mit Fragebögen gearbeitet. Hier ist ein grundsätzliches Problem, dass Beantwortungen zu nicht objektivierbaren Merkmalen und Eigenschaften leicht bewusste und/oder unbewusste Fehlangaben der Zwillinge und von deren Eltern beinhalten können.

Unbestritten ist heute, dass die meisten rein körperli-chen Merkmale wie die Gestalt des Gesichts und des Körpers und ihrer Teile, anatomische und physiologi-sche Merkmale fast allein vom Erbgut abhängen, wodurch sie bei EZ ähnlich und bis ins Detail iden-tisch sind und sich über die Lebensphasen in gleicher Weise verändern. Körperlänge und Gewicht hängen auch von Außenfaktoren ab. Sogar die Akzeleration der letzten 150 Jahre in den industrialisierten Ländern kann nur durch veränderte Umweltbedingungen er-klärt werden.

Unbestritten ist heute in der Forschung weitgehend auch, dass Persönlichkeitsmerkmale wie z.B. Charak-ter, Temperament, Intelligenz, Begabung und Fähig-keiten, Emotionalität und Lernverhalten, wahrschein-lich sogar eine gewisse Anfälligkeit zum Suchtver-halten, eine genetische Beteiligung haben.

Methodische Fehlermöglichkeiten in der Diagnose der Eiigkeit/Zygosität

Für alle Untersuchungen in der Zwillingsforschung ist die Feststellung der Eiigkeit bzw. Zygosität unab-dingbar. EZ sind monozygot (MZ) mit identischem Genom. ZZ sind Geschwister mit theoretisch der Hälfte gemeinsamer Gene, sie können aber auch Halbgeschwister sein, falls sie zwei verschiedene Väter haben (solche Fälle sind nachgewiesen) und dann theoretisch nur ein Viertel gemeinsame Gene besitzen, was phänotypisch nicht unbedingt auffallen muss. Die Diagnose konnte bis in die jüngste Zeit nur durch den qualitativen und quantitativen Vergleich möglichst vieler körperlicher, morphologischer wie physiologischer Merkmale gestellt werden (polysym-ptomatischer Ähnlichkeitsvergleich). Die Sicherheit in der Diagnose der Zygosität hat dabei in der zweiten Hälfte des 20. Jh. immer mehr zugenommen. Seit der Mitte der 1990er-Jahre ist bei Neuuntersuchungen von Zwillingen durch den genetischen Fingerabdruck erstmals eine absolut sichere Diagnose möglich.

Vielen früheren Untersuchungen werden daher teil-weise nicht mehr nachprüfbare Fehler in der Eiig-keitsdiagnose anhaften, was eine Vergleichbarkeit alter Daten mit jüngeren auch deswegen schwierig macht. So zeigen z.B. jüngere Untersuchungen im Bereich der Persönlichkeitsmerkmale bei EZ geringere Konkordanzen als ältere. Auch werden nicht selten als EZ aufgewachsene Zwillinge durch entsprechende Untersuchungen in den Forschungslabors damit über-rascht, dass sie in Wirklichkeit ZZ sind und umge-kehrt. Verschiedene Untersuchungen haben für den erstgenannten Fall eine Fehlerrate von 10 – 15 %, für den zweiten von 1 – 2 % ergeben.

Wenn früher bei Geburten von Zwillingen auch die Nachgeburt zur Diagnose herangezogen wurde, so muss das oft zu Fehlschlüssen geführt haben: Noch heute schätzen erfahrene Geburtshelfer ihre Treffer-quote auf 80 – 90 %, weil alle Zahlenverhältnisse von Chorion und Amnion bei EZ und ZZ vorkommen, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit (Zwil-linge). Daher ist auf diese Weise eigentlich keine Sicherheit in der Diagnose möglich.

Methodische Fehlermöglichkeiten bei der Bewertung des Umweltanteils

Ein Postulat der klassischen Zwillingsforschung war die gleiche Umwelt bei gemeinsam aufwachsenden EZ und ZZ. Mögliche Differenzierungen der Umwelt wurden ausgeschlossen. Nun zeigt sich, dass die Um-welt schon in der Gebärmutter nicht einmal für alle EZ gleich ist. Schwangerschaftskomplikationen, die bei Zwillingsschwangerschaften deutlich häufiger vorkommen, Krankheiten und Unfälle der Mutter können die Paarlinge verschieden treffen. Zwillinge haben allg. bei der Geburt ein geringeres Gewicht und einen gewissen Entwicklungsrückstand gegenüber Einlingen, oft bis zur Kindergarten- oder Schulzeit. Auch nach der Geburt ist die Umwelt für gemeinsam aufwachsende Zwillinge nicht identisch und für getrennt aufwachsende meist nicht grundverschieden. Es wurde nachgewiesen, dass sich die so genannte „Zwillingssituation“, besonders bei ZZ, auf psychische und soziale Eigenschaften auswirkt. So kann z.B. auch das Lernverhalten positiv oder negativ beeinflusst werden. ZZ werden von den Eltern wie sonstige Geschwister bewusst, auch wenn sie gleichgeschlechtlich sind, als zwei verschiedene Personen erzogen, sie nehmen ihre Umwelt auch verschieden wahr. EZ gelten in der Regel als Doppelausgabe einer Person, auch im Kindergarten und in der Schule, zumal sie oft von den Lehrkräften nicht auseinandergehalten werden können. Entsprechend werden sie meist gleich gekleidet, behandelt und erzogen, einer ist stellvertretend für beide. Die meisten Eltern unterstützen die Konformität durch ihren Erziehungsstil stark, so dass sich dies auf die Intrapaarähnlichkeit auswirkt (das gilt auch für ZZ, die Eltern für EZ halten), was einen höheren Erbanteil vortäuschen kann. Auf jeden Fall haben gemeinsam aufwachsende EZ vom Säuglingsalter an den gleichen Entwicklungsstand, machen viel öfter die gleichen Erfahrungen als andere Geschwister und bewerten diese gleich. Das fördert in der Intrapaarbeziehung ein ausgeprägtes Streben nach Gleichheit und Identifikation mit dem Zwillingspartner, die „Unzertrennlichkeit“ wird gefördert, der andere Paarling ist dann der unersetzliche intime Freund, und oft wird das Streben nach Freundschaft von außen gemindert. Viele EZ spielen auch in den verschiedensten Situationen mit ihrer Nichtunterscheidbarkeit. Viele EZ kommen erst in der Pubertät zu einer eigenen Persönlichkeit. Sie finden sich dann ähnlich, aber nicht gleich, sie kommen überein, dass z.B. der eine intelligenter oder kreativer oder praktischer veranlagt ist als der andere, der das mit einer anderen Eigenschaft kompensiert. So entwickelt sich eine Rollenteilung, z.B. gibt es einen „Innen-„ und einen „Außenvertreter“ (der eine regelt das tägliche Geschäft im Zusammenleben, z.B. während des gemeinsamen Studiums, der andere sorgt für die Außenkontakte).

Auch bei ZZ kann die Paarbeziehung sehr eng sein. ZZ grenzen sich aber eher gegeneinander ab, rivalisie-ren eher miteinander, wobei gleich- und verschieden-geschlechtliche sich auch unterschiedlich verhalten können, z.B. das „ältere“ Mädchen eine „Mutterrolle“ annehmen kann..

Beim Vergleich getrennt aufgewachsener EZ, selbst wenn sie schon nach der Geburt getrennt wurden, kann auch nicht einfach davon ausgegangen werden, dass die Umwelt für sie sehr verschieden war. Meist sind die Eltern- bzw. Pflege-/Adoptivelternhäuser und damit die Entwicklungsbedingungen und Bildung-schancen eher ähnlich, weil z.B. bei Adoptionen in der Regel auf ein ähnliches soziales Milieu geachtet wird.

Schlussfolgerungen

Diese Erkenntnisse, die erst in den letzten Jahrzehnten von einigen Forschern deutlich gemacht worden sind, spielen eine große Rolle bei der Bewertung von Un-tersuchungsergebnissen zu Fragen der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung (Intelligenz und Begabungen, Temperament, Charakter, Lernverhalten, Leistungen usw.) So wird es auch weiterhin schwierig und viel-leicht unmöglich sein, hierbei jeweils den genetisch bedingten und den umweltbedingten Anteil herauszu-finden. Es zeigen zwar EZ in diesen Bereichen stati-stisch eine deutlich höhere Konkordanz als ZZ, aber keine absolute, und es können EZ im Einzelfall deut-lich verschiedene Persönlichkeiten sein, sehr ver-schiedene Interessen und Vorlieben haben. Das be-rühmte siamesische Zwillingspaar Eng und Chang (1874 63jährig gestorben) entwickelte sich im er-zwungenen Zusammenleben im Laufe der Zeit zu sehr unterschiedlichen Charakteren, sie prozessierten sogar gegeneinander.

Die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt sich sicher auf einer genetischen Grundlage, aber in einer ständigen Wechselbeziehung des Individuums mit seiner familiären und gesellschaftlichen Umwelt, wobei die eigene außerfamiliäre Umwelt mit zuneh-mendem Alter auch durch Auswahl des Umfeldes selbst gestaltet wird (Freunde, Schule, Berufswahl, Freizeittätigkeiten usw.). Dies hat wiederum Einfluss auf Interessen, Motivation, Leistungen usw.

Hier zeigt sich auch ein Nachteil von Querschnitt-studien von Zwillingen, bei denen sie nur ein oder wenige Male untersucht werden, im Gegensatz zu den viel schwierigeren und selteneren Längsschnittstudi-en über mehrere Lebensphasen bzw. mehrere Jahr-zehnte, da letztere die Bedeutung der Umwelt besser deutlich machen und sich nur so Persönlichkeitsver-änderungen feststellen lassen. Auch in Bezug auf das Entstehen von Krankheiten gewinnen Umwelteinflüsse meist erst in längeren Zeiträumen an Bedeutung.

Letztendlich dürfen statistische Zahlenwerte nicht überinterpretiert werden. Ausgedrückt als Erblich-keits- oder Heritabilitätskoeffizient bedeutet 1.0 völli-ge Konkordanz = Erblichkeit, 0 völlige Diskordanz (in Prozent sind das 100 und 0). Aus einer Statistik kann nie ein Einzelfall abgeleitet werden und erstaunliche, kaum glaubhafte Einzelfälle in Übereinstimmungen von Details bei religiösen, politischen, allg. sozialen Einstellungen, gleichem Beruf, gleicher Vornamenwahl für die Kinder, gleicher Kleidung und gleichem Schmuck an gleichen Fingern bei getrennt aufgewachsenen EZ können nicht verallgemeinert werden.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die Zwillingsforschung immer mehr versachlicht und unter Berücksichtigung der differenzierenden Methoden weiterhin interessante und immer besser objektivierbare Ergebnisse bringen wird.

Literatur: Friedrich, W.: Zwillinge, Berlin 1983. – Friedrich, W. und vel Job, O. K. (Hg): Zwillings-forschung international, Berlin 1986. – Knußmann, R.: Vergleichende Biologie des Menschen – Lehrbuch der Anthropologie und Humangenetik, Stuttgart u.a.1996. – Neale, M. C. and Cardon, L. R. (Hg.): Methodology for genetic studies of twins and families, Dordrecht u.a. 1992.

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  • Die Autoren

Redaktion:
Dipl.-Biol. Elke Brechner (Projektleitung)
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Dr. Daniel Dreesmann

Wissenschaftliche Fachberater:
Professor Dr. Helmut König, Institut für Mikrobiologie und Weinforschung, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Professor Dr. Siegbert Melzer, Institut für Pflanzenwissenschaften, ETH Zürich
Professor Dr. Walter Sudhaus, Institut für Zoologie, Freie Universität Berlin
Professor Dr. Wilfried Wichard, Institut für Biologie und ihre Didaktik, Universität zu Köln

Essayautoren:
Thomas Birus, Kulmbach (Der globale Mensch und seine Ernährung)
Dr. Daniel Dreesmann, Köln (Grün ist die Hoffnung - durch oder für Gentechpflanzen?)
Inke Drossé, Neubiberg (Tierquälerei in der Landwirtschaft)
Professor Manfred Dzieyk, Karlsruhe (Reproduktionsmedizin - Glück bringende Fortschritte oder unzulässige Eingriffe?)
Professor Dr. Gerhard Eisenbeis, Mainz (Lichtverschmutzung und ihre fatalen Folgen für Tiere)
Dr. Oliver Larbolette, Freiburg (Allergien auf dem Vormarsch)
Dr. Theres Lüthi, Zürich (Die Forschung an embryonalen Stammzellen)
Professor Dr. Wilfried Wichard, Köln (Bernsteinforschung)

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