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Kompaktlexikon der Biologie: Gedächtnis

Gedächtnis, die Fähigkeit von Organismen, innerhalb ihrer Individualentwicklung (Ontogenese) Erinnerungen zu bilden und Gelerntes abrufbar zu speichern und sich so die Vergangenheit nutzbar zu machen. Im Tierreich können komplexe G.-Leistungen bei Insekten (Insecta), Krebsen (Crustacea), Spinnen (Araneae), Kopffüßern (Cephalopoda), und Wirbeltieren (Vertebrata) beobachtet werden. Für die Organisation des Verhaltens von Tier und Mensch spielt das G. eine äußerst wichtige Rolle.

Das G. ist kein einheitliches Phänomen. Bei Säugetieren und dem Menschen wird oft ein deklaratives G. (explizites G.) von einem prozeduralen G. (impliziten G.) unterschieden. Die Inhalte des deklarativen G. werden bewusst wahrgenommen und können erklärt werden, wie z.B. die Erinnerung an ein interessantes Erlebnis. Die Inhalte des prozeduralen G. machen sich durch verbessertes Verhalten, ohne bewusstes Erinnern, bemerkbar, z.B. durch langsam wachsende Fertigkeiten während des Übens eines Musikinstrumentes. Das explizite G. bildet sich in mindestens drei aufeinander aufbauenden Phasen aus, die unterschiedliche organische Substrate haben und durch Hirnverletzungen selektiv beeinträchtigt werden können. Das Ultrakurzzeitgedächtnis (auch sensorisches G. genannt), besteht in einem über Sekundenbruchteile andauernden Nachschwingen neuronaler Erregung auf der Ebene der Sinnesorgane nach sensorischer Reizung. Das gerade gesehene Bild bleibt nach plötzlichem Schließen des Auges als so genanntes Icon noch kurz erhalten, bevor es erlischt. Ähnliches kann für das Hören beobachtet werden, das Nachklingen heißt dann Echo.

Die umfangreichen Inhalte des Ultrakurzzeitgedächtnisses müssen in das Kurzzeitgedächtnis (primäres G.) überführt werden, um nicht verloren zu gehen. Das Kurzzeitgedächtnis geht in seiner Dauerhaftigkeit deutlich über die Möglichkeiten der sensorischen Register hinaus, seine Kapazität ist hingegen eher klein. In Versuchen mit Menschen wurde festgestellt, dass im Kurzzeitgedächtnis 7±2 Sinneinheiten behalten werden können, die seriell abrufbar sind. Sinneinheiten sind z.B. Zahlen, Wörter oder Buchtitel. Der Inhalt des Kurzzeitgedächtnisses bleibt bestehen, solange er in einem aktiven Prozess präsent gehalten wird, geht jedoch verloren, wenn die Versuchsperson durch Ablenkung unterbrochen wurde, bevor der Übergang ins Langzeitgedächtnis erfolgte. Das physiologische Substrat für das Kurzzeitgedächtnis sind Muster elektrischer Aktivität von Nervenzellen (Neuron) und Gliazellen im Gehirn, aber es treten auch Veränderungen der Membranstruktur und Ausschüttung von Transmittersubstanzen auf, die mehrere Minuten bis Stunden anhalten. Die Ausschüttung desTransmitters (hier Serotonin) wird über die Adenylat-Cyclase und cAMP (Adenosinphosphate) als second messenger vermittelt, Ergebnis ist ein erhöhter Ca2+-Einstrom in das Endknöpfchen der Synapse und dann die erhöhte Transmitterausschüttung. Die Bedeutung des Kurzzeitgedächtnisses liegt vor allem in seiner Rolle als „Nadelöhr“ zum Langzeitgedächtnis. Im Gehirn der Säugetiere scheint eine Struktur am Innenrand der Großhirnrinde, der Hippocampus, für den Übergang vom Kurzzeitgedächtnis in das explizite Langzeitgedächtnis unverzichtbar zu sein. Seine Zerstörung führt dazu, dass der betroffene Patient neue Informationen nur über einen kurzen Zeitraum behalten kann (anterograde Amnesie). Die Übertragung aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis wird durch Üben im Sinne von Wiederholen erleichtert, was ein Zirkulieren der Information im Kurzzeitgedächtnis bewirkt.

Das Langzeitgedächtnis ist durch seine praktisch unbegrenzte Speicherkapazität, die über die ganze Lebenszeit eines Individuums währt, gekennzeichnet, sowie dadurch, dass sein Inhalt parallel abrufbar ist. Das physiologische Substrat des Langzeitgedächtnisses besteht in dauerhaften elektrophysiologischen, molekularen und morphologischen Veränderung von Nervenzellen, vermutlich vor allem an ihren Synapsen. Für die Überführung einer Information in eine länger anhaltende Form ist die Langzeitpotenzierung (long-term potentiation; LTP) ein grundlegender Prozess. Dies bezeichnet das Phänomen, dass sowohl Amplitude als auch Dauer erregender postsynaptischer Potenziale (EPSP) über Stunden, Tage oder Wochen erhöht sind, wenn die afferenten Axone wiederholt gereizt werden. Ebenso wie beim Kurzzeitgedächtnis kommt es, durch Adenylat-Cyclase und cAMP vermittelt, zu einem erhöhten Ca2+-Einstrom, der allerdings jetzt längere Zeit anhält. Im Unterschied zum Kurzzeitgedächtnis ist jetzt der Transmitter Glutamat (Glutaminsäure) beteiligt, wobei vor allem einer der Glutamat-Rezeptoren, der NMDA-Rezeptor (N-Methyl-D-Aspartatrezeptor) eine wichtige Rolle bei der Konsolidierung von Informationen ins Langzeitgedächtnis spielt. Es scheint einen zweiten, so genannten retrograden Messenger zu geben, dessen Synthese durch die o.a. Prozesse in der postsynaptischen Zelle angeregt wird und der dann über Zwischenschritte in die präsynaptische Zelle diffundiert und dort den oben beschriebenen Prozess aufrecht erhält. Dieser retrograde Messenger wird zur Zeit in Stickstoffmonooxid (NO) vermutet. Noradrenalin spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Langzeitpotenzierung im Hippocampus. Die LTP lässt sich durch Gabe von Noradrenalin verbessern und umgekehrt führt die Gabe von noradrenergen β-Rezeptorenblockern oft zu Gedächtnisausfällen. Die Konsolidierung von Inhalten und das Langzeitgedächtnis sind darüber hinaus mit einer verstärkten Genexpression und Steigerung der Proteinsynthese verbunden, wobei bislang nicht aufgeklärt werden konnte, welche Gene bevorzugt aktiviert werden.

Literatur: Fischer, E.P.: Mannheimer Forum 97/98, Gedächtnis und Erinnerung, München 1998. – Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung, Reinbek 1999. – Squire, L.R., Kandel, E.R.: Gedächtnis. Heidelberg, Berlin 1999.

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