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Lexikon der Neurowissenschaft: Prosopagnosie

Prosopagnosie w, E prosopagnosia, face agnosia, Beeinträchtigung oder Unfähigkeit des Erkennens von Gesichtern, obwohl die Sehfähigkeit intakt und die Wahrnehmung anderer Gegenstände oft nicht betroffen ist. Manche Prosopagnostiker sind überhaupt nicht mehr in der Lage, Gesichter zu erkennen, auch nicht ihr eigenes Gesicht im Spiegel oder auf einem Foto ( siehe Zusatzinfo ). Sie sind aber in der Lage, Menschen z.B. anhand einer charakteristischen Frisur, eines Bartes oder Muttermals zu identifizieren und Gesichtsausdrücke zu deuten. Inwiefern die Prosopagnosie wirklich eine eigenständige optische Agnosie oder aber eine Form der Objektagnosie darstellt, ist noch umstritten. Sie ist kein homogenes Störungsbild, was z.B. Vertrautheit und Vorstellungsvermögen bekannter Gesichter betrifft, denn auch das Erkennen anderer komplexer Objekte wie Tiere, Früchte oder Autos kann beeinträchtigt sein. Deshalb wird sie möglicherweise zu häufig diagnostiziert. Diskutiert wird, ob zwei Formen der Prosopagnosie unterschieden werden sollten: 1) Bei der apperzeptiven Prosopagnosie (apperzeptive Agnosie) wäre die Unterscheidung verschiedener Vertreter einer Klasse beeinträchtigt: bei Gesichtern, aber z.B. auch Automarken oder Kleidungsstücke. 2) Bei der assoziativen Prosopagnosie (assoziative Agnosie) wäre die perzeptive Analyse intakt, aber die Verbindung zum Wissen unterbrochen. Manche Patienten können nämlich bekannte Gesichter zwar nicht erkennen, aber unterschiedliche Ansichten davon einander zuordnen. Auch unbewußte Reaktionen auf verschiedene Gesichter sind ihnen möglich (z.B. Erniedrigung des elektrischen Hautwiderstands). – Ursache ist oft eine bilaterale Verletzung oder ein Tumor im unteren hinteren Schläfenlappen der Großhirnrinde (Brodmann-Areale 18 und 19), meist unterhalb der Fissura calcarina. Ob eine rechtsparietale Läsion für eine Prosopagnosie hinreicht, ist umstritten; möglicherweise sind das die Fälle einer assoziativen Prosopagnosie. Eine Schädigung des Gyrus fusiformis und des Gyrus lingualis führt ebenfalls zu Beeinträchtigungen bei der Gesichtererkennung, die meist nur langsam erfolgt und häufig falsch ist. Solche Patienten haben jedoch nicht das umfassende Defizit einer Prosopagnosie mit bilateraler Schädigung und können ihr eigenes Gesicht noch identifizieren. Nicht nur Läsionen, sondern auch elektrische Reizungen haben gezeigt, daß es im Hinterhauptslappen und Schläfenlappen Areale gibt, die spezifisch für das Erkennen von Gesichtern zuständig sind. Mit Hilfe von Elektroden, die ins Gehirn von Affen eingesetzt wurden, konnten sogar einzelne Nervenzellen aufgespürt werden, die ausschließlich reagieren, wenn Gesichter ins Blickfeld kommen. Manche sind außerdem noch auf bestimmte Perspektiven spezialisiert. Nervenzellen, die spezifisch an der Wahrnehmung von Gesichtern beteiligt sind, befinden sich aber nicht nur in der Großhirnrinde, sondern insbesondere auch in der Amygdala. Diese hat einen wesentlichen Anteil an Emotionen und ist auch für die Interpretation des emotionalen Ausdrucks von Gesichtern notwendig. Begrenzte Schäden in der Amygdala können einen Verlust der Interpretationsfähigkeit von Emotionen zur Folge haben. Insofern ist die Prosopagnosie eine Art Gegenteil des Capgras-Syndrom, bei dem Gesichter zwar erkannt werden, aber keine emotionale Reaktion mehr hervorrufen und deshalb einen "Doppelgänger"-Verdacht auslösen. inferotemporaler Cortex.

R.V.

Lit.: Damasio, A.R., Tranel, D., Damasio, H.: Disorders of visual recognition. In: Frederiks, J.A.M. (Hrsg.): Handbook of clinical neurology, Bd. 2. Amsterdam 1989, S. 317-332. Damasio, A.R., Tranel, D., Damasio, H.: Annual Reviews of Neuroscience 13 (1990), S. 89-109. Sacks, O.: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Rowohlt 1990.

Prosopagnosie

Beispielsweise büßte ein Professor an einer Musikhochschule nicht nur die Fähigkeit ein, Gesichter zu erkennen und verwechselte deshalb seine Frau gelegentlich mit einem Hutständer, sondern vermutete auch Gesichter, wo gar keine waren. Auf der Straße tätschelte er im Vorbeigehen Hydranten und Parkuhren, weil er sie für Kinder hielt; liebenswürdig sprach er geschnitzte Pfosten an und war erstaunt, wenn sie keine Antwort gaben. Andere Patienten wissen zwar, daß sie ein Gesicht sehen, können es aber nicht mehr identifizieren. So kamen einem Unteroffizier, nachdem er 1944 am Kopf verwundet wurde, alle Gesichter gleich vor: als seltsame flache, weiße, ovale Teller mit eindrucksvollen dunklen Augen. Allerdings konnte er sich die Gesichter von Menschen, die er vor seiner Verletzung gesehen hatte, noch vorstellen. Ein anderer Patient beschrieb seine Beeinträchtigung folgendermaßen: "Ich kann die Augen und die Nase und den Mund ganz klar erkennen, aber ich kann daraus kein Bild formen. Sie scheinen alle wie auf einer schwarzen Wandtafel mit Kreide eingezeichnet zu sein." Auch die Unterscheidung von Tierarten oder sogar Individuen derselben Art kann bei Prosopagnostikern beeinträchtigt sein. Beispielsweise hatte eine betroffene Hobby-Ornithologin die Fähigkeit eingebüßt, verschiedene Vogelarten auseinanderzuhalten. Und ein prosopagnostischer Farmer war nicht mehr in der Lage, die Gesichter seiner Kühe zu unterscheiden, obwohl er noch erkennen konnte, daß es sich um Kühe handelte. Ein Wärter in einem naturkundlichen Museum dagegen verwechselte sein eigenes Spiegelbild mit dem Schaubild eines Affen.

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