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Lexikon der Neurowissenschaft: Chorea Huntington

Chorea Huntington w [griech. choreia = Reigentanz], Huntington-Chorea, Huntingtonsche Chorea, Huntington-Syndrom, Huntingtonsche Erkrankung, Morbus Huntington, Erbchorea, erblicher Veitstanz, Erbveitstanz, E Huntington disease, nach dem amerikanischen Nervenarzt G. Huntington (1851-1916) benannte, progressiv verlaufende neurologische Erbkrankheit mit Bewegungsstörungen und Demenz. Das Manifestationsalter liegt zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr mit einem Gipfel um das 45. Lebensjahr; seltene Formen (juvenile Huntington-Erkrankung) treten schon im Jugendalter auf. Die Krankheitsdauer beträgt 12-25 Jahre, die Häufigkeit in Europa 1:10000-1:50000, wobei Männer und Frauen gleich häufig betroffen sind. Der Erbgang ist autosomal dominant bei praktisch vollständiger Penetranz. – Die Krankheit setzt meist mit psychischen Veränderungen, z.B. Reizbarkeit und Unzuverlässigkeit, ein. Es folgen zunehmende affektive Enthemmung, Gewalttätigkeit, Paranoia und Demenz. Die Bewegungsstörungen sind gröber als bei Chorea minor und umfassen z.B. Grimassieren der mimischen Muskulatur, Hyperkinese beim Gehen und okulomotorische Störungen. Die Gehirne von Chorea-Patienten weisen sowohl Atrophien im Cortex- als auch im Basalganglienbereich auf; letztgenannter zeigt große Neuronenverluste (vor allem von mittelgroßen, bedornten Zellen im Corpus striatum), wodurch die intracorticale Informationsübertragung gestört wird. Das Gehirn ist insgesamt kleiner und untergewichtig. – Wahrscheinlich entsteht die Krankheit durch ein Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Neurotransmittersystemen der Basalganglien. Involviert sind die glutamaterge Projektion vom Cortex zu den Basalganglien, die GABAerge Projektion der Basalganglien zur Substantia nigra, die dopaminerge Projektion von der Substantia nigra zu den Basalganglien und cholinerge Nervenzellen in den Basalganglien. Eine anerkannte Hypothese postuliert, daß die GABAergen und cholinergen Neuronen der Basalganglien während des Krankheitsverlaufs absterben und das dopaminerge System weitgehend intakt bleibt. Dadurch nimmt der hemmende Effekt der GABAergen Faserverbindungen auf die dopaminergen Neuronen ab. Somit wäre die Hyperaktivität des dopaminergen Systems für die charakteristischen Bewegungsstörungen verantwortlich, was einer Situation entspräche, die derjenigen bei Patienten mit Parkinson-Krankheit komplementär ist. Zwei weitere Befunde stützen diese "Dopamin-Hypothese": Die posthume biochemische Analyse des Gehirngewebes von Chorea-Patienten zeigt eine signifikante Zunahme des Dopamingehalts (Dopamin) im Vergleich zu Gesunden. Außerdem gehören die bei Chorea Huntington wirksamsten Pharmaka, die Neuroleptika, zu den Dopaminrezeptorblockern (Dopamin-Antagonisten, Dopaminrezeptor). Dopaminagonisten (z.B. Amphetamine) verstärken dagegen die Chorea-Symptome. – Der genaue Zusammenhang zwischen der Hyperaktivität des dopaminergen Systems und den charakteristischen Bewegungsanomalien ist noch unklar. Ebenso ist noch nicht völlig geklärt, wie und warum es zu einem altersabhängigen Absterben der GABAergen und cholinergen Neuronen kommt. Postuliert werden hier eine Überaktivierung der glutamatergen Faserverbindungen vom Cortex zu den Basalganglien und eine damit einhergehende excitotoxische Zerstörung der Basalganglienzellen, mit denen sie Verbindung aufnehmen (Excitotoxizität). Es gibt inzwischen auch Hinweise darauf, daß eine Störung des mitochondrialen Energiestoffwechsels in den oben genannten bedornten Nervenzellen des Striatum an der Entstehung der Chorea Huntington beteiligt ist. – Das krankheitsverursachende, sehr große Gen liegt auf dem kurzen Arm von Chromosom 4 (4p16.3) und codiert für ein Huntingtin genanntes hochmolekulares Protein (350 kD) mit noch ungeklärter Funktion, das auch außerhalb des Nervensystems exprimiert wird. Das Huntingtin-Gen enthält in der codierenden Sequenz einen sogenannten "triplet repeat", einen Abschnitt, der nur aus Wiederholungen des Trinucleotids CAG besteht. In gesunden Personen finden sich 5 bis 34, bei Kranken 38 bis über 150 Wiederholungen, die im Protein zu entsprechend langen Polyglutamin-Sequenzen führen. Je höher die Anzahl der Wiederholungen, desto früher setzt in der Regel die Krankheit ein. Man nimmt an, daß Huntingtin mit der längeren Glutaminsequenz toxisch auf die betroffenen Nervenzellen wirkt, möglicherweise, indem es über die Glutamine (oder die benachbarte Prolin-reiche Sequenz) an ein Neuronen-Subtyp-spezifisches Protein bindet. Der genaue Mechanismus der Pathogenese ist jedoch noch unbekannt. Erbkrankheiten (Tabelle), neurodegenerative Krankheiten.

Lit.: Weigell-Weber, M.: Chorea Huntington. Diagnose, Verlauf und Prognose unter Berücksichtigung moderner molekularer Erkenntnisse. Münster 1995.

Therapieansatz mit embryonalen Stammzellen: In einem kürzlich vorgenommenen Test wurden Striatumzellen von sieben bis neun Wochen alten Föten in das Striatum von fünf Patienten, die erst leichte Symptome der Chorea Huntington zeigten, injiziert. Es zeigte sich, daß nach einiger Zeit der Zustand von drei der fünf Patienten sich nicht verschlechtert oder sogar leicht gebessert hatte. So konnten erhöhte oder zumindest stabile Stoffwechselaktivitäten im Striatum der drei Patienten gemessen werden. Das fötale Nervengewebe hatte also den Krankheitsverlauf zumindest verzögert. – Mögliche pathogene Mechanismen: Die bei Chorea Huntington vorkommende extrem lange Polyglutamin-Sequenz im Huntingtin-Protein, hervorgerufen durch die Trinucleotidexpansion im entsprechenden Gen, bewirkt einen unnatürlichen Übergang des Proteins in eine klebrige Amyloid-Struktur; das Huntingtin bildet Klumpen, ähnlich wie bei der Entstehung der Alzheimer-Plaques, die von der Zelle nicht abgebaut werden können. Man vermutet, daß diese Protein-Knäuel die betroffenen Nervenzellen an ihrem normalen Stoffwechsel hindern und regelrecht ersticken, wodurch es zu den neurodegenerativen Erscheinungen kommt. In verschiedenen Untersuchungen konnten Substanzen gefunden werden, die in vitro eine solche Verklumpung verhindern, darunter einen Antikörper, der wahrscheinlich die Polyglutaminsequenz stabilisiert, sowie die Hitzeschock-Proteine Hsp70 und Hsp40. Letztere können das Huntingtin sogar in eine lösliche Form bringen, wodurch es dann von der Zelle abgebaut werden kann. – Es könnte auch einen indirekten krankheitsauslösenden Weg geben. Der nucleäre Regulationsfaktor CBP wird aus dem Zellkern ausgeschleust, wenn mutiertes Huntingtin vorliegt. Das pathogene Protein scheint CBP zu binden und lahmzulegen. In Nervenzellkulturen wurde gezeigt, daß ein verändertes CBP, das nicht mehr an pathogenes Huntingtin bindet, dazu führt, daß die Nervenzellen gesund bleiben. Diese Beobachtung könnte eine weitere Möglichkeit für Therapieentwicklungen bieten.

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