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Lexikon der Neurowissenschaft: Neurowissenschaft

Essay

Lothar Pickenhain

Neurowissenschaft

Die Neurowissenschaft (E neuroscience) ist eine komplexe Wissenschaftsdisziplin, die alle Untersuchungen über die Struktur und Funktion von Nervensystemen zusammenfaßt und integrativ interpretiert. Der Begriff "neuroscience" wurde von R.W. Gerard erstmalig in den späten fünfziger Jahren des 20. Jh. im heutigen Sinne angewandt. Traditionell getrennt arbeitende Disziplinen, wie Evolutionsbiologie, Entwicklungsbiologie, Neurochemie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Neurophysiologie, Neuroanatomie, Verhaltensforschung, Psychologie, Neuropharmakologie und Neuropathologie, werden in ihren auf das Nervensystem bezogenen Untersuchungen interdisziplinär mit dem Ziel zusammengefaßt, neuronale Funktionen auf allen Komplexitätsebenen zu verstehen (Interdisziplinarität). Die stürmische Entwicklung der Neurowissenschaft in den letzten Jahrzehnten beruht vor allem auf der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen diesen vielfältigen Fachdisziplinen und auf der ganzheitlichen Betrachtung des Zusammenspiels aller Teile des Organismus miteinander sowie seiner aktiven Auseinandersetzung mit seiner Umwelt (Organismus-Umwelt-Beziehungen). Die komplexen Leistungen des Nervensystems werden nur verständlich, wenn die auf der einen Analyseebene gemachten Befunde auf einer anderen interpretiert werden. So lassen sich die zellulären Vorgänge der Erregungsbildung, deren Fortleitung und Modulation auf einer niedrigen Ebene als molekulare Reaktionen und Reaktionsketten erklären; sie erhalten aber ihre Bedeutung als neuronale Information erst auf der Netzwerk- und Nervensystemebene. Die chemischen Signale der Neurotransmitter wirken durch Konformationsänderungen von Rezeptormolekülen auf zelluläre Signalketten und erweisen sich damit als Vermittler zwischen den Bauelementen des Nervensystems. Die von den Sinnesorganen aufgenommenen Reize verändern die Aktivität und die Vernetzung im neuronalen Netzwerk des Gehirns und damit auch das Verhalten des Organismus. Der höchste Kompliziertheitsgrad dieses hierarchisch aufgebauten, selbstorganisierenden Systems wurde beim Menschen in der aktiven Auseinandersetzung mit seiner biotischen und sozialen Umwelt erreicht. Dabei treten in den verschiedenen Kulturkreisen gesellschaftlich bedingte Unterschiede des menschlichen Verhaltens auf.
Ein tieferes Verständnis der Mechanismen der hochkomplexen dynamischen Steuerfunktionen des Zentralnervensystems konnte durch die Einbeziehung disziplinübergreifender Wissenschaftsprinzipien, wie der Kybernetik (N. Wiener), der Selbstorganisation (T.K. Kohonen, E. Jantsch), der Chaos- und Systemtheorie (I. Prigogine, F. Capra), der Autopoiese (H.R. Maturana, F.J. Varela) und der Synergetik (H. Haken), erreicht werden. Die Nutzung dieser allgemein-wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Erforschung neuraler Funktionen war eine entscheidende Voraussetzung für die Wirksamkeit der integrativen wissenschaftlichen Betrachtungsweise der Neurowissenschaft.

Historische Entwicklung

Bis zur Mitte des 20. Jh. hatten die verschiedenen Teildisziplinen der Nerven- und Hirnforschung durch die Entwicklung immer neuer spezialisierter Methoden (Mikroskopie, Zellkultur, Neurochemie, Elektrophysiologie, Röntgenologie, Verhaltensforschung) zunehmend neue wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse gewonnen. Da die disziplinübergreifenden Untersuchungen über die Funktionen des Nervensystems und des Gehirns sich in vielen Ländern immer stürmischer entwickelten, führte dies zu einer zunehmenden internationalen Kooperation. 1947 wurde in London die International Federation of EEG und Clinical Neurophysiology gegründet. Bei einer von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR 1958 in Moskau organisierten Tagung dieser Organisation, an der 49 Delegierte aus 17 Ländern teilnahmen, wurde beschlossen, eine Internationale Hirnforschungsorganisation zu schaffen. Mehr als 250 Wissenschaftler aus 30 Ländern beteiligten sich 1960 in Paris an der Gründung der unabhängigen, nicht-staatlichen International Brain Research Organization (IBRO). Die Gründung wurde im Jahre 1961 auf Veranlassung von W. Penfield und H. Jasper in Kanada juristisch ratifiziert. Zielstellung der IBRO war die interdisziplinäre und internationale Zusammenarbeit auf allen Gebieten der Hirnforschung und die weltweite Verbreitung aller Erkenntnisse über die Funktionen und die Arbeitsweise des Gehirns. Zur Lösung dieser Aufgaben wurden internationale Forschungsprogramme und ein Wissenschaftleraustausch mit Stipendien für Nachwuchswissenschaftler organisiert, und es wurden gemeinsame Symposien und Arbeitstagungen durchgeführt. Mitte der 1980er Jahre erfolgte in enger Zusammenarbeit mit der UNESCO eine Reorganisation, bei der die Mitglieder zahlreicher neu gegründeter, nationaler Hirnforschungsgesellschaften von der IBRO affiliiert wurden, z.B. die 1969 in den USA gegründete Society for Neuroscience und die 1977 gegründete European Neuroscience Association (ENA). Gegenwärtig vertritt die IBRO als Weltföderation die Interessen von über 50000 Mitgliedern in 111 Ländern der Erde.
In den Anfangsjahren wurden die IBRO-Mitglieder nach ihrem Arbeitsgebiet in 7 Panels aufgeteilt: Neuroanatomie, Neurochemie, Neuroendokrinologie, Neuropharmakologie, Neurophysiologie, Verhaltenswissenschaft, Neurokommunikation und Biophysik sowie Hirnpathologie. Folgerichtig sprach man von den Neurowissenschaften (neurosciences). Mitte der 1970 Jahre wurde im Vorstand der IBRO (IBRO Council) die Notwendigkeit erörtert, dieses gesamte Wissenschaftsgebiet als Einheit zu behandeln und als Neuroscience zu bezeichnen. Dies führte dazu, daß die von der IBRO initiierte, ab 1976 bei Pergamon Press in Oxford erscheinende Zeitschrift den Namen "Neuroscience" erhielt und im Weltmaßstab die Schaffung von Neuroscience-Einrichtungen bei den Akademien und Spezialinstituten sowie von Neuroscience-Lehrstühlen an den Universitäten angestrebt wurde. Damit wurde die große perspektivische Bedeutung dieses integrativen Wissenschaftsgebiets als selbständige Forschungs- und Ausbildungsrichtung unterstrichen.
Die zunehmende Bedeutung der Neurowissenschaft als Grundlagenforschung und als Basis für die Diagnostik und Behandlung bei Hirnschäden und Erkrankungen des Nervensystems veranlaßte den Senat der USA, das letzte Jahrzehnt des 20. Jh. (1990-1999) zur "Decade of the Brain" zu erklären. Diese Deklaration, der sich mehrere Länder anschlossen, führte zu einer ständigen Erweiterung und Vertiefung der Forschungen sowie ihrer privaten und staatlichen Förderung und zur Entwicklung kostspieliger neuer Forschungsmethoden, die auch am Menschen angewandt werden können. Die unter großer internationaler Beteiligung durchgeführten Weltkongresse der IBRO machten dies vor aller Augen deutlich: 1982 Lausanne, 1987 Budapest, 1991 Montréal, 1995 Tokio und 1999 Jerusalem.

Aktueller Stand und zukünftige Tendenzen einiger ausgewählter Themenkomplexe

Aufnahme und Verarbeitung von Informationen
Durch die Entwicklung immer subtilerer, integrativer Untersuchungsmethoden konnten in den letzten 50 Jahren die Struktur und die Funktionen des Nervensystems zunehmend exakter untersucht und besser verstanden werden. So hatte man zwar schon seit langem eine Impulsübertragung innerhalb des vernetzten Nervensystems angenommen, doch deren Ablauf konnte erst nach der Erfindung des Elektronenmikroskops geklärt werden. Die vorher schon vereinzelt beschriebenen Synapsen wurden jetzt im Detail morphologisch und biochemisch untersucht, und die biochemische Informationsübertragung über die vielfältigen Synapsen konnte nun sowohl im peripheren als auch im Zentralnervensystem als gesichert betrachtet werden. Damit war klar, daß das bisher schon als Neuronengeflecht betrachtete Zentralnervensystem aus einer Unzahl von durch zahlreiche Synapsen miteinander funktionell verbundenen Einzelneuronen besteht. Ihre Anzahl beträgt im ausgewachsenen Gehirn etwa 100 Milliarden, wobei jedes Neuron bis zu 30000 Synapsen besitzen kann. Die biochemischen Untersuchungen ergaben, daß es nicht nur erregende, sondern auch hemmende Transmitter (Überträgersubstanzen) gibt, und daß die über die zahlreichen Dendriten im Nervenzellkörper (Perikaryon) eingehenden Impulse in diesem verrechnet und bei Bedarf über das Axon auf andere Zellen des neuronalen Netzwerks oder auf periphere Zellen übertragen werden. Bei der Herstellung und Stabilisierung der Verknüpfungen zwischen einzelnen Nervenzellen oder Neuronengruppen innerhalb des neuronalen Netzwerks spielt die Synchronisation der Entladungsfrequenz der beteiligten Zellen eine nicht unwichtige Rolle (W. Singer).
Die bereits aufgrund umschriebener Hirnschädigungen vermutete funktionelle Spezialisierung bestimmter Hirnregionen konnte nunmehr durch lokale elektrische Reizung oder die lokale Ableitung bioelektrischer afferenter Impulse überzeugend bestätigt und differenziert werden. So wurden, kombiniert mit neuromorphologischen Untersuchungen im visuellen Cortex, bis zu 30 Kolumnengruppen (Säule) gefunden, in denen unterschiedliche Merkmale der visuellen Afferenzen (Kontur, Bewegung, Farbe, räumliche Tiefe u.a.) gespeichert und verarbeitet werden. Dies geschieht unter normalen Bedingungen als gekoppelte integrative Verarbeitung, die die Geschlossenheit des gesehenen Objekts bzw. Vorgangs wahrt, wobei in den meisten Fällen zugleich über multisensorische Verbindungen eine Aktivierung anderer sensorischer Rindenregionen erfolgt.

Funktionelle Bildgebung
Revolutionierende neue Erkenntnisse über die funktionelle Aktivierung unterschiedlicher Hirnregionen konnten in den letzten 15 Jahren durch die Einführung neuer computergesteuerter, nichtinvasiver Verfahren am wachen Menschen gewonnen werden (Bildgebung in der Neurowissenschaft). Bei der Positronenemissionstomographie (PET) wird die Dichte Positronen emittierender Atome durch Computerverarbeitung am tätigen Gehirn nachgewiesen. So kann z.B. die Stoffwechselaktivität verschiedener Hirnregionen durch die Gabe geringer Mengen radioaktiv markierter Glucose gemessen werden. Eine wesentlich höhere Auflösung erreicht man mit dem Verfahren der funktionellen Kernspinresonanztomographie (fMRT). So kann die regionale Vermehrung der Hirndurchblutung mit einer räumlichen Auflösung von 1 mm2 dargestellt werden. Dies trifft nicht nur auf die Hirnoberfläche, sondern auch auf tiefere Hirnregionen zu. Auf diese Weise lassen sich die komplex verschalteten Aktivierungen verschiedener Areale oder Punkte des Gehirns sehr exakt verfolgen. Dabei zeigt sich der diffuse, von der Situation abhängige, variable Charakter der Verschaltungen im Netzwerk des Gehirns, die den funktionellen Systemen zugrundeliegen. Zugleich ergab sich dadurch die Möglichkeit, die Plastizität der Hirnfunktionen im Laufe der Entwicklung des Individuums oder während der Rehabilitation nach einer Hirnschädigung zu verfolgen.

Computermodelle
Diese Form der Informationsverarbeitung im Gehirn legte den Gedanken nahe, sie durch Computerprogramme nachzuahmen und vielleicht eines Tages zu ersetzen. Dabei geht man von dem Gedanken aus, daß der Computer zwar aus Transistoren und nicht aus Nervenzellen besteht, die Art der Informationsverarbeitung aber nicht an die Substanz, sondern ausschließlich an die logischen Beziehungen der beteiligten Bauelemente gebunden ist. Dies trifft jedoch nicht zu. Zwar liegt vor uns die Perspektive, daß wir künftig in der Lage sein werden, immer kompliziertere Teilfunktionen der Informationsaufnahme und -verarbeitung des menschlichen Organismus am Modell nachzuvollziehen und in die Gesamtfunktion des Individuums einzubauen, wie es z.B. heute bereits beim Cochlea-Implantat der Fall ist. Doch wird es niemals möglich sein, das Gesamtindividuum Mensch in all seinen vielfältigen Umweltbeziehungen nachzubilden und zu ersetzen. Der maschinelle Roboter wird immer nur ein – wenn auch noch so kompliziertes – Werkzeug sein, das der Mensch zur Realisierung seiner Ziele einsetzt.

Beziehungen zwischen Gehirn und Organismus
Zwischen Gehirn und Körper bestehen ständige wechselseitige biochemische und neuronale Verbindungen; sie sichern Entwicklung und Existenz des Individuums in der aktiven Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Der erste, phylogenetisch ältere, Verbindungsweg verläuft über den Blutkreislauf und die interzellulären Räume. Dabei entfaltet das Gehirn seine Wirkung durch die Herstellung oder durch die Befehle zur Herstellung chemischer Stoffe, die in den Blutkreislauf oder in interzelluläre Räume abgegeben werden, wie Hormone, Neurotransmitter und Neuromodulatoren. Der zweite Verbindungsweg läuft über die efferenten und afferenten Nerven des peripheren Nervensystems. Sie senden vom Gehirn kommende Signale in jeden Körperbereich und aus jedem Körperbereich Signale zurück in das Gehirn, wo diese höhere Systemfunktionen auslösen und unterhalten. Die Funktionen des vegetativen Nervensystems werden von den evolutionär älteren Hirnregionen (der Amygdala, dem Gyrus cinguli, dem Hypothalamus und dem Hirnstamm) gesteuert, während die Signale für das willkürlich zu betätigende Muskel- und Skelettsystem in einigen motorischen Rindenfeldern und subcorticalen motorischen Kernen von unterschiedlichem evolutionärem Alter produziert werden. Dadurch bilden Körper und Gehirn eine unauflösliche Einheit, die als Ganzes aktiv mit der Umwelt in Beziehung tritt. An dieser aktiven Umweltbeziehung, die man im allgemeinen als Verhalten bezeichnet, sind auch immer emotionale Faktoren und Gefühle beteiligt (Emotionen), und es werden subjektive Vorstellungsbilder (z.B. visueller, auditorischer und somatosensorischer Art) erzeugt, welche die Grundlage der geistigen Funktionen bilden.

Mentale Repräsentation
Es ist als gesichert anzusehen, daß die neuronalen Repräsentationen beim Menschen die biotische Grundlage seiner subjektiven psychischen Erscheinungen sind. Sie werden deshalb als mentale Repräsentationen bezeichnet. Dies bedeutet nicht, daß sich die subjektiven psychischen Phänomene auf diese hochkomplizierten funktionellen biotischen Verschaltungen reduzieren lassen. Vielmehr stellen sie das funktionelle Informationspotential dar, das die Entstehung bewußter Vorstellungen sowie im Prozeß des Denkens die Vorhersage künftiger Ereignisse ermöglicht und in diesem Zusammenhang die Entscheidung über künftige Handlungsvarianten treffen kann. In diese zentralen Erprobungs- und Entscheidungsprozesse sind Vorgänge der externen (außerhalb des Körpers erfolgenden) Informationsspeicherung, der Sprache und des abstrakten Denkens eingeschlossen, welche die speziellen Möglichkeiten der sozialen Kommunikation im kulturellen Zusammenleben des Menschen erschließen. Daraus ergibt sich die Konsequenz, das Leib-Seele-Problem im monistischen Sinne (Monismus) zu beantworten ( siehe Zusatzinfo ). Von den führenden Hirnforschern hat lediglich J.C. Eccles bis zu seinem Tode im Jahre 1997 noch eine dualistische Auffassung des Leib-Seele-Problems vertreten (Dualismus). Allerdings wird die Aufklärung der sogenannten Neuromatrix, die den subjektiven Bewußtseinsvorgängen zugrundeliegt und deren Funktion in der sozialen Kommunikation realisiert wird, noch längere Zeit in Anspruch nehmen.

Die Ausbildung der "inneren Welt" als Grundlage des Verhaltens
Die aus dem Inneren des Organismus und aus der Umwelt einströmenden Informationen werden im Gehirn aufgenommen und zusammen mit den im Gedächtnis gespeicherten Informationen verarbeitet. Sie bilden die Grundlage der mentalen Repräsentation (s.o.). Es existiert keine "Widerspiegelung", d.h. Punkt-zu-Punkt-Projektion, der Umwelt im Gehirn des Menschen. Vielmehr schafft sich jeder Mensch im Laufe seiner Entwicklung eine Vorstellung von sich und von seiner Umwelt und ist – in Abstimmung mit den anderen Menschen – aktiv handelndes Geschöpf in dieser Welt. Voraussetzung hierfür sind die Multimodalität der eintreffenden Informationen, die Einheit von Wahrnehmen und Bewegen (Bewegung), das Ich-Bewußtsein und Selbstwertgefühl sowie die probabilistisch gesteuerte Handlungsplanung und variable Handlungsausführung entsprechend seinen Vorstellungen und Zielstellungen. Das hierarchische System und die zahlreichen Subsysteme der mentalen Repräsentation entstehen und erhalten sich im Laufe der individuellen Entwicklung als selbstorganisierende Systeme, die ständig trainiert werden (z.B. auch im Traum) und durch zahlreiche variable Querverbindungen dynamisch abgesichert sind.

Die ontogenetische Entwicklung des Menschen
Durch den Einsatz der Ultraschalltechnik wurde es möglich, die Frühentwicklung des Menschen bereits in der Gebärmutter ohne Schädigung der Mutter kontinuierlich zu verfolgen. Der menschliche Embryo ist vom ersten Augenblick seiner Existenz aufgrund seiner genetischen Anlage darauf orientiert, daß er später in einer sozial geprägten Umwelt aktiv tätig sein kann. Schon von der 7. Schwangerschaftswoche an beginnen die ersten elementaren Bewegungen des reifenden Embryos spontan aufzutreten und durch wiederholte Ausführung eine immer kompliziertere und besser aufeinander abgestimmte Form anzunehmen. Die spontan gebildeten Nervenverbindungen lassen sich dann durch Reizung als Reflexe aktivieren. Dies wurde bei frühen Fehlgeburten beobachtet und führte zu der falschen Schlußfolgerung, der Mensch sei ein Reflexwesen. Der genetisch gesteuerte Reifungsprozeß des Nervensystems ist ein weitgehend zufallsbedingter Vorgang: Von den nach dem genetischen Programm gebildeten etwa 200 Milliarden Neuroblasten geht etwa die Hälfte zugrunde, weil sie keine Zielzelle finden und ihre Funktion nicht aufnehmen können. Dies ist ein Ausdruck der hochgradigen Plastizität des Gehirns bei seiner Entwicklung. Nach der Geburt verlagert sich dieses Phänomen der Plastizität auf das Aussprossen der Nervenzellfortsätze und die Bildung und Funktion der Synapsen. Im Kindesalter fallen auf diese Weise grundsätzliche Entscheidungen über die Bildung und Stabilisierung neuer Funktionskreise als selbstorganisierende Systeme. Situationsangepaßte Veränderungen in den neuronalen Verschaltungen auf den höheren Integrationsebenen sind Grundlage für Lernvorgänge, die im Gedächtnis gespeichert werden. Anhaltende Veränderungen einzelner Komponenten, die im höheren Alter oder durch schädliche Einwirkungen auftreten, können die Vernetzung wesentlich beeinflussen. Sie aufzusuchen und, wenn möglich, rückgängig zu machen, ist eine wesentliche therapeutische Aufgabe.

Bedeutung der Neurowissenschaft für die klinische Medizin und die Lebensgestaltung
Die Fortschritte auf dem Gebiet der Neurowissenschaft sind von großer Bedeutung für die klinische Medizin (Neurologie, Neurochirurgie, Psychiatrie, Psychotherapie). Doch darüber hinaus führen sie auch zu einem besseren Verständnis des menschlichen Verhaltens in allen individuellen und gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen. Auch für eine auf die unterschiedlichen Kulturkreise abgestimmte Gestaltung der Pädagogik sind die Erkenntnisse der Neurowissenschaft wichtig. Die weitere Intensivierung der neurowissenschaftlichen Forschung und die Umsetzung ihrer gesicherten Ergebnisse in die Praxis ist deshalb für die Weiterentwicklung der Menschheit von großer Bedeutung. Geschichte der Hirnforschung (Band 4).

Lit.: Adelman, G.: Encyclopedia of Neuroscience. Amsterdam 1998. Arbib, M.A.: The Handbook of Brain Theory and Neural Networks. Cambridge 1995. Crick, F.: Was die Seele wirklich ist. Hamburg 1997. Damasio, A.R.: Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München 1997. Dudel, J., Menzel, R., Schmidt, R.F.: Neurowissenschaft. Vom Molekül zur Kognition. Berlin 1996. Gazzaniga, M.S.: The Cognitive Neurosciences. Cambridge 1995. Gregory, R.L.: The Oxford Companion to the Mind. Oxford 1998. Kandel, E.R., Schwartz, J.H., Jessell, T.M.: Principles of Neural Science. New York 1991. Roth, G., Prinz, W.: Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg 1996. Spitzer, M.: Die Macht innerer Bilder. Vorstellung zwischen Wahrnehmung und Vision. Heidelberg 2000. Wilson, R.A., Keil, F.C.: The MIT Encyclopedia of the Cognitive Sciences. Cambridge 1999. Zigmond, M.J., Bloom, F.E., Landis, S.C., Roberts, J.L., Squire, L.R.: Fundamental Neuroscience. London 1999.

Neurowissenschaft

Ein zusätzliches dramatisches Argument für die monistische Auffassung des Leib-Seele-Problems führt R.W. Doty an: Wenn zur Behandlung einer schweren Epilepsie die beiden Großhirnhemisphären durch Durchtrennung des Balkens voneinander isoliert werden, so verfügt die betroffene Person über zwei getrennt voneinander existierende und isoliert funktionierende "Bewußtseinszustände". Die anatomisch und funktionell voneinander getrennten mentalen Repräsentationsgebiete können somit ebenso isolierte Bewußtseinszustände repräsentieren.

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