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Lexikon der Neurowissenschaft: Objekterkennung

Objekterkennung w, E object recognition, im visuellen System eine Leistung der Assoziationsfelder im unteren Schläfenlappen (Area IT). Hier finden sich in der hierarchisch zunehmenden Komplexität der Verarbeitung z.B. Zellen, die eine hohe Objektspezifität für spezielle Formen, beispielsweise Hände oder Gesichter aufweisen. Die neurologischen Krankheitsbilder der Agnosien untermauern diese Vorstellungen: Formagnosie oder Prosopagnosie treten bei spezifischen Schädigungen im unteren Schläfenlappen auf. Die Patienten sehen durchaus Dinge in ihrer räumlichen Lokalisation, können die Objekte aber visuell nicht als Tisch, Schraubenzieher, Blume oder Gesicht erkennen, während die taktile oder auditorische Objekterkennung meist noch erhalten ist. Objektagnosie.

Die Erkennung von Objekten hängt von vielen Aspekten wie Form, Farbe, Konturen, Schatten, Bewegungen usw. (mit z.T. dafür spezialisierten Hirnregionen und sogar einzelnen Nervenzellen) sowie von bereits bekannten Kategorien und Kontexten ( siehe Zusatzinfo 1 ) ab. Maßgeblich für die Wahrnehmung und Reidentifikation visueller Stimuli ist ein ungefähr 20 cm² großer Teil der Großhirnrinde, der ventrale Schläfenlappen ( siehe Zusatzinfo 2 ). Studien mit Hilfe der Positronenemissionstomographie und der funktionellen Kernspinresonanztomographie (fMRI) haben gezeigt, daß diese Hirnregion überraschend spezialisiert organisiert ist, d.h. auf die Stimuli von verschiedenen Objekten unterschiedlich reagiert. Z.B. aktivieren Schuhe, Stühle und Plastikflaschen unterschiedliche Bereiche im ventralen Schläfenlappen, ebenso Bilder von normalen Gesichtern und Karikaturen; Landschaften oder Gebäude korrelieren mit wiederum anderen Hirnaktivitäten einige cm entfernt. Doch die Vielfalt der erkenn- und differenzierbaren Objekte macht es extrem unwahrscheinlich, daß jedes Objekt an einem anderen Ort im Gehirn repräsentiert wird – es gibt wohl keine Großmutterzellen. Vielmehr sind es die verschiedenen Aktivitätsmuster als Ganzes und nicht nur die Orte höchster neuronaler Erregung, die die Wahrnehmung eines bestimmten Objekts ermöglichen. Neue Analysetechniken der Daten erlauben es inzwischen, aus der quantitativen dreidimensionalen Gesamtverteilung der Hirnaktivitäten im Schläfenlappen zu entnehmen, ob jemand ein Gesicht oder einen Stuhl sieht, selbst wenn die Aktivitätsmaxima, auf die bislang hauptsächlich geachtet wurde, ausgeblendet werden. Das ist eine gute Bestätigung für die Annahme, daß verteilte Repräsentationen eine wesentliche Grundlage für die Mustererkennung sind. Zwar variieren die einzelnen Aktivitätsmuster von Person zu Person, aber z.B. die Hirnregion höchster Aktivität bei der Gesichtererkennung (Gesichts-Areal) liegt im Schläfenlappen fast immer etwas mehr an der Seite als die Regionen, die beim Blick auf Landschaften maximal aktiv sind. Dies könnte damit zusammenhängen, daß Menschen Gesichter fast immer im Zentrum ihres Blickfelds haben, während Landschaften auch in dessen Außenbezirken erscheinen. Dafür spricht, daß im Experiment dieselben Objekte Teile des Schläfenlappens nahe der Gesichter-Areale aktivieren, wenn sie zentral projiziert werden, und eher Ort-Areale aktivieren, wenn sie peripher projiziert werden. Die Repräsentation verschiedener visueller Merkmale scheint also mindestens teilweise davon abzuhängen, an welchen Stellen des Blickfelds sie typischerweise wahrgenommen werden. Auch die Art und Weise, wie bzw. mit welcher Aufmerksamkeit man visuelle Stimuli beachtet, wirkt sich aus. So werden Gesichter wohl deshalb bei sozialen Primaten besonders genau differenziert, weil sie für das Zusammenleben von großer Bedeutung sind. Dafür mag es angeborene, d.h. evolutionär selektierte Präferenzen geben (menschliche Neugeborene schauen bevorzugt auf Bilder von Gesichtern im Vergleich zu Fotos von anderen Objekten); aber individuelle Erfahrung, d.h. Lernen, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle (Kleinkinder mit einem Katarakt [Blindheit] in den ersten Lebensmonaten haben subtile Schwierigkeiten bei der Unterscheidung ähnlicher Gesichter). Die Gesichts-Areale im Gehirn, deren Ausfall zu einer spezifischen Agnosie führt, die hauptsächlich das Erkennen von Gesichtern, nicht aber anderen Objekten beeinträchtigt (Prosopagnosie), sind wahrscheinlich auf besonders feinkörnige Unterscheidungen spezialisiert. Dafür spricht, daß Menschen mit jahrelanger Erfahrung für bestimmte Objekte eine erhöhte Aktivität in ihren Gesichts-Arealen haben, wenn sie diese Objekte betrachten. So leuchten bei passionierten Vogelbeobachtern die Gesichts-Areale bei fMRI-Messungen viel stärker auf, wenn sie Vögel sehen als wenn sie Autos betrachten; bei Auto-Enthusiasten ist es gerade umgekehrt. Selbst beim Erlernen subtiler Unterschiede zwischen bislang nicht bekannten, künstlichen Objekten in kontrollierten Experimentalstudien wächst die Aktivität in den Gesichts-Arealen, je besser die Testpersonen zwischen den Objekten differenzieren können.

R.V.

Objekterkennung

1 Kategorisierung und Kontext beim Objekterkennen:
Menschen mit temporalen Läsionen weisen in der Regel keine großen Gesichtsfeldausfälle auf, entwickeln aber dennoch Störungen der visuellen Wahrnehmung. So kann eine Schädigung des rechten Schläfenlappens die Interpretation von Bildern beeinträchtigen. Sehen Patienten z.B. eine Zeichnung von einem Affen, an dessen Käfigwand ein Ölgemälde hängt, können sie die Einzelheiten des Bildes genau beschreiben oder nachzeichnen, bemerken aber die Seltsamkeit dieser Darstellung nicht. Auch bei Tests zur Unterscheidung komplexer Muster schneiden sie schlecht ab, und ihre visuelle Vorstellungskraft ist eingeschränkt. Läsionen im linken Schläfenlappen können nicht nur das kategoriespezifische Wissen beeinträchtigen, sondern auch die Organisation sensorischer Informationen, selbst die Kategorisierung einfacher Bilder oder geläufiger Objekte. Manche Patienten haben Sprachstörungen (Dysphasien), bei denen sie übergeordnete Kategorien erkennen, untergeordnete aber nicht (z.B. können sie eine Ente den Tieren, nicht aber den Vögeln zuordnen). Auch an der Verarbeitung von Kontextinformationen ist der Schläfenlappen beteiligt. So hängt das Wiedererkennen von Gesichtern (Gesichtererkennung) unter anderem vom Zusammenhang ab: Einen nicht näher bekannten Angestellten eines Ladens in der Nachbarschaft wird man, wenn man ihn z.B. zufällig auf Reisen in einem anderen Land trifft, nicht gleich richtig "einordnen" können. Patienten mit Schläfenlappen-Läsionen haben Schwierigkeiten, einer ohne Gesicht gezeichneten Person den situationsabhängig richtigen Gesichtsausdruck zuzuordnen, wenn die einzigen Hinweise aus dem Kontext stammen, z.B. einer Party oder Beerdigung.

Objekterkennung

2 Objekterkennung im Gehirn:
Um die Einflüsse von neuronalen Verarbeitungen vor und nach der eigentlichen Objekterkennung auszuschließen (z.B. Segmentation, Gruppierung oder Teilanalyse bzw. Konsolidierung, Feedbacks oder Aktivierung der Assoziation von Informationen aus dem semantischen Gedächntnis), wurden in einer fMRI-Studie Objekte nur sehr kurz (26 ms) präsentiert und mit anderen visuellen Stimuli maskiert. Die Versuchspersonen sollten nicht nur sagen, was sie sahen, sondern auch, wie sicher sie in ihrem Urteil waren. Dadurch kann man genauer eingrenzen, welche Hirnregionen bei der Objektwahrnehmung zwar beteiligt sind, aber gleichsam dem spezifischen Objekt "agnostisch" gegenüberstehen, und welche Regionen mit dem bewußten Erkennen des Objekts korrelieren. Diese neuronalen Korrelate des Bewußtseins visuell erkannter Objekte befinden sich im ventralen Schläfenlappen (im Sulcus occipitotemporalis) und im anterioren Gyrus fusiformis. Bei mehrfacher Präsentation desselben Stimulus stieg die Wahrscheinlichkeit seiner korrekten Wahrnehmung (Priming). Nachgeschaltete semantische Analysen und visuelle Gedächtniskonsolidierung erfolgten im Gyrus parahippocampalis und im präfrontalen Cortex.

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