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News: Leben ohne Fernseher - unmöglich?

Es wird viel und gerne übers Fernsehen geschimpft: die schlechte Qualität der Programme, zu viele Wiederholungen, zu viel Gewalt. Und dennoch will kaum einer auf sein TV-Gerät verzichten. Nur eine Minderheit von etwa 1,5 Millionen Deutscher führt aus unterschiedlichsten Gründen ein Leben ohne Fernsehen, während der Rest immer mehr Zeit vor der Flimmerkiste verbringt.
Über drei Stunden schaut der Deutsche durchschnittlich jeden Tag fern, so die neusten Zahlen von Media Control. Das sind hochgerechnet zehn Jahre unseres Lebens, die wir vor dem Apparat verbringen, anstatt mit Freunden, Familie, einem Hobby oder einem guten Buch. Das Angebot der 35 Sender scheint zu verführerisch zu sein, um abzuschalten. Die Angst, etwas zu verpassen, lässt einen nebenbei fernsehen und mehr zappen.

All das gilt nicht für eine geschätzte Zahl von 1,5 Millionen Deutsche, welche die Subkultur der "Nichtfernseher" bilden. Während in 98 Prozent der Haushalte mindestens ein Gerät steht, haben sie den Fernseher aus ihren vier Wänden verbannt, womit sie stark von der Norm abweichen. Dass sie gute Gründe hierfür haben, ermittelte der Kommunikationswissenschaftler Peter Sicking in einer Studie. Er unterteilt die Nichtseher in drei Kategorien: Die ideologisch geleiteten Fernsehverweigerer, die Aktiven, die chronisch an Zeitmangel leiden, und die ehemals suchtgefährdeten Fernsehabstinenzler.

Die zu einer Kategorie gehörigen Personen gleichen sich nach Sickings Meinung nicht nur in ihren Motiven zum Fernsehverzicht, sondern auch in ihrer gesamten Lebenseinstellung. Die erste Gruppe, die Fernsehverweigerer, lehnen die Pseudowirklichkeit des Mediums entschieden ab: "Das ist nicht das Leben, ist nicht die Wirklichkeit – es ist ein Leben aus zweiter Hand". Als wichtige Motive nennen sie musisch-kreative Aktivitäten sowie die Weiterentwicklung des Bewusstseins. Viele dieser "bewusst-reflektierten Nichtseher" leben sehr umwelt- und gesundheitsbewusst. Der Verzicht auf das Medium Fernsehen ist ein Teil ihrer Lebensführung, die "alternativ" zum Mainstream angelegt ist.

Bei der zweiten Gruppe, den aktiven Nichtsehern, stellte sich die fernsehfreie Lebensweise vielmehr unreflektiert und fast automatisch aus Zeitmangel ein. Sie pflegen verschiedene Hobbys und gehen zahlreichen beruflichen und privaten Verpflichtungen nach. Fernsehen empfinden sie dabei als Zeitverschwendung. "Das saugt mir Lebenszeit weg", ist eine typische Äußerung. Ganz anders dagegen ist der Grund der suchtgefährdeten Nichtseher, auf das Fernsehen zu verzichten. Sie waren in der Vergangenheit exzessive Vielseher, bis sie sich ihrer Abhängigkeit bewusst wurden und nun durch die Verbannung des Fernsehers ihr Leben wieder ordnen wollen. "Es ist das Gefühl, immer weniger selbst zu leben, sich immer mehr mit dem zu beschäftigen, was ursächlich nichts mit mir zu tun hat", fasst ein Betroffener zusammen. Die wachsende Unzufriedenheit lässt die angehenden Fernsehabstinenzler schließlich einen Schlussstrich ziehen und ihrer künstlichen Ersatzwelt entfliehen.

Für Sicking ist die Existenz einer großen Gruppe von Suchtgefährdeten das überraschendste Ergebnis seiner Studie. Er ging ursprünglich nur von "ideologischen" und "aktiven" Fernsehverweigerern aus. Dass viele Menschen ein Problem mit dem Fernsehkonsum haben, erfuhr er auch als Gast einer Sendung, bei der Zuschauer direkt anrufen konnten. "Einer schaute beispielsweise von neun Uhr früh bis zwei Uhr nachts fern und fragte dann noch : 'Bin ich fernsehsüchtig?' Das zeigt, dass Vielsehen in unserer Gesellschaft einfach nicht problematisiert wird".

Fernsehen ist solch ein Bestandteil unseres Lebens, dass die Anzahl der Stunden, die wir vor dem Apparat verbringen, gar nicht hinterfragt werden. Um so exotischer erscheinen uns da Menschen, die ohne Fernseher leben. Und typischerweise stellen wir uns die beunruhigende Frage, was sie eigentlich machen, wenn wir unserer Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Nichtfernseher pflegen künstlerische Hobbys, treiben Sport, besuchen Fortbildungen und Seminare, treffen sich mit Freunden und lesen leidenschaftlich gerne Bücher. Trotzdem traut ihnen die Masse der Gewohnheitsglotzer nicht zu, ein ausgefülltes Leben zu führen. Sie begegnen ihnen mit einer Mischung aus Erstaunen, Skepsis und Ablehnung: "Du brauchst einen Fernseher, das geht nicht anders", bekam eine Nichtseherin zu hören. "Ach, deswegen bist Du manchmal so komisch", musste sich eine andere sagen lassen.

Sie selbst wissen ihre fernsehfreie Lebensweise allerdings zu schätzen. Die aktiven Nichtseher betrachten den Zeitgewinn als größten Vorteil, während die bewusst-reflektierten Nichtfernseher sich über eine intensivere Lebenserfahrung, Zufriedenheit und größere innere Ruhe freuen. Die Suchtgefährdeten fühlen sich durch ihre Fernsehabstinenz sehr viel wohler. "Irgendwie ist ein Stück meiner Selbst wiedergekommen." Aber es gibt noch weitere gute Gründe, auf die Flimmerkiste zu verzichten. So werden bei Kindern gravierende Verhaltensdefizite und eine Zunahme der Aggressivität dem Fernsehkonsum genauso angelastet wie ein Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit. Schuld sei der "MTV-Effekt" – schnell geschnittene Bildfolgen – und häufiges Zappen. Passivität und die Verkümmerung der Kreativität seien Folge der ständigen Berieselung.

Aber mit dem Abschaffen des Fernsehgerätes ist den Kindern, nach Sickings Meinung, auch nicht geholfen. Viel wichtiger ist es, ihnen einen kompetenten und verantwortungsvollen Umgang mit dem Medium beizubringen. Denn in unserer Gesellschaft ist es fast unmöglich, sich dem Fernsehen völlig zu entziehen. Kritische Medienkompetenz heißt deshalb das Lernziel, auf das Eltern heute hinarbeiten sollten. Für den Medienkonsum gelte zwar das Motto "weniger ist mehr", sagt der Erziehungswissenschaftler Horst Opaschowski, doch sei ein maßvoller Fernsehkonsum "eine durchaus sinnvolle und befriedigende Tätigkeit". Wer allerdings Probleme mit seiner eigenen Medienkompetenz hat, dem sei das Buch von David Burke nahe gelegt, das den bezeichnenden Titel trägt: "Get a Life".

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