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Angemerkt!: Eine Gespensterdebatte

Der Disput über die möglichen gesellschaftlichen Folgen der Präimplantationsdiagnostik zielt am Thema vorbei. Denn längst entstehen in den Labors von Reproduktionsmedizinern und Gendiagnostikern ganz andere Techniken, die Paare mit Kinderwunsch und werdende Eltern schon bald vor neue Herausforderungen stellen werden.
Injektion einer Markersubstanz
Am 6. Juli 2010 hat der Bundesgerichtshof die Präimplantationsdiagnostik (PID) für grundsätzlich zulässig erklärt. Nach verbreiteter Auffassung galt die PID zuvor durch das Embryonenschutzgesetz von 1990 als verboten; die obersten Zivil- und Strafrichter mahnten jedoch eine eigene gesetzliche Regelung für die PID an. Seither tobt in unserem Land eine Debatte um diese früheste Form der vorgeburtlichen Diagnostik, deren Entscheidung am 7. Juli 2011 in der zweiten und dritten Lesung dreier fraktionsübergreifender Gesetzesentwürfe im Bundestag ansteht.

Peter Propping | Der Autor ist ist emeritierter Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Bonn und Seniorprofessor am selben Institut. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören genetische Analyse komplexer zentralnervöser Krankheiten und erbliche Krebsdisposition. Er hat 35 Jahre lang genetische Beratungen durchgeführt. 2010 war er Leiter er Arbeitsgruppe Prädiktive genetische Diagnostik der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle.
Die PID erlaubt es Paaren, die ein hohes Risiko für die Geburt eines Kindes mit einer schweren erblichen Krankheit haben, die betreffende Krankheit durch eine genetische Untersuchung an Embryonen im Stadium der Totipotenz (4 bis 8 Zellen) oder der Pluripotenz (jenseits des 8-Zellstadiums) auszuschließen. Das Verfahren erfordert eine vorherige künstliche Befruchtung und stellt für die Frau eine erhebliche psychische wie auch körperliche Belastung dar. Pro Embryotransfer kommt es nur in 26 Prozent zur Geburt eines Kinds. Bei einer begrenzten Zulassung der PID wären in Deutschland den Abschätzungen des Nationalen Ethikrats zufolge wenige hundert Fälle pro Jahr zu erwarten [1, 2].

PID wird seit fast 20 Jahren in vielen Ländern durchgeführt; Deutschland hat dagegen bisher einen Sonderweg eingeschlagen: Viele betroffene deutsche Paare wenden sich in ihrer Not daher an ausländische Zentren. In der Debatte um eine mögliche Zulassung der PID auch in Deutschland schwingt oft das Argument mit, hier stehe ein ethischer Dammbruch ins Haus, der über kurz oder lang eine "Ära der Designerbabys" auf elterliche Bestellung einläute. Diese Angst lässt sich leicht dadurch entkräften, dass die Methode lediglich bei monogen verursachten Erkrankungen und erblichen Chromosomenstörungen anwendbar ist; nach Wunschmerkmalen wie hoher Intelligenz, schlankem Körperbau oder vollem Haar können Embryonen gar nicht sortiert werden. Auch liefert die PID keinen Anlass, von einer tief greifenden Veränderung der Kultur, wie wir Kinder kriegen, zu fabulieren. Sie ist schlicht nur für einen ganz bestimmten Bruchteil aller Paare von Bedeutung.

Vor diesem Hintergrund ist die hitzige Diskussion über PID, so wie sie in den letzten Monaten geführt wurde, erstaunlich – ja eine Gespensterdebatte, denn die eigentlich wichtige Entwicklung läuft unbemerkt parallel dazu ab. So sind technische Innovationen im Gang, die unsere Gesellschaft viel umfassender verändern werden, da sie letztlich jedes Paar mit Kinderwunsch betreffen.

Im Januar 2011 stellten Forscher um den Genetiker Cattum J. Bell vom amerikanischen National Center of Genome Resources eine Methode vor, mit der jede Person sich darauf untersuchen lassen kann, ob sie eine Erbanlage trägt, die in reinerbiger Kombination zu einer schweren genetischen Krankheit führt [3]. Bisher werden die Erbanlagen für 448 verschiedene rezessiv erbliche Krankheiten berücksichtigt. In wenigen Jahren werden gesunde Paare sich darauf untersuchen lassen können, ob sie ein erhöhtes Risiko für die Geburt eines Kinds mit einer von tausenden, wenn nicht nahezu allen rezessiv erblichen Krankheiten haben. Für mindestens eines von 100 Paaren wird sich dabei eine erhöhte Wahrscheinlichkeit ergeben. Die Möglichkeit zu dieser Untersuchung stellt eine völlig neue Situation dar, die unsere Fortpflanzung viel nachhaltiger verändern dürfte, als es die PID je könnte.

Eine zweite bislang kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommene Entwicklung betrifft die genetische vorgeburtliche Diagnostik auf Chromosomenstörungen, für die bisher eine Punktion erforderlich ist. Anknüpfend an Arbeiten von H. Christina Fan und Stephen R. Quake vom Department of Bioengineering der Stanford University wird man durch eine risikolose Untersuchung des mütterlichen Bluts mit hoher Zuverlässigkeit eine Aussage über eine eventuelle Chromosomenstörung des Fetus machen können [4, 5].

Gegenwärtig wird in Deutschland bei jeder zehnten Schwangerschaft eine Fruchtwasserpunktion durchgeführt; dafür werden momentan etwa 700 eingriffsbedingte Fehlgeburten pro Jahr in Kauf genommen. In Zukunft werden Ärzte wohl nur noch zur Überprüfung eines auffälligen Befunds der Blutuntersuchung einen solchen Eingriff für nötig halten.

Diese und weitere technische Entwicklungen eröffnen Paaren neue Handlungsoptionen, sind mit hoher Eigenverantwortung verbunden und erfordern vor allem eine kompetente Beratung. Wichtiger als die PID-Debatte weiter zu schüren, wäre es daher, die Gesellschaft umfassend auf die kommenden Möglichkeiten der genetischen Diagnostik vorzubereiten. Denn sie verlangen von jedem Paar eine Entscheidung.

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