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Archäologie: Der zweite Untergang von Zeugma

Im Wettlauf mit herannahenden Wassermassen versuchten Archäologen kulturhistorische Zeugnisse einer antiken Stadt zu retten.


Im Oktober 2000 ging die antike Stadt Zeugma zum zweiten Mal unter – sie wurde Opfer eines Staudammprojekts, mit dem die türkische Regierung den armen Süden des Landes wirtschaftlich beflügeln will. Die antike Stätte liegt nun unter großen Wassermassen. Der Damm soll nicht nur Strom, sondern auch Wasser für die Landwirtschaft liefern. Er ist Teil eines Entwicklungs-Programmes, das insgesamt 22 Dämme einplant: 3300 Quadratkilometer der Türkei liegen bereits unter dem Wasser von Stauseen, weitere 1800 Quadratkilometer werden noch hinzukommen. Dieses in die Zukunft gerichtete Programm ist jedoch für die Hinterlassenschaften der Antike – und somit auch für Archäologen und Historiker – eine wahre Qual, denn die zu überflutenden Gebiete weisen eine lange und abwechslungsreiche Geschichte auf, deren Spuren noch allgegenwärtig sind. Weit über zehntausend archäologische Fundstätten sind in den Flutungsgebieten gefährdet.

Einer dieser Fundorte ist Zeugma – in griechisch-römischer Zeit eine bedeutende und wohlhabende Stadt. Entsprechend ergiebig sind die Grabungen. Allein bei den zuletzt in großer Eile durchgeführten archäologischen Arbeiten kamen zahlreiche hochwertige Mosaiken, Fresken, Statuen, Münzen und andere Kleinfunde zum Vorschein. Aber auch über diese Funde hinaus könnte man von Zeugma noch viel mehr Antworten auf offene Fragen erwarten.

Anfang des 19. Jahrhunderts tauchten erstmals Behauptungen auf, die antike Stadt Zeugma liege bei dem modernen Städtchen Belkis, im Südosten der Türkei, etwa 30 Kilometer von der Grenze zu Syrien entfernt. Schon wenig später hatten sich Kunstdiebe, Grabräuber und Plünderer dort zu schaffen gemacht. Prächtige Mosaiken und Statuen, auf die jedes Museum der Welt stolz wäre, gelangten über den Kunstmarkt in private Sammlungen und weckten schließlich auch das Interesse der Historiker und Archäologen.

Gegründet wurde die Ansiedlung unter dem Namen "Seleukia am Euphrat" schon um 300 v. Chr. von Seleukos I. Nikator, dem Satrapen von Babylon und General Alexanders des Großen. Die Lage der Stadt war gut gewählt: Hier, an der schmalsten Stelle des Euphrat, führte die einzige fest installierte Brücke über den Fluss. Reisende und Händler nutzten diesen Weg, wenn sie von Babylon kommend über das Taurusgebirge wollten. Bald entwickelte sich auch auf der gegenüberliegenden Seite von Seleukia eine Stadt, nämlich Apamea.

Meisterhafte Mosaiken

Im ersten Jahrhundert v. Chr. übernahmen die Römer die Herrschaft in der Doppelstadt. Diese wurde nun Zeugma, "Brückenstadt", genannt. Die Römer stationierten hier die "skythische Legion" mit 5000 Mann und trugen damit dazu bei, dass der Wohlstand der Stadt stark zunahm. Der Reichtum zog auch viele Künstler der damaligen Welt an, die mit prächtigen Mosaiken und Fresken ihre Spuren hinterließen. Zeugma diente dann als wichtiger Handelsknotenpunkt zwischen Europa und dem Nahen Osten, vergleichbar mit der Lage des heutigen Istanbul. Jedoch in der Mitte des dritten Jahrhunderts v. Chr. war mit dem Untergang des Römischen Reiches auch der Niedergang von Zeugma besiegelt. Angriffe der 256 n. Chr. aus dem Osten vordringenden Parther und einige Erdbeben beschleunigten den Verfall.

Das antike Zeugma war zwar kein zweites Pompeji. Dennoch erreichte es mit schätzungsweise 60000 Bewohnern fast die doppelte Größe des römischen London und die dreieinhalbfache Pompejis; vor der römischen Herrschaft zählte es nur etwa 25000 Einwohner.

Wenn Zeugma auch nicht einmalig ist, unter 17 Meter Staudammwasser ist sie doch ein großer Verlust. Und das nicht allein wegen der außergewöhnlichen Funde, von denen noch viele weitere zu erwarten gewesen wären. In Zeugma hätte man erstmals in Kleinasien ein römisches Militärlager der ersten beiden Jahrhunderte n. Chr. sorgfältig untersuchen können. Die Chance wurde vertan. Auch die sich selten bietende Möglichkeit, eine antike Gesellschaft genauer studieren zu können, die zwischen Orient und Okzident lebte, wurde hier nicht genutzt. Wer waren also die Bewohner von Zeugma? Waren es mehr Griechen als Römer, oder Semiten, Perser und Aramäer?

Um das historische Erbe vor dem Staudammwasser zu retten, grub seit 1992 das Museum der südosttürkischen Provinz Gaziantep in der antiken Stadt. Die Flutung des Staudammes war ursprünglich für das Jahr 1999 vorgesehen. Doch der Aufwand der archäologischen Arbeiten überstieg die Möglichkeiten des kleinen Museums bei weitem. Auf die in alle Welt losgeschickten Hilferufe der türkischen Archäologen reagierten nur wenige ausländische Kollegen. So kam es schließlich zu einem Wettlauf mit der Zeit. Erst im Oktober 1999 begannen umfangreichere Grabungen. Nach und nach beteiligten sich Australier, Franzosen, Engländer, Deutsche, Schweizer, Spanier und Amerikaner; verteilt auf bis zu zehn Grabungsgebiete arbeiteten zeitweise 300 Personen gleichzeitig an der archäologischen Stätte.

David Kennedy, Archäologe von der University of Western Australia und einer der ersten ausländischen Beteiligten, kritisierte aber noch im Mai 2000, dass sich so wenige Archäologenteams in Zeugma engagierten. Die meisten Fachkollegen taten so, als hätten sie die Gefährdung der bedeutenden Stätte durch den Stausee eben erst erfahren. Tatsächlich war schon seit 1988 bekannt, welches Schicksal die antike Stadt ereilen werde und welche Werte mit ihr untergehen würden.

Trotz der verspäteten Unterstützung der ausländischen Archäologen konnten viele Schätze gesichert werden – auch wenn diese Notgrabungen zuletzt den Charakter von wissenschaftlicher Arbeit mehr und mehr vermissen ließen und oft nur der bloßen Denkmalaufnahme für das Archiv dienten.

Die Fundbilanz bis zur Flutung im Oktober:

- Tausend Quadratmeter farbenprächtiger Mosaiken und viele Fresken. Ein pastellfarbenes Mosaik mit drei von Amoretten umgebenen Frauen misst 2000 Quadratmeter.

- Drei luxuriöse Villen, in denen die Wände zum Teil noch vier Meter hoch stehen. 200 weitere römische Häuser werden noch in Zeugma vermutet. In einer der Villen fanden die Archäologen Teile einer Bronzerüstung, die augenscheinlich einem römischen General gehörte.

- 3700 Silber- und Bronzemünzen.

- mehrere antike Statuen und zahlreiche weitere Kleinfunde, beispielsweise 65000 Tonsiegel, die über die Handelsbeziehungen von Zeugma Auskunft geben.

Die Archäologen – zum Teil unterstützt vom Personal des Staudamm-Projekts – transportierten die Funde in das Museum von Gaziantep. Nach dem Restaurieren aller Mosaiken wird das Museum – nach den berühmten Sammlungen in Hatay (dem antiken Antiochia) und Tunis – das dritt-bedeutendste für Mosaiken weltweit sein.

Warum beteiligten sich aber so wenige ausländische Teams an den Grabungen in Zeugma? Nach Meinung von Kennedy sind hierfür zwei wesentliche Entwicklungen in der Archäologie verantwortlich: Erstens halten viele Länder an ihren "Großgrabungen" fest, wie beispielsweise die Deutschen in Olympia und Troja, wo schon seit Jahrzehnten Jahr für Jahr aufs Neue gegraben wird; große Teile des Budgets der Institute werden hier eingesetzt. Zweitens hat diese Entwicklung dazu geführt, dass viele jüngere Archäologen sich intensiv mit Ausgrabungen in der Provinz beschäftigen und Stadtgrabungen völlig meiden. Kennedy tritt deshalb für eine neue Gewichtung der Forschungsarbeiten ein: "Alle Aufgaben in der Archäologie sind wichtig, aber nicht alle sind von gleicher Wichtigkeit." Dass hier ein Problem der heutigen Archäologie liegen mag, zeigt auch ein anderer Fall: Vor zehn Jahren waren die Archäologen schon bei einer anderen bedeutenden antiken Stätte zu spät gekommen, als die griechisch-römische Stadt Samosata mitsamt ihren Kulturschätzen unter dem Wasser des Atatürk-Stausees versank.

Deshalb sollten die Archäologen dem nächsten Projekt – dem Ilisu-Staudamm wenig südlich von Zeugma, der schon in zwei Jahren fertig sein soll – besser vorbereitet begegnen, um wenigstens dort angemessen wissenschaftlich arbeiten zu können. Denn im Flutgebiet des Staudamms liegt die mehrere tausend Jahre alte Höhlensiedlung Hasankeyf, mit der auch wertvolle Reste antiker Kulturen verloren gehen würden. Außerdem ist es die einzige Stadt in Anatolien, die ihre mittelalterliche Architektur vollständig bewahren konnte. Die türkische Regierung scheint die kulturelle Bedeutung von Hasankeyf – mitten im Kurdengebiet – jedoch völlig zu unterschätzen. Den Bau des Stauwerkes gab sie mit der Begründung frei: "Im Flutungsgebiet des Dammes liegen keinerlei archäologische Schätze."

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2000, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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