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Atom-Semiotik: Ein Warnschild ohne Halbwertszeit

Forscher entdecken ein jahrzehntealtes Problem wieder: Wie verhindert man, dass kommende Generationen Atommüll wieder ausgraben? Eine Antwort ist nicht in Sicht.
Verrostetes Atommüllfass

Patrick Charton ist stolz auf seine Scheibe. Sie ist so groß wie eine Pizza, durchsichtig und in ihrem Inneren schimmern feine Gravuren. "Die Schrift kann man auch in zwei Millionen Jahren noch lesen", erzählt der französische Nukleartechniker. Er steht Mitte Juli mit einer Hand voll Journalisten vor einem Seminarraum des Euroscience Open Forum in Dublin. Darin hat Charton gerade zusammen mit drei Experten aus Schweden ein heikles Thema diskutiert: Wie sollte man Atommüll vergraben, damit er von unseren unwissenden Nachfahren nicht wieder ausgebuddelt wird?

Es ist eine Frage, die in den Diskussionen um ein geeignetes Endlager für abgebrannte Brennstäbe in der Regel keine Rolle spielt. Dort geht es in den allermeisten Ländern noch darum, überhaupt einen politisch wie geologisch geeigneten Standort zu finden. Wenn dieser eines Tages identifiziert, ausgebaut und bis zum Rand mit Fässern gefüllt wurde, ist das Problem jedoch nur auf Zeit gelöst. Denn in abgebrannten Brennstäben enthaltene Transurane wie Plutonium-239 senden auch nach zehntausenden Jahren noch erhebliche Mengen Strahlung aus. Erst nach 100 000 Jahren sinkt die Aktivität der eingelagerten Brennstäbe unter den Wert von Natur-Uran, das man zumindest für kurze Zeit mit den Händen anfassen kann.

Aber wer würde schon so dumm sein, mit Totenkopf-Schildern gekennzeichneten Atommüll auszugraben? Von den heute lebenden Menschen wohl niemand. Was jedoch die Gattung Menschenaffe, in die sich der Homo sapiens in ferner Zukunft entwickelt haben wird, von "Graben verboten!"-Schildern hält, kann niemand wissen. "Über einen Zeitraum von 100 000 Jahren kann man die menschliche Natur nicht voraussagen", sagt der Archäologe Anders Högberg von der schwedischen Linnaeus Unversität auf der Dubliner Tagung. Eine Ahnung, wie lange dieser Zeitraum ist, gibt der Blick in die Vergangenheit: Vor 30 000 Jahren hat noch der Neandertaler Europa bevölkert. Und die ältesten heute erhaltenen Großbauwerke – die Pyramiden beispielsweise – sind gerade einmal 5000 Jahre alt. Für Archäologen wie Högberg veranschaulichen sie das Dilemma vorzüglich: Schließlich ist kaum eines der Pharaonengräber von Räubern verschont geblieben, obwohl sie einst unter großem Aufwand als heilige Ruhestätten gekennzeichnet wurden.

Ein Stonehenge zur Warnung

Seit über 30 Jahren machen sich Wissenschaftler Gedanken darüber, wie man unbedarfte Nachkommen davon abhalten könnte, auch in Atomendlagern nach Schätzen zu suchen. Eine erste Initiative ging 1980 vom amerikanischen Energieministerium aus, das eine Gruppe aus Ingenieuren, Anthropologen, Nukleartechnikern und Verhaltensforschern mit der Lösung dieses Problems beauftragte. Der 129 Seiten lange Abschlussbericht der "Human Interference Task Force" klingt vor allem ernüchternd: Man könne Atommüll "vielleicht" für einige tausend Jahre sicher verwahren, wenn man die Stätte gut kennzeichnet, urteilten die Experten. Ihnen schwebte eine Art modernes Stonehenge vor, auf dessen Säulen vor dem gefährlichen Erbe unter der Erde gewarnt wird.

Tatsächlich wurde das Konzept in den 1990er Jahren weiterentwickelt und soll beim Endlager für Transurane aus der Atomwaffenproduktion der Vereinigten Staaten, der Waste Isolation Pilot Plant in New Mexico, zum Einsatz kommen. Nach dessen Versieglung im Jahr 2033 sollen 32 jeweils sieben Meter hohe Monolithen einen mehrere Quadratkilometer großen Bereich abstecken, in dessen Mitte ein Informationszentrum – umgeben von Mauern und 16 weiteren Monolithen – detaillierte Schilderungen des strahlenden Erbes verwahrt. Für weniger belesene Spätmenschen sollen die Säulen und Wände der ganzen Anlage mit Warnhinweisen überzogen werden.

Aber was bildet man darauf ab? Bei der Suche nach geeigneten Botschaften für die Nachwelt entschieden sich die Forscher letztendlich für Gesichter, deren Züge zwei universell verständliche Gesten kennzeichnen: Ekel und Panik. (Letztere in Form der Figur aus Edvard Munchs Gemälde "Der Schrei").

Hier bitte nicht graben! | In 100 000 Jahren werden Menschen in diesen Gesichtern Angst und Ekel lesen, so die Semiotiker der Waste Isolation Pilot Plant in den USA. Warnhinweise wie diese sollen ein monumentales "Stonehenge" und Informationszentrum ergänzen.

"Solche Gesichter würden Eindringlingen signalisieren, sich selbst zu schützen, anstatt den Eindruck zu erwecken, etwas Wertvolles zu beschützen", schrieb die Expertenkommission. Daneben sollen Warnhinweise in sechs Weltsprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Russisch, Chinesisch) sowie in der Sprache der Navajo in die Säulen gefräst werden.

Vorsicht: Vergrabene Windräder

Jedoch haben schon die Pioniere der "Atomsemiotik" in den 1980er Jahren geahnt, dass Sprache kein sonderlich hilfreiches Mittel bei der Überbrückung von knapp 3000 Generationen ist. Linguisten schätzen, dass alle heute gesprochenen Sprachen nach spätestens zehntausend Jahren keinerlei erkennbare Verwandtschaft zu ihren Wurzeln mehr aufweisen. Auch Warnsymbole werden von Kultur zu Kultur unterschiedlich interpretiert. Selbst das "neue" Warndreieck der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA aus dem Jahr 2007, das neben dem Symbol für Radioaktivität einen Totenschädel und einen fliehenden Menschen zeigt, könnte in Zukunft als Bestandsaufnahme einer Piraten-Party gelesen werden. Wie schnell das mitunter gehen kann, zeigt dieser Tage eindrucksvoll der Werbespot eines Ökostrom-unternehmens: Da wird aus dem schwarz-gelben Warndreieck für Radioaktivität kurzerhand ein Windrad.

Aber auch manches archäologische Artefakt zeigt, wie schwierig es sein kann, tausende Jahre alte Symbole zu interpretieren. Da wäre etwa der Diskos von Phaistos aus der Bronzezeit. In die berühmte Lehmscheibe wurden 241 kleine Symbole gestanzt. Über ihre Bedeutung streiten Gelehrte seit 100 Jahren erbittert. "Man braucht deutlich mehr Symbole oder eine Verbindung zu einer bekannten Sprache, um eine unbekannte Schrift zu lesen", folgert der britische Geschichtsautor John Man in seinem Buch "Alpha Beta".

Nur: Wie kann man komplizierte Informationen sonst noch übermitteln, wenn nicht mit Bildern oder Texten? Nicht alle Mitglieder der Human Interference Task Force hielten ein Atomlager-Stonehenge für die beste Variante. Der Sprachwissenschaftler Thomas Sebeok hielt das gesprochene Wort für unerlässlich. Er ersann das Konzept einer "atomaren Priesterschaft" aus Wissenschaftlern, die das Wissen über Radioaktivität und Atommüll über die Äonen bewahren sollte. Nicht eingeweihte Menschen würden mit Hilfe von Legenden und Ritualen von atomaren Lagerstätten ferngehalten.

Lebende Schilder

Sebeok sollte die Idee gegenüber der Presse später als Fehler bezeichnen, nicht zuletzt weil sie die gerade erst geborene Disziplin der Atomsemiotik der Lächerlichkeit preisgab. Das machte ein Vorschlag der französischen Forscher Françoise Bastide und Paolo Fabbri nicht besser, die wie Sebeok 1984 ihre Endlager-Vision in der deutschen "Zeitschrift für Semiotik" veröffentlicht hatten. Sie wollten Katzen genetisch so manipulieren, dass sich ihr Fell verfärbt, wenn sie radioaktiver Strahlung ausgesetzt werden. Der Sciencefiction-Autor Stanislaw Lem begnügte sich mit einer nur wenig bodenständigeren Idee: Er wollte eine Pflanzensorte züchten, die in Anwesenheit von Strahlung erblüht.

Auch andere Vorschläge aus den 1980er Jahren geistern bis heute durch die Debatte: Etwa der, Atommüll vielleicht gar nicht zu kennzeichnen, da unter jedem Schild irgendwann irgendjemand einen Schatz vermuten wird. Oder jener, Atomendlager so gut vor fremden Eingriffen zu sichern, dass nur eine hoch entwickelte Zivilisation zu ihnen vordringen könnte. Prophetische Weitsicht bewies dagegen Susanne Hauser von der Technischen Universität Berlin: Sie schrieb 1984, dass das Eindringen von Menschen in Atommülllager ein zweitrangiges Problem darstellt, solange diese Lager nicht einmal gegen Naturgewalten gesichert werden können.

So überrascht es wenig, dass die Atomsemiotik erst vor Kurzem wieder Aufwind erfahren hat, und das in den Ländern, die sich nach jahrzehntelangem Ringen ein geeignetes Endlager gefunden haben. In Frankreich soll es voraussichtlich ab 2025 in dem kleinen Städtchen Bure im Nordosten des Landes entstehen. Schwedischer Atommüll hingegen wird ab Anfang der 2020er Jahre in Kupferfässern in einen unterirdischen Schacht bei Forsmark gebracht. Gegen Ende des Jahrhunderts soll die Versiegelung für die Ewigkeit folgen – ein Schritt, mit dem man in Frankreich noch hadert.

Jedoch macht man bei der in Frankreich für die Endlagerung zuständigen Behörde ANDRA bereits Gedanken um die ferne Zukunft – zumindest im kleinen Rahmen. Seit zwei Jahren erarbeiten etwa 20 Wissenschaftler in Teilzeit (auf zusammen drei Vollzeitstellen) Konzepte für eine Langzeitkennzeichnung. Patrick Charton ist einer von ihnen, seine Scheibe ist das erste Produkt des Gedächtnisprojekts. Die zwei aus Saphir gefertigten und zusammengefügten Platten könnten theoretisch eines Tages dazu genutzt werden, Informationen in einer Kammer zu hinterlegen. Denn wegen der Materialeigenschaften von Saphir soll die Scheibe immun gegen Verwitterung sein. 4000 Manuskriptseiten könnten auf dem 20 000 Euro teuren Prototypen laut Charton Platz finden, anschließend könnte man sie mit einem Mikroskop auslesen.

"Wahrscheinlich nicht die Lösung"

Allerdings ist die Scheibe brüchig – weshalb sich selbst Charton nur schwer vorstellen kann, dass sie tatsächlich als Speichermedium in Frage kommt. Geeigneter wären Analysen einer japanischen Forschergruppe aus Tokio zufolge Blöcke aus der Nickelbasislegierung Hastelloy oder aus Siliziumkarbid, in deren Oberfläche mit Lasern Gravuren gefräst wurden. Charton geht es jedoch vor allem darum, dass Menschen das Problem der Kennzeichnung von Atomendlagern überhaupt wahrnehmen. "Die Scheibe ist wahrscheinlich nicht die Lösung – sie soll ein Beispiel sein", sagt er. Pünktlich zur endgültigen Entscheidung der Franzosen über das Endlager in Bure im Jahr 2016 will er mit seinen Kollegen auch das Konzept eines nationalen Nukleararchivs ausgearbeitet haben. Außerdem sollen Künstler Vorschläge für die symbolische Überlieferung der Strahlengefahr präsentieren.

Die schwedische Fraktion betont auf der Dubliner Konferenz derweil die gesamtgesellschaftliche Verantwortung. "Wir Ingenieure können das Problem nicht allein lösen, wir brauchen Hilfe von anderen Disziplinen", sagt etwa Erik Setzman von der mit der Endlagerung in Schweden betrauten Firma SKB. Der deutsche Archäologe Cornelius Holtorf, der ein Projekt zum atomaren Erbe an der Linnaeus Unversität leitet, bringt schließlich das Ergebnis der Session auf den Punkt: "Am Ende bleiben nur Fragen, die wir in der Zukunft irgendwie lösen müssen."

Zu diesem Schluss kommt auch die zur OECD gehörige Nuclear Energy Agency (NEA), die seit Anfang 2011 in einem Projekt Lösungsvorschläge erarbeiten will. In Ihrem Jahresrückblick formulierten die Experten erste Schritte – und fangen bürokratisch korrekt bei null an. So soll zunächst ein gemeinsames Glossar geschaffen werden, um Missverständnisse bei einer internationalen Aufarbeitung des Problems zu vermeiden. Auch werden Beispiele gesammelt, bei denen wichtige Informationen über die Generationen verloren gingen.

Vernetzte Archive

So will man Methoden entwickeln, bei denen das "Einmotten" von Informationen funktioniert – etwa indem sie in einem Kontext hinterlegt werden, aus dem sich die Gefahrensituation eindeutig erschließt. Wie das konkret aussehen könnte, verraten die Wissenschaftler jedoch nicht. Ähnlich abstrakt bleibt auch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA in ihren Veröffentlichungen zu dem Thema. Etwa in jener aus dem Jahr 2004, in der sie empfiehlt, mehrere miteinander vernetzte Archive zu schaffen, die kerntechnische Kompetenzen möglichst lange aufbewahren sollen.

Vielleicht sind Überlegungen zum Wissenstransfer auch das Einzige, wozu es noch Gedankenarbeit bedarf in der Atomsemiotik. Diesen Schluss lässt zumindest die Forschungsarbeit von Marcos Buser zu, der 2010 eine Literaturstudie zum Stand der Markierung von geologischen Tiefenlagern für das Schweizer Bundesamt für Energie durchführte. Im Wesentlichen seien alle relevanten Fragestellungen zur Markierung bereits in der Literatur auf die eine oder andere Art angesprochen worden, schreibt Buser darin.

Dass aus all den Gedankenspielen am Ende vielleicht nie eine praktikable Lösung erwächst, legt indes ein Dokument der NEA nahe, in dem die "Vision" des Projekts skizziert wird: Bei der Organisation des Arbeitsprogramms müsse akzeptiert werden, dass die Beschreibung und Beherrschung aller Fassetten der Informationserhaltung über Generationen hinweg eine zu ambitionierte Aufgabe sei, heißt es da. Oder anders formuliert: Schön, dass wir drüber gesprochen haben.

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