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Bundestagswahl 2005: "Deutschland muss sich zu seinen Eliten bekennen"

Die Fragen von spektrumdirekt zur Forschungspolitik nach der Bundestagswahl beantworten heute die forschungspolitischen Sprecher der beiden großen Volksparteien. Hier die Antworten von Katherina Reiche von der CDU.
Katherina Reiche
spektrumdirekt:
Welches Gewicht haben Wissenschaft und Technologie in Ihrem Wahlprogramm? Wie sehen die entsprechenden Grundzüge aus?

Katherina Reiche:
Die Union stellt Forschung und Innovation an den Beginn ihres Regierungsprogramms. Das zeigt den herausragenden Stellenwert, den wir diesem Politikfeld beimessen. Wir wollen Forschung und Innovation in Deutschland wieder konsequent fördern. Wir werden die jährlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung zusätzlich zur beschlossenen Exzellenzinitiative um eine Milliarde Euro erhöhen.
Die fiskalische Förderung von Forschung und Technologie reicht aber nicht aus. Wenn wir in unserem Land wieder Wachstum wollen, müssen wir auch die richtigen Rahmenbedingungen schaffen und den technologischen Spitzenfeldern der Zukunft – Bio- und Gentechnologie, Materialforschung, Medizintechnik und Optik, Nanotechnologie, Mechatronik Verkehrstechnologie, Luft- und Raumfahrttechnik, Informations- und Kommunikationstechnologie, Energie- und Umwelttechnik – die besten Entwicklungschancen eröffnen. Deshalb werden wir beispielsweise das Gentechnikgesetz novellieren, die ideologischen Scheuklappen in der Energieforschung beseitigen und den Ausstieg aus der Kerntechnologie rückgängig machen. Wir werden eine Transrapidstrecke in Deutschland realisieren, ein wettbewerbsfähiges Gesundheitswesen schaffen und uns für eine Entbürokratisierung der EU-Chemikalienrichtlinie einsetzen.
"Wir werden das Gentechnikgesetz novellieren, die ideologischen Scheuklappen in der Energieforschung beseitigen und den Ausstieg aus der Kerntechnologie rückgängig machen"
Als drittes geht es um die Optimierung der Zusammenarbeit in unserem Forschungssystem und um Synergieeffekte. Dazu werden wir die universitäre und außeruniversitäre Forschung besser vernetzen, sie stärker in die europäische Forschungspolitik integrieren und den Wettbewerb im Wissenschaftsbereich stärken. Mit moderner "Clusterpolitik" werden wir den Technologietransfer managen. Die Innovationskraft, vor allem des Mittelstands, soll durch eine verstärkte Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft gefördert werden und sowie durch die Gründung innovativer Unternehmen mit der Schaffung international attraktiver Bedingungen für Wagniskapital. So gewinnt unser Land: Innovationen, Arbeitsplätze, Wachstum.
Die Infrastruktur für einen innovativen Forschungs- und Industriestandort Deutschland sowie für die Entwicklung moderner und innovativer Dienstleistungen muss stimmen. Wir werden Anreize für den Aufbau neuer Breitbandnetze setzen und dafür sorgen, dass Investitionen in diesem Bereich nicht durch staatliche Regulierung behindert werden.

spektrumdirekt:
Wie wollen Sie dieses Programm finanzieren?

Reiche:
Bei 50 Milliarden Euro Defizit allein auf Bundesebene sind die Spielräume für Geschenke eng. Für Mehrinvestitionen in Forschung und Wissenschaft werden wir in allen Bereichen massiv Subventionen abbauen.

spektrumdirekt:
Welche Gewichtung messen Sie der angewandten und Grundlagenforschung bei?

Reiche:
Grundlagen- und angewandte Forschung gehören zusammen. Es kommt darauf an, sie wie Zähne eines Reißverschlusses im Innovationsprozess zusammenzubinden. Bei der Grundlagenforschung steht zunächst der freie Erkenntnisgewinn im Vordergrund. Doch die epochalen technischen Neuerungen gehen letztlich immer auf die Ergebnisse der Grundlagenforschung zurück. Deshalb darf sie auf keinen Fall vernachlässigt werden. Denken Sie nur daran, dass ohne die Einstein'schen Erkenntnisse und Theorien heute weder Laser noch GPS-Navigation möglich wären. Heute erfolgt der Übergang zur Anwendung oftmals viel schneller und unmittelbarer, wie zum Beispiel in der Bio- und Gentechnik. Deshalb ist politisch richtig, Grundlagenforschern die notwendige Freiheit zu gewährleisten, aber sie zugleich zu ermutigen, auch immer an mögliche Anwendungen zu denken und dafür ein Klima und Bewusstsein zu schaffen. Planungssicherheit brauchen beide: Grundlagen- und angewandte Forschung.

spektrumdirekt:
Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Deutschland liegen derzeit bei 2,55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Europäische Kommission hat sich in der Vereinbarung von Lissabon darauf verpflichtet, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis zum Jahr 2010 auf drei Prozent zu erhöhen. Halten Sie dieses Ziel noch für realistisch? Und wie soll es erreicht werden?

Reiche:
Es ist seit der Barcelona-Erklärung 2002 viel Zeit vertan worden. Deutschland ist zur Halbzeit mit rund 2,5 Prozent F&E-Anteil am Bruttoinlandsprodukt noch meilenweit von der Zielmarke entfernt. CDU und CSU halten aber daran fest, ab 2010 einen Anteil von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung zu investieren. Dazu werden wir unser eben skizziertes Programm umsetzen.

spektrumdirekt:
Derzeit tragen die Unternehmen in Deutschland rund zwei Drittel der Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Kann der Staat sich noch intensiver engagieren? Oder muss sich die Wirtschaft noch mehr anstrengen? Wie wollen Sie das erreichen? Mit Förderprogrammen? Oder durch Änderung von Rahmenbedingungen?

Reiche:
Das Verhältnis der Forschungsausgaben von zwei Dritteln Wirtschaft und einem Drittel Staat ist durchaus gesund und im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig. Das Problem ist, dass sowohl Staat als auch Wirtschaft die Ausgaben in den letzten Jahren nicht so gesteigert haben wie dies für eine High-Tech-Nation, die international ganz vorne mitspielen will, nötig gewesen wäre.Von 1998 bis 2004 hat die Bundesregierung die Forschungsausgaben lediglich um 7,74 Prozent gesteigert. Das entspricht der Summe der Forschungs- und Entwicklungsausgaben aller Ressorts; die Bundesregierung selbst legt bei ihren Angaben dagegen oft nur Teilbereiche zugrunde. Die Inflationsrate lag im selben Zeitraum bei 8,4 Prozent, der F&E-Preisindex für das verarbeitende Gewerbe sogar bei 14,7 Prozent. Der internationale Vergleich macht das Dilemma deutlich. Zwischen 2000 und 2003/4 stiegen die öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung in den Vereinigten Staaten, Schweden und Korea um 10 bis 14 Prozent, in Norwegen um acht Prozent, in Deutschland um zwei Prozent. Besonders gravierend ist der Rückgang in den vergangenen Jahren. 2002 und 2003 gab es nicht einmal einen nominalen Zuwachs, 2004 wurden 2,8 Prozent der Forschungsausgaben des Bundes gekürzt.
Auch der Aufschwung der Industrieforschung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat im Jahr 2000 sein Ende gefunden. Die hohen Zuwachsraten wurden Jahr für Jahr abgeschmolzen, sie sind 2004 ins Minus gedreht und um 1,7 Prozent zurückgegangen. Der Befund lautet: Die Großindustrie verlagert ihre Forschung und Entwicklung zunehmend ins Ausland, der Mittelstand leidet an einer ausgeprägten Innovationsschwäche, die Zahl technologieorientierter Gründungen sinkt.
Die Antwort darauf heißt: Verstärkung der Anstrengungen auf allen Ebenen – mehr staatliche Förderung und Verbesserung der Rahmenbedingungen durch innovationsfreundlichere rechtliche Regelungen, Entbürokratisierung und attraktive Bedingungen für Venture-Capital, um die Innovationskraft der Wirtschaft zu entfachen.

spektrumdirekt:
Zum Thema Globalisierung von Forschung und Entwicklung: Befürchten Sie, dass nach der vielfältigen Verlagerung von Produktionsstandorten ins Ausland die Forschung und Entwicklung nachfolgt? Wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang die Entwicklungen in Ländern wie Indien, China, Südkorea oder Osteuropa ein?

Reiche:
Dieser Prozess ist leider Realität. Die Forschung folgt zunehmend der Produktion ins Ausland. Nach einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages DIHK forschen bereits 33 Prozent der deutschen Unternehmen im Ausland. Weitere 17 Prozent wollen Forschung und Entwicklung in den nächsten drei Jahren verlagern, wenn nichts Entscheidendes passiert. Bedenklich ist ferner, dass die Großunternehmen vor allem mit der Forschung in High-Tech-Bereichen ins Ausland gehen.
"Deutschland muss auf eine solide Wirtschaftspolitik setzen mit flexiblem Arbeitsmarkt, längeren Arbeitszeiten und einem einfachen Steuersystem"
Die Dynamik ist in Deutschland im Vergleich zu gering. Insbesondere die Schwellenländer sind viel aktiver. China hat seine F&E-Anstrengungen seit Mitte der 1990er Jahre vervierfacht und in kurzer Frist bei den F&E-Ausgaben mit 72 Milliarden Dollar (das entspricht gut 58 Milliarden Euro; die Redaktion) Deutschland mit 54 Milliarden Euro überholt. Auch Indien zählt inzwischen zu den Top 10. Die graduelle Verlagerung des F&E-Wachstumsprozesses nach Übersee, das heißt nach Nordamerika, Japan, Korea und den Schwellenländern, ist unübersehbar.
Die Motive für den Gang ins Ausland sind neben den Forschungsbedingungen, flexiblere Arbeitszeiten, Marktnähe, hohe Verfügbarkeit von Fachkräften, aber auch eine kostengünstigere Lohnstruktur. Deshalb muss Deutschland neben der Verbesserung der engeren Forschungsbedingungen auch verstärkt auf eine solide und wachstumsfördernde Wirtschaftspolitik mit flexiblem Arbeitsmarkt, längeren Arbeitszeiten und einem einfachen Steuersystem setzen. Dem drohenden Fachkräftemangel muss schon in der Schule begegnet werden durch wieder mehr naturwissenschaftlichen Unterricht und Mathematik.

spektrumdirekt:
Viele deutsche Forscherinnen und Forscher zieht es ins Ausland – insbesondere in die Vereinigten Staaten. Dort machen sie häufig Karriere. Sehen Sie das als Beleg dafür an, dass das deutsche Ausbildungssystem zwar seine Stärken hat, junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in unserer Heimat aber zu wenig Entfaltungsspielraum haben? Wie wollen Sie das ändern, falls Sie künftig in Berlin mitreden oder sogar das Sagen haben?

Reiche:
Dass deutsche Absolventen weltweit eine Chance haben, ist ein gutes Zeichen. Wir können stolz sein auf das Niveau der akademischen Ausbildung in Deutschland. Der deutsche Diplomingenieur gilt weltweit als Qualitätssiegel. Dieses Niveau muss auch in Zukunft unter den Bedingungen des Bologna-Prozesses gehalten werden. Der Bologna-Prozess ist kein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag, sondern eine Absichtserklärung, welche die Unterzeichnerstaaten höchst unterschiedlich umsetzen.
Aus der wünschenswerten Auslandserfahrung von jungen Wissenschaftlern darf aber keine Wissenkapitalflucht werden, wie wir sie derzeit erleben. Die Probleme treffen verschärft die Hochschulen. Wahrend es der Max-Planck-Gesellschaft beispielsweise durchaus gelingt, namhafte Wissenschaftler aus dem In- und Ausland anzuziehen, leiden die Hochschulen spürbar unter der Abwanderung ihrer besten Doktoranden.
Unser Ziel ist es, die besten jungen Leute für die Wissenschaft zu begeistern, sie in der Wissenschaft zu halten und auch Top-Wissenschaftler aus dem Ausland zu werben. Dazu ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig:
Die beruflichen Perspektiven für Wissenschaftler müssen verbessert werden. Wer gut ist und seine eigenen Forschungsmittel einwirbt, muss eine Stelle bekommen. Deshalb müssen die starren Befristungsregelungen, die das heute noch verhindern, gerade für den Bereich der drittmittelfinanzierten Forschung geändert werden.
Deutschland kann nicht länger auf das Potenzial der Wissenschaftlerinnen verzichten. Auch in Deutschland muss es leichter und sogar üblich werden, Familie und wissenschaftliche Karriere zu verbinden. Deshalb forcieren wir den Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Dabei setzen wir auf Wahlfreiheit. Flexibel arbeitende Wissenschaftlerinnen brauchen ein breites Spektrum an Möglichkeiten, von Kinderkrippe bis Tagesmutter.
Gerade bei der Anwerbung von Wissenschaftlern aus dem Ausland ist wichtig, dass die gesamte Familie sich wohl fühlt und auch die Partner Berufschancen haben. Speziell für Forscherpaare sollten wir uns um Angebote bemühen.
Junge Wissenschaftler brauchen gute Betreuung, frühe Selbstständigkeit und Perspektiven. Zusammen mit den Verantwortlichen in den Hochschulen und in der Forschung wollen wir die Promotionsverfahren durch die Förderung von Graduiertenschulen, die Juniorprofessur und die Berufungsverfahren international konkurrenzfähig weiterentwickeln. Wissenschaftler werden wir auch bei der Ausgründung von Unternehmen aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen unterstützen.
Insbesondere die Hochschulforschung muss gestärkt werden. Die Exzellenzinitiative ist ein erster Schritt dazu. Zudem müssen wir die außeruniversitäre Forschung und die Wirtschaft stärker mit den Hochschulen vernetzen und schrittweise zum System der Vollkostenfinanzierung der Hochschulforschung übergehen. Das heißt, dass es für eingeworbene Drittmittel einen Zuschlag gibt, mit dem die Grundkosten von Forschungsprojekten bezahlt werden können. Die Hochschulen brauchen generell ein neues Hochschulfinanzierungssystem, bei dem der private Anteil und der Anteil der Wirtschaft auf ein international konkurrenzfähiges Niveau gehoben werden. Die Hochschulen müssen mehr Freiheit erhalten sowohl für eigene unternehmerische Tätigkeit wie für ihre Profilbildung. Hochschulen mit klarem Profil wird es besser gelingen, Wissenschaftler weltweit anzuwerben.
Der Wissenschaftsstandort Deutschland muss im Ausland bekannt werden. Mein Vorschlag ist, "Wissenschaftsbotschaften" in Regionen mit entsprechendem Potenzial einzurichten und in ihnen konsularische und Beratungsaktivitäten zusammenfassen. Bei der Auslandwerbung für den Studien- und Wissenschaftsstandort Deutschland muss der Qualitätsaspekt bei den Bewerbungen stärker in den Mittelpunkt rücken. Die Bemühungen sollten sich vor allem auf sehr gut qualifizierte Graduierte, Doktoranden und Post-Docs konzentrieren.
Schließlich wollen junge Wissenschaftler ein freiheitliches Reizklima in der Forschung. Deshalb werden wir ein positives Bild von unserem Land vermitteln und Technikblockaden überwinden. Die ideologische Ausgrenzung von Forschungsbereichen, wie der grünen Gentechnik, muss beendet werden. Deutschland muss sich zu seinen Eliten bekennen und wissenschaftliche Leistungen stärker anerkennen.

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