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Bundestagswahl 2009: "Deutschland war bislang ein Bremsklotz"

Oliver Brüstle, 1962 in Ulm geboren, ist Direktor des Instituts für Rekonstruktive Neurobiologie der Universität Bonn und Geschäftsführer von Life & Brain GmbH, einem Forschungsunternehmen für angewandte Biomedizin. spektrumdirekt sprach mit ihm anlässlich der Bundestagswahl 2009 über die restriktive Haltung Deutschlands zur Stammzellforschung und die Probleme des wissenschaftlichen Nachwuchses.
spektrumdirekt: Wie bewerten Sie die aktuelle Wissenschafts- und Forschungspolitik der Großen Koalition in Bezug auf Ihr Forschungsgebiet?

Oliver Brüstle | Prof. Dr. Oliver Brüstle, 1962 in Ulm geboren, ist Direktor des Instituts für Rekonstruktive Neurobiologie der Universität Bonn.
Oliver Brüstle: Durch die Revision des Stammzellgesetzes im Jahr 2006 haben wir uns den aktuellen internationalen Entwicklungen angenähert, das ist der richtige Weg. Im internationalen Vergleich mit den USA und Asien gilt jedoch: Deutsche Forscher müssen weiterhin mit wesentlich stärkeren Einschränkungen arbeiten. Unsere Situation ist also insgesamt besser als vor drei Jahren, aber noch nicht dort angelangt, wo wir hinwollen.

spektrumdirekt: Die Stammzellforschung wird von der deutschen Bevölkerung eher kritisch gesehen. Wie empfinden Sie das?

Brüstle: Ich bin nicht sicher, ob das zutrifft. Die Antworten, die man bekommt, hängen immer davon ab, welche Fragen gestellt werden. Wenn nach dem Potenzial dieser neuen Technologie gefragt wird, also nach medizinischen Anwendungen, bekommt man überwiegend positives Feedback. Insgesamt habe ich nicht den Eindruck, dass sich die Meinung der deutschen Bevölkerung von der anderer europäischer Staaten grundlegend unterscheidet.

spektrumdirekt: Welche Änderungen erhoffen Sie sich von einer neuen Regierung in Ihrem Forschungsfeld?

Brüstle: Es kann nicht sein, dass die deutsche Stammzellforschung wegen ihrer Reglementierung weit hinter dem zurückbleibt, was um uns herum in Europa möglich ist.
"Im Sinne der Chancengleichheit sollten bei uns die gleichen Bedingungen gelten wie in unseren europäischen Nachbarstaaten"
Die unterschiedlichen Regelungen führen gerade bei internationalen Projekten zu Konflikten. Aber auch im Sinne der Chancengleichheit sollten bei uns die gleichen Bedingungen gelten wie im Schnitt auch in unseren europäischen Nachbarstaaten. Es wäre zu wünschen, dass wir auf europäischer Ebene zu einem Konsens kommen und Deutschland hierbei eine aktive Rolle spielt. Bislang war es leider so, dass Deutschland in der europäischen Diskussion zur Stammzellforschung sehr oft ein Bremsklotz war und versucht wurde, unsere sehr restriktive Haltung zur Norm zu erklären.

spektrumdirekt: Glauben Sie, dass dieser Wunsch realistisch ist?

Brüstle: Das ist sicherlich auch abhängig von den Entwicklungen auf diesem Gebiet. Sobald erste Therapien auf Grundlage von Stammzellforschung zum Einsatz kommen, wird der Druck wachsen, auch hier entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Macht des Faktischen wird einen entsprechenden Handlungsbedarf notwendig machen.

spektrumdirekt: Wie sehen Sie denn hier die Chancen für deutsche Forscher bei der Entwicklung solcher medizinischen Therapien?

Brüstle: Für den Bereich der adulten Stammzellforschung sind die rechtlichen Rahmenbedingungen gut.
"Alle Therapien, die pluripotente Zellen als Grundlage haben, sind noch hoch risikobehaftet"
Anders sieht dies bei der Entwicklung von Therapien für nicht regenerative Organe wie Herz und Gehirn aus. Da diese Gewebe nicht genügend adulte Stammzellen enthalten, benötigen wir pluripotente Stammzellen, und hier gibt es Hindernisse. Das Stammzellgesetz, so wie es bislang verfasst ist, zielt eher darauf ab, Grundlagenforschung unter strengen Auflagen zu erlauben, nicht aber die Anwendung. Dieses Gebiet bedarf dringend der Klärung, insbesondere in Anbetracht der internationalen Entwicklungen: In den USA werden bereits erste klinische Studien vorbereitet.

spektrumdirekt: Ist man denn schon so weit, dass klinische Studien Sinn machen?

Brüstle: Aus biomedizinischer Sicht muss man sagen, dass alle Therapien, die pluripotente Zellen als Grundlage haben, im Moment noch hoch risikobehaftet sind. Egal ob es sich um embryonale Stammzellen handelt oder um reprogrammierte Zellen, die von erwachsenen in pluripotente Zellen zurückverwandelt wurden. Ich bin darum kein Freund dieser vorschnellen klinischen Studien.

spektrumdirekt: Welche Risiken sind das denn genau?

Brüstle: Wenn sie nicht komplett in den für die jeweilige Anwendung gewünschten Zelltyp ausgereift werden, können pluripotente Zellen Tumoren auslösen. Das gilt für embryonale und reprogrammierte Stammzellen gleichermaßen. Zusätzlich steht bei reprogrammierten Zellen das Problem im Raum, dass beim Einschleusen der Reprogrammierungsfaktoren über Viren und andere Genfähren Schäden im Genom der Zellen entstehen können, die ebenfalls tumorauslösend sind. Hier sind also noch einige technische Entwicklungen abzuwarten.

spektrumdirekt: Die restriktiven Regelungen für die Stammzellforschung in Deutschland wurden von der Politik auch damit gerechtfertigt, dass man ja immer noch an adulten Stammzellen forschen könne. Hat diese "Anregung" etwas bewirkt?

Brüstle: Wenn Sie hier an ein Umschwenken unter den Forschern denken – nein. Es ist ja nicht so, dass Wissenschaftler, die jahrelang auf einem bestimmten Gebiet arbeiten, über Nacht ihr Forschungsgebiet ändern, weil die Politik das so will. Zudem entstehen die besten Ideen beim freien Forschen und sind nicht planbar. Eine einseitige Einschränkung eines Forschungsfelds auf eine vermeintlich politisch opportune Richtung verringert einfach die Chancen Deutschlands, hier etwas beizutragen.
"Das Potenzial von reprogrammierten Zellen ist ohne die Arbeit an embryonalen Stammzellen nicht einschätzbar"
Auch die sehr aufregenden Entwicklungen auf dem Gebiet der ethisch wenig problematischen Zellreprogrammierung bieten hier keinen echten Ausweg. Diese Forschung ist überhaupt nur im Kontext mit embryonaler Stammzellforschung sinnvoll. Beide Bereiche sind sehr eng miteinander verzahnt; das Potenzial von reprogrammierten Zellen ist ohne die Arbeit an embryonalen Stammzellen nicht einschätzbar. Was letzten Endes ja auch ein wichtiges Argument bei der Revision des Stammzellgesetzes 2008 war.

spektrumdirekt: Unabhängig von der Stammzellforschung – welchen Aspekt würden Sie einer zukünftigen Regierung besonders ans Herz legen?

Brüstle: Die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses. Nachwuchsforscher haben hier zu Lande sehr harte Bedingungen. Anachronistische Qualifikationskriterien wie die Habilitation, eine oftmals hohe Lehrbelastung, im Bereich der Medizin die hohen Anforderungen einer zusätzlichen Facharztqualifikation müssen mit guter Wissenschaft und familiären Herausforderungen unter einen Hut gebracht werden.
"Nachwuchsforscher haben hier zu Lande sehr harte Bedingungen"
Dazu kommt eine enorme Planungsunsicherheit, da traditionell der Standort mit einer Berufung gewechselt werden muss. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler leben bis Ende 30, Anfang 40 unter diesen Bedingungen – bei Einkommen, die an der absoluten Untergrenze liegen.

spektrumdirekt: Was fordern Sie?

Brüstle: Hier sind neue Ansätze gefragt, wie etwa die systematischere Handhabung des in den USA gängigen "Tenure Track"-Modells, mit dem herausragende Wissenschaftler an den jeweiligen Universitäten gehalten werden können. Und eine Gehaltsstruktur, die international und auch im industriellen Kontext kompetitiv ist. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses muss zur Chefsache erklärt werden, auch wenn dies bedeutet, einen Teil der Kompetenzen von der Landes- auf die Bundesebene zurückzuverlagern.

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