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Bundeswahlrecht: Das neue Wahlrecht: Gerecht, aber weltfremd und verworren

Heidelberg. Wenn demnächst der Bundestag gewählt wird, kommt erstmals das im Februar verabschiedete neue Wahlgesetz zur Anwendung. Das von 1957 bis 2009 gültige frühere Verfahren war verfassungswidrig und verletzte die Prinzipien der Unmittelbarkeit und Gleichheit der Wahl. Schuld war ein Effekt, der als negatives Stimmgewicht bezeichnet wird. Zusätzliche Stimmen für eine Partei konnten für diese zu einem Sitzverlust führen; umgekehrt konnte ein Stimmenverlust einer Partei einen zusätzlichen Sitz einbringen.
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Erzwungen hatte die Wahlgesetzänderung das Bundesverfassungsgericht auf Grund einer Verfassungsbeschwerde. Zu den Klägern gehörte auch der promovierte Physiker und Wahlrechtsexperte Martin Fehndrich, der im aktuellen Heft von Spektrum der Wissenschaft nun ein Resümee zieht. Demnach sei das neue Gesetz zwar wesentlich gerechter als das alte. Allerdings trage es dem Verhalten heutiger Wähler, die ihre Erst- und Zweitstimme gerne auf verschiedene Parteien verteilen, nur ungenügend Rechnung. Dieses Splitten kann zu einer drastischen Vergrößerung der Abgeordnetenzahl führen. Wenn das neue Gesetz bereits für die Bundestagswahl von 2009 gegolten hätte, säßen laut Fehndrich im derzeit noch amtierenden Bundestag 671 statt 598 Mandatsträger. Bei zukünftigen Wahlen sind 200 und mehr zusätzliche Sitze nicht unwahrscheinlich.

Zu dieser Aufblähung kommt es, weil Überhangmandate einer Partei durch Ausgleichsmandate für alle anderen ausgeglichen werden. Wie Fehndrich zeigt, ist der Effekt bei kleinen Parteien besonders eklatant. Eine Fünf-Prozent-Partei schleppt pro Überhangmandat, das sie erringt, zur Wiederherstellung des Proporzes 19 Angehörige anderer Parteien mit ins Parlament.

Des weiteren kritisiert Fehndrich, dass das neue Wahlgesetz überaus unklar formuliert sei. Selbst die verantwortlichen Sachpolitiker hofften, wie er schreibt, dass wenigstens der Bundeswahlleiter es verstanden habe.

Hintergrund: Die Probleme im deutschen Wahlsystem beruhen auf dem Versuch, zwei unterschiedliche Prinzipien in Einklang zu bringen:
– Personenwahl: Die Hälfte aller Bundestagssitze soll an diejenigen gehen, die in einem der (zurzeit 299) Wahlkreise die Mehrheit der Erststimmen erhalten ("Direktmandat");
– Verhältniswahl: Die Anzahl aller Sitze für eine Partei soll ihrem Zweitstimmenanteil proportional sein ("Proporz").

Erschwerend kommt hinzu, dass beide Forderungen nicht nur für den gesamten Bundestag, sondern für jedes Bundesland einzeln erfüllt werden sollen. Um diesen Konflikt zu lösen, nimmt das neue Gesetz in Kauf, dass die Inhaber der Direktmandate weniger – möglicherweise weit weniger – als die Hälfte der Abgeordneten stellen.

Abdruck honorarfrei bei Quellenangabe: Spektrum der Wissenschaft, September 2013
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