Chemische Evolution: Das Henne-Ei-Problem von der Entstehung des Lebens
So viel ist klar: Leben ist nichts als eine kurze, regelmäßig aus sich selbst heraus wiederholte Phase geordneter chemischer Reaktionen auf engem Raum; diesen nennt man dann gewöhnlich "Lebewesen"; im einfachsten Fall auch schlicht "Zelle". Kein Mensch weiß heute, wie dieses Leben irgendwann einmal anfangen konnte. Denn: Woher kamen eigentlich die chemischen Werkzeuge, die alle Bausteine der Zelle sowie ihren Werkzeugkasten selbst zusammensetzen – und die Bauanleitung noch dazu? Zudem: Die Werkzeuge sorgen ja erst für die Energie, die zum Betrieb der Zelle nötig ist; und nur so sorgen sie auch dafür, dass sie selbst gebaut und einsatzbereit gemacht werden. Wie konnte der komplizierte Prozess also einst einmal starten?
Die billigste Erklärung lässt alle Werkzeuge und die nötige Chemie oder gar schon fertiges Leben vom Himmel fallen und verlagert das Problem damit ins Extraterrestrische. Alle anderen Antworten brauchen Fantasie, auch die neueste von Markus Ralser und seinen Kollegen.
Sie finden, dass auch sehr komplizierte chemische Reaktionen, mit denen Zellen heute Energie produzieren, schon in den noch unbelebten Urozeanen unserer Erde hatten ablaufen können. Das entstehende Leben – Zellen und ihre Werkzeuge, die Enzyme – hätten sich diese Reaktionen dann "nur noch" einverleiben und zu nutze machen müssen. Die Autoren begeben sich damit in eines von zwei gegensätzlichen wissenschaftlichen Lagern, die über den Beginn der biochemischen Evolution streiten: Ihre Seite meint, es gab zuerst spontan ablaufende chemische Reaktionen und dann erst Zellen und Zellwerkzeuge. Die andere Seite postulieren dagegen eine frühe RNA-Welt – die selbstständige Entstehung eines selbstreplizierenden und Information speichernden Werkzeugs, eines RNA-Ribozyms, gilt hier als entscheidender erster Schritt.
Zum Beweis ihrer Vorstellung hatten Ralser und Co nun nach allen Regeln der Kunst und den neuesten Erkenntnissen einen Urozean mit allerlei Zutaten bei rund 70 Grad Celsius simuliert – und mit modernster Technik analysiert, was in ihrer neuen Variante des klassischen Miller-Experimentes biochemisch so passiert war. Das erstaunliche Ergebnis: Auch ganz ohne das Zutun moderner Enzyme laufen sehr komplizierte Stoffwechselketten wie etwa die Glykolyse ab. Die Glykolyse, eine Folge von zehn Reaktionen, ist ein Kernelement im Stoffwechsel des Lebens: Sie produziert ATP, die Energiemolekülwährung aller Zellen und Bausteine für andere Zellbestandteile. Eine modernen Zelle braucht allerlei speziell aufeinander abgestimmte Proteinwerkzeuge, um die Glykolyse ablaufen zu lassen. Und doch: Die Analysen zeigen, dass die Reaktionskette auch schlicht im warmen Urozean spontan hätte ablaufen können: Alle möglichen chemischen Zwischenstationen auf dem Abbauweg vom Ausgangsprodukt Glukose-6-Phosphat bis zum Endprodukt Pyruvat fanden die Forscher.
Und dies vor allem, so Zusatzexperimente, wenn Eisen als Katalysator mitmischt: Während in mit Zuckerphosphaten angeimpftem Wasser schon einige der Glykolyseprodukte entstehen, liefen im künstlichen erwärmten Urozean und der Gegenwart von Eisen(II) fast alle Reaktionen ab, die nötig sind. Demnach sei durchaus vorstellbar, dass zuerst ein "primordiales metabolisches Netzwerk" – also eine ganze Reihe wesentlicher, ineinander greifender Stoffwechselprozesse – auf der frühen Erde existiert hat. Aus ihm speisten sich dann die Grundbausteine von Molekülen wie der RNA, die schließlich Informationsspeicher und Enzyme wurden.
Kritiker bleiben skeptisch. So müsse zum Beispiel geklärt werden, wie die Ausgangsstoffe der Glykolyse, die von Ralser und Co hergestellt und zugemischt wurden, auf der Urerde hätten entstehen können. Es sei zudem nötig, diese verschiedenen Ausgangsstoffe und Produkte in einem hochkonzentrierten Gemisch eng beieinander zu halten, damit am Ende alle Reaktionen auch ablaufen. Mit diesem Problem hatten auch vorher schon viele Theorien gekämpft: Man vermutete zum Beispiel, dass die ersten biochemisch relevanten Moleküle sich in Hydrothermalquellen, Schlammvulkanen, Eisklumpen oder Tonmineralen konzentriert haben könnten. Anders gesagt: Man hat noch keine Ahnung.
Viele Experten meinen deshalb auch, dass noch vor den Werkzeugen oder den Stoffwechselreaktionen ein Reaktionsraum existiert haben muss – eine Art Protozelle, in der "das Leben" sich dann entwickeln konnte.
Quelle: Mol. Syst. Biol. 10: 725, 2014.
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