Direkt zum Inhalt

Kolumnen: Drunten

Tür

Manche freilich müssen drunten sterben,
wo die Ruder der schweren Schiffe streifen.
Andere wohnen beim Steuer droben,
kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
(Hugo von Hofmannsthal: "Manche freilich")


Dass die Alltagsrealität eine dünne Tünche ist, die wir über die mürben Tapeten an den Wänden unserer Psyche kleistern, dass die Dielen der Realität, mit denen wir unsere Seelenräume auslegen, morsch und brüchig sind, dass unter ihnen ein dunkler Abyssus gähnt – das ist eine der Einsichten, die melancholisch machen kann. Oder für die eben der Melancholiker prädestiniert ist.

Es geht hier nicht um den objektiven Wahrheitsgehalt der Wahrnehmungsweise des Schwermütigen. Es geht vielmehr darum, diese Wahrnehmung zu illustrieren und zu kommentieren. Sie ist, wie ich denke, eine Voraussetzung für das, was man an der melancholischen Denkungsart mitunter schätzt: ihren Tiefgang, der um den Abgrund unter den dünnen Dielen weiß. Und wenn sie ihn konstruieren müsste, diesen Abgrund.

Denn der Melancholikus – anders als der Depressive – will fallen, will die Abgründe durchmessen. Der Depressive aber wird hineingestürzt. Ein anderes Bild: Melancholie ist wie Bungeejumping. Wenn es gut geht, kommt man mit einer Geschichte mehr wieder hoch. Depression ist Bungeejumping ohne Gummiseil. In beiden Fällen aber ist der Abgrund bodenlos.

Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, zusammen mit einem Fotografen – dem Herrn Hans-Joachim Herr – in solch einen Abgrund hinabzusteigen. Die mentalen Dielen, die den echten Melancholikus von diesen Unterwelten trennen, sind, wie man im Folgenden hoffentlich bemerkt, sehr brüchig. Aber die wirklichen Wände, die diese Räume von unserer Welt abschotten, sind sehr dick. Fünf Meter bester Stahlbeton, aus einer untergegangenen Zeit, die 1000 Jahre dauern sollte. Es ist ein Bunker, weit weg von hier.

Die Pforten meiner melancholischen Reise.

Tür |

If the doors of perception were cleansed,
everything would appear to man as it is – infinite.
(William Blake / Aldous Huxley)

Mag sein. Aber wenn man Türen nur lange genug sich selbst überlässt, dann kann man sehen, dass nicht nur hinter Türen Räume und Wirklichkeiten sind. Selbst in den Türen sind sie. Eine Tür kann sich in sich selbst im Zerfall blättrig öffnen und lauter Zwischenwelten frei legen, die eine blank geputzte ("cleansed") Tür nie zeigen würde. Doors beyond Huxley, gates beyond Blake – Türen, die in sich selber führen.

Stuhl |

... die abstrakten Worte,
deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß,
um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben,
zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.
(Hugo von Hofmannsthal: "Chandos-Brief")

Hinein zwischen die Türen. Zwischen die Stühle, die niemand mehr besitzt und die – im mürben Zerfall – Platons lichte, abstrakte Ideenwelt in Frage stellen. Gehorcht das noch der Idee des Stuhls? Oder ist es nicht etwas anderes, ganz Unerhörtes, das da zu einer Gestalt kommen will, für die ich keinen Namen habe? Ist das nicht ein Stuhl, der die Idee, einer sein zu müssen, gerade abschüttelt? Wird hier nicht gerade selbst die Idee des "Besitzens" (eines Stuhls, des Besitzens einer Idee von ihm, ja des "Sichniedersetzens" selbst) modrig ad absurdum geführt?

OP |

Esse est percipi.
("Sein heißt, wahrgenommen zu werden.")
(George Berkeley)

Weiter. Durch Räume, deren Einrichtung der Beobachtung dienten, die nun aber selbst den Eindringling zu beobachten scheinen. Fünffach argusäugig – oder sind es fünf Zyklopen, die hier gemeinsam ihr Reich bewachen? Und wenn das Sein auf der Gegenseitigkeit des Wahrgenommenwerdens beruht – was nehmen diese fünf Zyklopen von mir wahr? Und wer hat den oben links, dessen Auge in trübem, opakem Blau dämmert, geblendet? Ich? Niemand?

Locus |

Aer sit mundus, habitabilis ac luminosus,
nec sit infectus, nec olens foetore cloacae.
("Die Luft möge sauber sein, angenehm und frisch,
und nicht schmutzig oder übelriechend vom Gestank der Kloaken."
("Regimen Sanitiatis Salerni", um 1200)

Weiter. Vorbei am Triumph des krummsinnigen Chronos über die zimperliche Hygieia. Regimen morborum, eine Anleitung zum Kranksein. Denn freilich ist das hier einst ein reinliches Krankenhaus gewesen; jetzt aber ist es sehr ungesund. Atemschutz.

Decke | Nur noch 101500 Jahre und das Zeitalter der Eisensterne wird angebrochen sein. In schwarzen Himmeln werden erloschene Sonnen hängen, eisig, eisern und einförmig, denn Eisen ist das eine Material, dem alle Vielheit der Dinge zustrebt.

Weiter, unter niedrigen, schwarzen, steinernen, weinenden Himmeln mit erloschenen Blechsonnen; der Rost der Stahlträger färbt die gefrorenen Tränen braun.

Keller |

Alles ist hohl und eine Totenmaske,
die man zerschlägt, und nichts ist dann darinnen.
Kein Atem und kein Blut, nur tönern Scherben,
und fädenziehend sitzen dicke Spinnen.

Dumpf wie ein Keller geh'n die Gänge immer,
Kein Wand'rer, der sich einer Lampe freuet, ...
(Georg Heym: "Umbra Vitae")

Weiter in Räume, in denen Fäden ziehende Wesen, denen man lieber nicht begegnen will, Spuren hinterlassen zu haben scheinen. Weiter.

"Come with me, I know the way" she says,
"It's down, down, down the dark ladder."
(Joni Mitchell: "Cold Blue Steel and Sweet Fire")

In die Tiefe, die dunklen Leitern hinunter. Das:

Nadir

war dann der Zenit. Oder besser: der Nadir. Was für ein Raum! Das düstere Seelengefängnis des Melancholikers als bildgewordene Bunkerwirklichkeit. Im Fluchtpunkt braunrostiger Eisenkessel und -rohre, dahin, wo das Auge gezogen wird, in der Bildmitte, erst Leere – und dann die Schemen eines Fensters, das aber weder einen Ausblick zulässt noch zur Belichtung der Lage beiträgt. Vergittert. Ein Fenster, das betrügt, das ein Irgendwo vorgaukelt, wo ein Nirgendwo ist.

Fahles Licht von links, das von noch weiter unten zu kommen scheint. Licht, das selbst so verrottet wirkt wie das, was es beleuchtet. Das Licht selbst hat die Konsistenz der Dinge, die es illuminiert, angenommen. Träge. Schwer. Abgestanden. Müde. Dieses Licht, wenn man es schmecken könnte, es schmeckte schal, wie Rostbrühe. Da unten links, da wo es herkommt, geht es irgendwie weiter ...

Cold Blue Steel and Sweet Fire
Fall into Lady Release
"Come with me I know the way" she says
"It's down, down, down the dark ladder
Do you want to contact somebody first
I mean what does it really matter
You're going to come now
Or you're going to come later."

... oh, ja, ich komm' wieder. Ein andermal, ein letztes Mal dann. Noch weiter nach unten geht immer.


Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Hans-Joachim Herr ist freier Fotograf in Kronberg im Taunus.

Schreiben Sie uns!

1 Beitrag anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.