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Fullerene. Die Buckyballs erobern die Chemie

Birkhäuser, Berlin 1994.
248 Seiten, DM 59,80.

Zehn Jahre nach ihrer Entdeckung und fünf Jahre nach ihrer präparativen Zugänglichkeit mangelt es nicht an Stoff für ein Buch über Fullerene. Im Gegenteil: Kaum zuvor gab es über einen Gegenstand der chemischen und physikalischen Forschung einen derart rasanten Wissenszuwachs wie über die molekularen Formen elementaren Kohlenstoffs.

Obwohl die ausgeprägte Neigung von Kohlenstoffatomen, mit ihresgleichen Bindungen einzugehen, sowie die darauf beruhende Vielfalt der Kohlenstoffverbindungen schon lange bekannt sind, obwohl man wußte, daß Elemente wie Phosphor und Schwefel verschiedene molekulare und polymere Modifikationen (Allotrope) bilden können, hatte man sich lange Zeit kaum mit möglichen neuen Formen des Kohlenstoffs neben Graphit und Diamant befaßt. Dies änderte sich radikal, nachdem Eiji Osawa von der Technischen Universität Toyohashi (Japan) 1970 ein molekulares, aus Fünf- und Sechsringen in der Art eines Fußballs aufgebautes Kohlenstoffallotrop vorgeschlagen hatte und fünfzehn Jahre später Harold Kroto von der Universität von Sussex in Brighton und Richard Smalley von der Rice-Universität in Houston (Texas) diese Substanz bei der Laserverdampfung von Graphit entdeckten. Wolfgang Krätschmer vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik, der das Vorwort zum vorliegenden Buch geschrieben hat, und Donald Huffman von der Universität von Arizona in Tucson fanden 1990 schließlich ein Verfahren zur Darstellung der sogenannten Buckybälle in Gramm-Mengen (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1991, Seite 88, und Februar 1993, Seite 18).

Joachim Dettmann, Chemiker, freier Wissenschaftsjournalist und ständiger Mitarbeiter mehrerer Verlage, hat nun versucht, die "Fulleren-Story" in einer kohärenten und allgemein verständlichen Form niederzuschreiben.

Im ersten Teil des Buches stellt er dem Leser das Element Kohlenstoff unter diversen Aspekten vor. Der Beginn seiner wissenschaftlichen Erforschung und die Erkenntnis seiner elementaren Natur fallen ungefähr zusammen mit den Anfängen der Chemie als moderner Naturwissenschaft – einer Periode, über die bei der Lektüre einiges zu erfahren ist.

Dettmann beschreibt zunächst Vorkommen, Darstellung, Struktur, Eigenschaften und Verwendung der natürlichen Kohlenstoffmodifikationen Graphit und Diamant. Es folgt eine ausführliche Darstellung der Bindungsverhältnisse in Kohlenstoffverbindungen – zweifellos relevant für ein tieferes Verständnis der Materie, aber streckenweise etwas lehrbuchartig verfaßt und für das Folgende nicht zwingend erforderlich. Ähnliches gilt für die physikalisch-chemischen Aspekte der Phasenübergänge, auf denen wichtige Prozesse wie die Umwandlung von Graphit in den – auch technisch – wertvollen Diamant beruhen.

Die Fullerene, vor allem den Hauptvertreter C60, beschreibt Dettmann zunächst unter Gesichtspunkten wie Struktur, Bindungsverhältnisse und Stabilität. Die zwei- oder dreidimensionalen Kohlenstoffnetzwerke, von denen er einige vorstellt, sind zur Zeit noch hypothetisch und Gegenstand aktueller Forschung. Eine wichtige, wenn auch nicht elementare Erscheinungsform angereicherten Kohlenstoffs ist schließlich der Ruß, auf dessen Zusammensetzung, Produktion, Verwendung und Umweltrelevanz Dettmann eingeht. Allein diese ersten hundert Seiten enthalten eine Fülle an Erkenntnissen über die verschiedenen Erscheinungsformen des "Elements der Mitte", ohne trocken zu wirken oder gar den Eindruck einer Datensammlung zu erwecken. Für Auflockerung sorgen immer wieder Hinweise auf historische Entwicklungen oder Anwendungen.

Der wohl spannendste Teil des Buches ist die eigentliche Entdeckungsgeschichte der Fullerene, angefangen bei den ersten Kohlenstoffcluster-Untersuchungen von 1942 durch Otto Hahn (1879 bis 1968) und seine Mitarbeiter über die ersten theoretischen Überlegungen bezüglich C60 bis hin zu dessen (zunächst zufälliger) Erzeugung, Entdeckung, präparativer Darstellung und Strukturaufklärung. Aus Dettmanns Schilderung ist ersichtlich, daß nicht eine geradlinige, zielstrebige Suche, sondern ein Zusammenfügen einzelner Mosaiksteine, dank internationaler Kooperation zusammengetragen, im Heureka-Erlebnis gipfelte. Einmal mehr ist ein Meilenstein der Naturwissenschaften der interdisziplinären Grundlagenforschung zu verdanken.

Ein besonderes Merkmal der Fullerenstrukturen ist ihre Symmetrie, die sie zugleich ästhetisch reizvoll macht. Der Autor räumt dieser schon in der Antike systematisch untersuchten Eigenschaft natürlicher und künstlicher Formen, deren Faszination bis heute nicht nachgelassen hat, gebührenden Platz ein (Bild). Nach einem anschaulich gehaltenen Abstecher in die Gruppentheorie gelangt er über den Eulerschen Polyedersatz zum allgemeinen Strukturprinzip für geschlossene Polyeder. Damit hat der Leser das nötige geometrische Rüstzeug, um die Architektur der gesamten Fullerenfamilie (C60, C70, C76, C78 und so weiter), von zum Teil ineinander verschachtelten Kohlenstoffbällen und -röhren sowie von verwandten Strukturen anderer Zusammensetzung zu verstehen.

Die Chemie der Kohlenstoffmoleküle, die sich in den vergangenen fünf Jahren stürmisch entwickelt hat, wird auf den letzten zwanzig Seiten vielleicht etwas knapp behandelt. Dies gilt vor allem für die zahlreichen Additionsreaktionen an die Außenhaut der Fullerene, von denen Dettmann nur einige einfache Beispiele bringt. Durch den Einbau von Fremdatomen wie Bor und Stickstoff verändert sich die Fullerenoberfläche; in einem sogenannten endohedralen Komplex kann der Käfig ein Metall- oder Edelgasatom einschließen. Die Festphasen, in denen Metallatome in Lücken der aus Fullerenkugeln bestehenden Kristallpackung eingelagert sind, haben von Dettmann den etwas unglücklichen Namen "exohedrale Komplexe" erhalten; wegen ihrer Supraleitfähigkeit kommt ihnen großes Interesse zu.

Beim Aufzeigen von Analogien und Unterschieden zwischen C60 und Benzol, einem anderen fundamentalen Baustein der Chemie, wird leider auch in diesem Buch ein wichtiger prinzipieller Unterschied vernachlässigt: Im Gegensatz zu Benzol können Fullerene aufgrund ihrer elektronischen Struktur ausschließlich Additionsreaktionen und keine Substitutionen eingehen. Daraus folgt nicht nur eine grundsätzlich verschiedene chemische Reaktivität beider Stoffe; es werden auch das Elektronensystem und damit die Eigenschaften des Balls durch jede Reaktion grundlegend verändert. Während bei Abkömmlingen des Benzols die charakteristische aromatische Grundstruktur erhalten bleibt, werden mit zunehmender Funktionalisierung der Fullerene immer mehr Doppel- in Einfachbindungen umgewandelt, was sich optisch durch Farbänderungen bemerkbar macht.

Positiv zu bewerten sind die Hinweise auf potentielle Anwendungen von chemisch modifizierten Kohlenstoffkugeln, wobei Dettmann durch eine realistische Sichtweise übertriebenen Hoffnungen keinen Raum läßt, aber dennoch zeigt, daß bei aller Freude an Symmetrie und Ästhetik die Fullerenforschung auch von praktischem Nutzen sein kann.

Insgesamt gibt das Buch einen sehr guten Überblick über dieses noch junge, sich aber rasant entwickelnde Gebiet sowie dessen Einbettung in das weite Umfeld der Kohlenstoffchemie. Dadurch, daß viele Themenschwerpunkte mehrmals unter immer neuen Gesichtspunkten aufgegriffen werden, erhält man einen guten Einblick in die Zusammenhänge. Viele der eingeführten Konzepte werden ausführlich und anschaulich erläutert; somit dürfte das Werk eine breite naturwissenschaftlich interessierte Leserschaft ansprechen. Es enthält zahlreiche Originalabbildungen, eine (nicht umfassende) Liste von Literaturzitaten und eine Auswahl weiterführender Literatur. Die vielen Fußnoten liefern nützliche Angaben zu Personen oder Begriffen. Von ein paar Detailfehlern abgesehen, enthält das Buch eine Fülle an fundierter wissenschaftlicher Information und ist überdies spannend zu lesen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 115
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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