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Wo der innere Schweinehund wohnt

Teresa Koschwitz
Homo faulis ist soeben aufgestanden. Nachdem die Snooze-Funktion des Weckers bereits fünfmal ihren Dienst getan hat, rappelt er sich endlich auf. Seine Aufgabe heute: Lernen für die Prüfung in drei Wochen. Aber drei Wochen sind noch so lang hin, bis dahin kann er sich getrost noch ein paar Folgen seiner Lieblingsserie anschauen. Irgendwo im Hinterkopf meldet sich zwar ein leises Stimmchen: "Du musst lernen, sonst wird alles wieder viel zu stressig." Aber mit einem Drücken auf die Starttaste des DVD-Players ist es wie weggeblasen. "Lernen kann ich immer noch heute Abend."

Weil Homo faulis nicht alle Konsequenzen seiner Entscheidungen rational erfassen kann, muss er aus dem Bauch heraus entscheiden. Dann aber übernimmt die stärkste Emotion die Kontrolle – und genau die stellt sich bei Homo faulis ein, wenn er an langes Schlafen und Fernsehen denkt. "Das Gefühl, später Ärger zu bekommen, wirkt weit schwächer als der Reiz zur kurzfristigen Lustmaximierung", erklärt Dr. Johannes Hewig, der als klinischer Psychologe an der Universität Jena das Entscheidungsverhalten von Menschen erforscht. Gerade auch bei Homo faulis: Die warnende Stimme ist so leise, dass sie im Seriengeschehen untergeht. Und kaum wird sie lauter, klingelt auch schon das Handy: "Hey, wir gehen heute Abend aus, und wenn du nicht mitkommst, dann bist du ein Waschlappen!" Das lässt sich Homo faulis nicht zweimal sagen und amüsiert sich mit seinen Freunden.

Absicherung aus der Gruppe

Und das passt genau zu seinem Charakter. Denn schon immer war der Homo faulis wie sein Gattungsgenosse Homo sapiens ein Gruppentier. Bei jeder Entscheidung muss er abwägen, ob sein eigener Vorteil überwiegt oder der der Gemeinschaft. Hier entscheidet er sich für den Vorteil der Gruppe, nämlich den gemeinsamen Spaß – und entgeht dabei auch noch der unangenehmen Beschäftigung. Außerdem braucht er die Absicherung aus der Clique. Hewig begründet: "Dabei geht es um Belohner und Verstärker im sozialen Kontext. Wenn eine Handlung von der sozialen Gruppe anerkannt wird, so motiviert das, weiterhin so zu handeln. Die Anerkennung aus der Gruppe bringt positive Emotion."

Deshalb entschließt sich Homo faulis auch in den nächsten Tagen, mit seinen Freunden zu feiern und nicht zu lernen. Danach ist der Schädel sowieso zu dick zum Büffeln, und so kommt Eins zum Anderen.

Erst eine Woche vor der Prüfung beginnt Homo faulis, sich richtig reinzuknien. Das hat mit dem so genannten Discounting-Effekt zu tun, erklärt Hewig. Je näher die Prüfung rückt und damit die Möglichkeit, sie zu vermasseln, desto stärker wirkt die Aussicht auf Bestrafung: Die Angst vor dem Durchfallen wird größer als die Vorfreude auf eine lustige Kneipentour mit den Freunden.

Diskontieren – eigentlich ein Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften – bedeutet so viel wie abwerten. Strafe oder Belohnung werden dadurch abgewertet, dass sie fern in der Zukunft liegen. Stehen sie kurz bevor, lösen sie viel größere Angst oder Freude aus.

Homo faulis schafft die Prüfung ganz knapp. "Nächstes Mal fange ich früher an zu lernen", denkt er sich und gleichzeitig auch: "Na, es ging ja auch so..." Homo faulis hat aus seinem Verhalten leider das Falsche gelernt, dass er damit nämlich durchkommt. Wenn er aber durch intensiveres Lernen eine bessere Note geschrieben hätte, würde er sich wohl beim nächsten Mal auch mehr anstrengen. Anscheinend hat er das aber bereits früher nicht getan: "Für längerfristige Ziele wie den Schulabschluss muss man auf seine bisherige Lebenserfahrung bauen. Wenn man bereits festgestellt hat, etwas lohnt sich auf längere Sicht, dann strengt man sich auch eher dafür an. Mit emotionalen Entscheidungen liegt man häufiger richtig für kurz- und mittelfristige Zeiträume, also Tagen oder Wochen", erläutert Hewig. Für den Spaß in den letzten Wochen hat Homo faulis richtig gelegen, sein langfristiges Ziel hat er aber beinahe verpasst.

Ein Freund für Homo faulis

Hätte Homo faulis einen Freund, den Homo agilis, der ihm vorlebt, wie man richtig lernt, hätte er vielleicht mehr Erfolg. "Auch das Beobachtungslernen spielt eine große Rolle. Schon sehr kleine Kinder lernen von den Erfahrungen, die ihnen vorgelebt werden." Wenn es Homo agilis sehr gut mit seinem Freund meint, dann schaut er auch nicht böse, wenn dieser einmal nicht lernt, sondern lobt ihn fürs Durchhalten und belohnt ihn mit – zum Beispiel – Schokolade. "Belohnung wirkt in allen Situationen stärker als Bestrafung", sagt Hewig. Liegt die Belohnung in Form einer bestandenen Prüfung also zu weit weg, kann man mit einer kurzfristigen Belohnung nachhelfen.

Homo agilis führt selbst ein ganz anderes Leben. Er springt morgens nach dem ersten Klingeln aus dem Bett und geht frisch ans Werk, denn er hat am Abend vorher Zeit investiert und einen Lernplan für den Tag erstellt. Klingelt sein Handy, überlegt er zwar lange hin und her, entscheidet sich schließlich aber schweren Herzens gegen den Kinobesuch. Er lernt den ganzen Tag, ist aber abends dennoch nicht zufrieden. Hätte ich nicht lieber noch ein Kapitel zusammenfassen sollen? War das jetzt genug zu diesem Thema? Die Prüfung besteht er mit einer Eins minus, na immerhin. Nächstes Mal will er noch mehr aus sich herausholen.

Homo agilis ist also erfolgreicher in seinem Leben, aber nicht unbedingt glücklicher. Seinen Erfolg erklärt der Neurologe Dr. Bernd Weber von der Universität Bonn. Er erforscht gemeinsam mit Wirtschaftswissenschaftlern und mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie das Entscheidungsverhalten von Geldanlegern: "Selbstkontrolle ist wahrscheinlich einer der wichtigsten Faktoren für Erfolg im Leben."

Dass Homo agilis im Leben besser zurecht kommt, zeigt auch sein Essverhalten. Selbst wenn ihm seine Lust auf Süßigkeiten die Sinne vernebelt, versagt er sich den Genuss, denn er will auf seine Linie achten. In ihm – wie in jedem Menschen – kämpfen stets zwei Präferenzen gegeneinander an: das Jetzt gegen das Später. Das Besondere bei Homo agilis ist nur, dass er sich eher für das Später entscheidet. Die Entscheidung fällt im präfrontalen Kortex. "In dieser Hirnregion liegt vermutlich auch das Areal für die Selbstkontrolle", erklärt Weber. "Wer sich häufiger für die Zukunft entscheidet und seine akuten Wünsche unterdrückt, um später einmal ein besseres Dasein zu haben, ist vielleicht insgesamt besser dran."

Zufriedenheit ist nicht gleich Erfolg

Ob jedoch Homo agilis oder Homo faulis mit ihren Entscheidungen zufriedener sind, hängt wohl nicht nur mit ihrem objektiven Erfolg zusammen. Mit welchen Entscheidungen Menschen besser leben können, hat auch etwas mit Spontaneität zu tun. "In einer Studie durften sich zwei Probandengruppen Poster aussuchen, die eine spontan, die andere musste ihre Wahl begründen. Später zeigte sich die spontane Gruppe zufriedener mit ihrer Wahl. Es scheint, als wäre es in einigen Situationen sinnvoller, auf das Bauchgefühl zu hören", sagt Weber. Dass sich das Lebensglück dadurch steigern lässt, ist vielleicht übertrieben, aber vielleicht können Homo agilis und Homo faulis einander das Leben trotzdem etwas schöner gestalten. Homo faulis würde bessere Noten schreiben und müsste nicht immer das leise Stimmchen mit dem lauten Fernseher übertönen, wenn er gemeinsam mit Homo agilis lernte. Der wiederum wäre vielleicht mit einem spontanen Kinobesuch gemeinsam mit einem Freund glücklicher als mit einer Eins plus, die er mit niemandem teilen kann.

Rowena Zehnder studiert Wissenschaftsjournalismus an der Hochschule Darmstadt und sucht manchmal verzweifelt nach einem Würgehalsband für ihren inneren Schweinehund.

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