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Der Mathematische Monatskalender: Ehrenfried Walter Graf von Tschirnhaus (1651–1708)

Grundlage und Ausgangspunkt jeglicher Philosophie ist für Tschirnhaus die Erfahrung. Davon lässt er sich auch durch mathematische Fehler nicht abbringen.
Ehrenfried Walter Graf von Tschirnhaus (1651–1708)

Im Juni 1696 stellte Johann Bernoulli, Professor in Groningen, in den in Leipzig erscheinenden Acta Eruditorum den "scharfsinnigsten Mathematikern des ganzen Erdkreises" das folgende Problem: Wenn in einer verticalen Ebene zwei Punkte A und B gegeben sind, soll man dem beweglichen Punkte M eine Bahn AMB anweisen, auf welcher er von A ausgehend vermöge seiner eigenen Schwere in kürzester Zeit nach B gelangt.

Gesucht ist also die so genannte Brachistochrone (brachistos = kürzeste, chronos = Zeit). Auch nach Verlängerung der Einreichungsfrist zeigte sich, dass nur wenige Mathematiker in der Lage waren, das Problem zu bewältigen: Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Bernoullis Bruder Jakob (der das Problem gleichzeitig noch verallgemeinerte), Isaac Newton (der seine Lösung anonym einreichte, aber an der Art des Lösungsverfahrens erkennbar war – ex ungue leonem, den Löwen von der Pranke her, wie Johann Bernoulli feststellte), Guillaume François Antoine de l'Hôpital und Ehrenfried Walter Graf von Tschirnhaus.

Tschirnhaus war 1651 in Kieslingswalde (Oberlausitz, heute Sławnikowice) als Sohn eines sächsischen Adligen zur Welt gekommen und von Privatlehrern erzogen worden, bevor er im Alter von 15 Jahren am Gymnasium im benachbarten Görlitz auf den Besuch der Universität vorbereitet wurde.

Von 1668 an studiert Tschirnhaus an der Universität zu Leiden die Fächer Mathematik, Philosophie, Physik, Medizin und Jura und nimmt Privatunterricht bei Pieter van Schooten, der ihn in die Mathematik und Philosophie von René Descartes einführt. Sein Studium wird 1672 durch den Überfall Ludwigs XIV. auf die Niederlande unterbrochen (Holländischer Krieg, 1672 – 1678).

1674 wird Tschirnhaus durch seinen Schulfreund Pieter van Gent in den Gesprächskreis des Philosophen und Religionskritikers Baruch de Spinoza in den Haag eingeführt, dessen Tractatus theologicopoliticus durch Intervention der Kirche erst kurz zuvor verboten worden war. Mit einem Empfehlungsschreiben Spinozas reist er nach England und lernt über den Sekretär der Royal Society, Henry Oldenburg, unter anderem Robert Boyle, John Wallis und Isaac Newton kennen.

Dann reist Tschirnhaus weiter nach Paris, wo er Christiaan Huygens und Gottfried Wilhelm Leibniz begegnet. Leibniz ermöglicht ihm den Einblick in noch nicht veröffentlichte Schriften von René Descartes, außerdem in die hinterlassenen Papiere von Blaise Pascal (gestorben 1662) sowie von Gilles Personne de Roberval (gestorben 1675).

Fasziniert ist Tschirnhaus von den Experimenten, die der Ingenieur und Feuerwerksexperte François Villette mit Brennspiegeln durchführt, und er entwickelt eigene Ideen dazu. – Weiter führt die Reise über Lyon, Turin, Mailand, Venedig und Bologna nach Rom, und dann wieder zurück über Paris, den Haag und schließlich nach Hannover, wo Leibniz mittlerweile seinen Dienst als Hofrat des Herzogs Johann Friedrich angetreten hat. Nach Rückkehr auf seine Güter in Kieslingswalde experimentiert Tschirnhaus mit kugelförmigen und paraboloidartigen Spiegeln.

Bei einer erneuten Reise nach Paris wird er zum Mitglied der Académie des Sciences gewählt; allerdings erfüllt sich seine Hoffnung nicht, dass damit eine lebenslange Rente des französischen Königs verbunden wäre. So kehrt er wieder nach Sachsen zurück und heiratet die Tochter eines einflussreichen Mitglieds des kurfürstlich-sächsischen Hofs. Während sich seine Frau um die Verwaltung der Güter kümmert, setzt er seine wissenschaftlichen Studien fort. Von 1682 bis 1699 veröffentlicht er (vor allem, um Prioritätsansprüche anzumelden) insgesamt 22 Beiträge in den Acta Eruditorum, darunter Zwischenergebnisse seiner Forschungen über Brennspiegel, aber auch seine Ideen zur allgemeinen Lösung von Gleichungen höheren Grades.

Als Tschirnhaus einen neuen Weg findet, wie man Gleichungen 3. Grades durch eine geeignete Substitution (heute als Tschirnhaus-Transformation bezeichnet) lösen kann, ist er der Überzeugung, dass diese Methode allgemein anwendbar ist, und, obwohl Leibniz ihn ausdrücklich auf Fehler aufmerksam macht, veröffentlicht er 1683 einen Beitrag, in dem er behauptet, ein Lösungsverfahren für beliebige Gleichungen \(n\)-ten Grades gefunden zu haben. Dass man in der allgemeinen Gleichung \(\ x^n +a_{n−1}x^{n-1} + a_{n-2}x^{n−2} +... +a_1x^1 +a_0 =0\ \) durch die Substitution mit \(\ y =x+ \frac{a_{n−1}}{ n}\ \) den Koeffizienten der zweithöchsten Potenz eliminieren kann, ist schon länger bekannt.

So kann zum Beispiel eine allgemeine kubische Gleichung \( \ x^3 + a_2 x^2 +a_1 x + a_0 =0\ \) auf die reduzierte Form \(\ y ^3 + b_1 y + b_0 = 0\ \) gebracht werden. Genial ist aber Tschirnhaus' trickreiche Methode, auch den linearen Term zu eliminieren, sodass nur noch eine Gleichung vom Typ \(\ z^3 + c = 0\ \) zu lösen ist. Dieses Verfahren funktioniert zwar bei Gleichungen 3. Grades, wird bei Gleichungen 4. Grades jedoch äußerst unübersichtlich und lässt sich bei Gleichungen höheren Grades nicht mehr anwenden.

1686/87 veröffentlicht Tschirnhaus zwei Werke, die mehrfach neu aufgelegt werden (Medicina Corporis und Medicina Mentis – der Begriff Medicina steht hier allgemein für Philosophie); in der Ausgabe von 1695 ergänzt er den Titel durch den Zusatz Artis inveniendi praecepta generalia (Allgemeine Regeln zur Erfindungslehre). Für Tschirnhaus steht am Anfang allen Philosophierens die Erfahrung – sie ist die Grundlage und Ausgangspunkt jeder Erfindung (Wahrheitsfindung). Diese Methode, zu Erkenntnissen zu kommen, ohne kausale Zusammenhänge aufzudecken, führt ihn mehrfach in die Irre (nicht nur wie im oben angeführten Beispiel in der Mathematik).

Bei seinen Experimenten mit Brennspiegeln übertrifft Tschirnhaus alle seine Vorgänger. 1686 baut er einen Sonnenspiegel aus silberhaltigem Kupfer mit einem Durchmesser von 1,63 Metern und einer Brennweite von 1,13 Metern. Hiermit ist er in der Lage, Temperaturen von über 1400 Grad Celsius zu erzeugen. In den folgenden Jahren beschäftigt er sich auch mit der Herstellung von größeren Brennlinsen, die er in benachbarten Glashütten gießen lässt. Nach und nach verbessert er die Qualität der optischen Gläser.

Ab 1692 hat er als Leiter der Laboratorien des sächsischen Kurfürsten genügend finanzielle Mittel für seine Forschungen. Insbesondere interessiert er sich für die Herstellung von weißem Porzellan, für das eine wachsende Nachfrage besteht – vor allem, weil es für Angehörige des Adels wichtig ist, den eigenen Reichtum durch Sammlungen von besonderen Glasgefäßen und chinesischem Porzellan zu zeigen. Um neue Absatzmärkte für Glas und Halbedelsteine zu erkunden, reist Tschirnhaus nach Delft und besichtigt die dortigen Fayence-Manufakturen. In Paris versucht er Informationen darüber zu erhalten, wie dort sogenanntes Weichporzellan hergestellt wird.

Im Jahr 1701 war es Johann Friedrich Böttger, einem 19-jährigen Angestellten einer Apotheke in Berlin, angeblich gelungen, Silber in Gold zu verwandeln. Einer Vorladung zum Hof des preußischen Kurfürsten entgeht er durch Flucht nach Sachsen. Dort wird ihm ein alchemistisches Laboratorium eingerichtet, wo er "zur eigenen Sicherheit" unter Bewachung seine Experimente fortsetzen darf. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wird er 1704 Tschirnhaus unterstellt: Dieser kann den ursprünglichen Befehl an Böttger, Gold herzustellen, umwandeln: Gemeinsam sollen sie nun die Herstellung von Porzellan erforschen. Auf der Suche nach geeigneten Rezepturen gelingt ihnen im Sommer 1708 der Durchbruch mithilfe des im Erzgebirge gefundenen Kaolins (sogenannte Porzellanerde). August II. (der Starke) ernennt Tschirnhaus zum Direktor der zu gründenden Porzellanmanufaktur, aber bevor dieser tätig werden kann, stirbt er an den Folgen einer Ruhr-Erkrankung.

Der Nachlassverwalter Melchior Steinbrück findet in den Papieren von Tschirnhaus wichtige Hinweise, die es seinem Schwager Böttger schließlich ermöglichen, dem sächsischen König die Erfindung des europäischen Porzellans zu verkünden. 1710 wird auf der Albrechtsburg in Meißen eine Produktionsstätte eingerichtet und bereits 1713 auf der Messe in Leipzig das erste Meißener Porzellan verkauft.

Ehrenfried Walter Graf von Tschirnhaus (1651–1708)

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