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Der Mathematische Monatskalender: Johann Bernoulli (1667–1748)

Die Brüder Bernoulli fordern einander mit Aufgaben zur Variationsrechnung hinaus.
Johann Bernoulli (1667–1748)

Johann Bernoulli wird als zehntes Kind von Nicolaus und Margaretha Bernoulli in Basel geboren. Johann tritt im Alter von 15 Jahren in das Unternehmen des Vaters ein. Aber der angesehene Gewürzhändler muss nach einem Jahr einsehen, dass sich der dritte Sohn nicht für den Beruf eines Handelskaufmanns eignet. So findet er sich schließlich damit ab, dass Johann ein Medizinstudium aufnimmt.

Johanns zwölf Jahre älterer Bruder Jakob hatte auf Wunsch der calvinistischen Eltern die Fächer Philosophie und Theologie studiert; er war jedoch eigentlich eher an mathematischen und physikalischen Fragestellungen interessiert. Nach dem Examen als Theologe verdient sich Jakob Bernoulli seinen Lebensunterhalt als Privatlehrer in verschiedenen Ländern Europas. 1683 kehrt er wieder nach Basel zurück und übernimmt an der Universität zunächst Vorlesungen in Experimentalphysik, ab 1687 den Lehrstuhl für Mathematik.

Dem Vorbild des Bruders folgend, wächst auch Johanns Interesse an Mathematik; vor allem sind es die Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz zur Analysis, in die sich dieser schnell und zunehmend selbstständig einarbeitet. Seine besondere mathematische Begabung wird auch für Außenstehende erkennbar, als er 1690 – etwa zeitgleich mit Christiaan Huygens und Leibniz selbst – ein Problem lösen kann, das sein Bruder Jakob als Herausforderung an die Mathematiker Europas gestellt hatte:

  • Welche Kurve nehmen die Glieder einer (idealen) Kette ein, die an ihren beiden Enden befestigt ist und nur dem Einfluss der Schwerkraft unterliegt?

Diese sogenannte Kettenlinie lässt sich mithilfe der Funktionsgleichung beschreiben: \(y=\frac{a}{2}\cdot(e^{\frac{x}{a}} + e^{-\frac{x}{a}})=a\cdot \text{cosh}\left(\frac{x}{a}\right) \). In der unteren Graphik ist \(a=0{,}5.\)

Trotz dieses Erfolgs schließt Johann Bernoulli zunächst sein Medizinstudium ab, geht dann nach Genf, wo er Vorlesungen über Differenzialrechnung hält, und reist weiter nach Paris. Hier erklärt er sich bereit, wöchentlich vier Vorlesungen zur Infinitesimalrechnung im philosophisch-mathematischen Gesprächskreis des Mathematik-Professors Nicolas Malebranche zu halten. Zu den Teilnehmern gehört auch der vermögende Adlige Guillaume François Antoine de l'Hôpital, der ihm für die Erteilung zusätzlicher Privat-Lektionen zur Analysis ein großzügiges Honorar bezahlt.

Johann Bernoulli setzt diese private Belehrung auch nach seiner Rückkehr nach Basel in schriftlicher Form fort; als Honorar erhält er hierfür von l'Hôpital ein halbes Professorengehalt. Parallel zu seiner Doktorarbeit im Fach Medizin führt er auch eine rege Korrespondenz mit Leibniz über die Anwendbarkeit der Integralrechnung und verfasst zahlreiche Beiträge über die Ergebnisse seiner Untersuchungen. Das Verhältnis zu seinem Bruder Jakob verschlechtert sich, denn dieser erkennt die in manchen Aspekten überlegene Begabung seines jüngeren Bruders und sieht in ihm einen Konkurrenten. Und obwohl Johann beispielsweise zusammen mit seinem Bruder Jakob über das Phänomen der Kaustik (Phänomen der Bündelung von reflektierten Lichtstrahlen) forscht, veröffentlichen die beiden ihre Ergebnisse in getrennten Abhandlungen.

Nach Abschluss seiner Dissertation im Fach Medizin (1694) konzentriert sich Johann Bernoulli auf die Weiterentwicklung seiner mathematischen Ideen, beschäftigt sich unter anderem mit den Eigenschaften der Funktion mit \(y = x^x\) und entwickelt ein Verfahren zur Lösung von Differenzialgleichungen mithilfe von Richtungsfeldern: In Punkten des Koordinatensystems werden Tangenten, deren Steigung man aus der Differenzialgleichung berechnen kann, andeutungsweise eingetragen. So kann man schrittweise Graphen von Funktionen skizzieren, die eine gegebene Differenzialgleichung erfüllen.

Das Beispiel unten zeigt Graphen von Funktionen des Typs \(y=a \cdot e^{\frac{1}{2}x^2}\), welche die Differenzialgleichung \(y'=x \cdot y \) erfüllen.

Als es ihm sogar gelingt, über das Lösen von Differenzialgleichungen Additionstheoreme für trigonometrische und hyperbolische Funktionen herzuleiten, bieten ihm 1695 zwei renommierte Hochschulen, Halle und Groningen, einen Lehrstuhl für Mathematik an.

Hinter der Berufung an die niederländische Universität steht Christiaan Huygens, einer der führenden Mathematiker und Physiker des 17. Jahrhunderts, der jedoch stirbt, bevor Johann Bernoulli mit seiner jungen Familie die beschwerliche und nicht ungefährliche Reise (sie führt durch Kriegsgebiete) in den Norden der Niederlande auf sich nimmt.

Jetzt ist er endlich am Ziel: Vom Rang her ist er seinem Bruder gleichgestellt. Jakob reagiert regelrecht eifersüchtig auf die Erfolge seines Bruders, der seinerseits mit Provokationen nicht nachsteht. So stellt Johann 1696 an die Mathematiker Europas das berühmte Brachistochrone-Problem, dessen Lösung er herausgefunden hat.

  • Durch welche Kurve müssen zwei auf unterschiedlicher Höhe liegende Punkte miteinander verbunden werden, damit eine reibungsfrei gleitende Masse in kürzester Zeit beim unteren Punkt ankommt?

Fünf Mathematiker reichen Lösungen ein: Newton, Leibniz, l'Hôpital, Tschirnhaus und Jakob Bernoulli. Jakob, dessen Lösung zweifelsohne eleganter ist als die seines Bruders, fordert nun Johann mit einem Problem heraus:

  • Welche Form muss eine geschlossene Kurve mit gegebener Länge haben, damit diese Kurve die größtmögliche Fläche einschließt? (isoperimetrisches Problem)

Als Jakob öffentlich darauf hinweist, dass Johanns Lösung fehlerhaft ist, trägt dies nicht gerade zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen den Brüdern bei.

Ausgerechnet l'Hôpital ist es, der 1696 als Erster ein Buch zur Leibniz'schen Analysis veröffentlicht (Analyse des infiniment petits). Dies ärgert Johann sehr – vor allem, als er feststellt, dass l'Hôpital im Prinzip seine "Lektionen" veröffentlicht hat. Aber da er vertraglich zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, wagt er sich erst nach dessen Tod im Jahr 1704, hierauf hinzuweisen. Man glaubt ihm jedoch nicht, da er bereits einige Male Plagiatsvorwürfe gegen andere erhoben hatte.

Das Leben in den Niederlanden verläuft nicht ohne Schwierigkeiten: Mehrfach ist Johann Bernoulli in religiöse Dispute verwickelt, unter anderem wirft man ihm vor, nicht an die leibliche Wiederauferstehung zu glauben. Als 1705 die Nachricht von der ernsthaften Erkrankung seines Schwiegervaters eintrifft, beschließt er, nach Basel zurückzukehren, wo für ihn eine Stelle als Professor für Griechisch eingerichtet worden ist (was in der Praxis nicht bedeutet hätte, dass er Vorlesungen in Griechisch hätte halten müssen). In Basel angekommen, erfährt er, dass sein Bruder Jakob wenige Tage zuvor an Tuberkulose gestorben ist und dessen Lehrstuhl nunmehr frei ist.

In den folgenden Jahren erreichen ihn Angebote verschiedener Universitäten, aber er bleibt in Basel. Seine internationale Anerkennung zeigt sich an Ehrenmitgliedschaften der Akademien von Paris, Berlin, St. Petersburg, London und Bologna. Ab 1713 wird er durch Leibniz, der ihn als Zeugen benennt, auf das Heftigste in den Prioritätsstreit mit Newton verwickelt. Nach dem Tod der beiden Kontrahenten (1716 bzw. 1727) gilt Johann Bernoulli als der bedeutendste Mathematiker Europas ("Archimedes seiner Zeit"). 1742 gibt er seine gesammelten Schriften heraus.

Auf diesen Glanz fällt noch ein dunkler Schatten: Er empört sich darüber, dass er 1734 einen Wettbewerbspreis der Pariser Akademie mit seinem Sohn Daniel teilen muss. Dieser war 1733 (nach einer Tätigkeit als Mathematikdozent in St. Petersburg) nach Basel zurückgekehrt und hatte dort einen Lehrstuhl für Anatomie und Botanik übernommen. Als Daniel dann 1738 sein Werk Hydrodynamica veröffentlicht, bezichtigt Johann diesen des Plagiats und datiert zum Beweis hierfür das Erscheinungsdatum seines eigenen Buches zum gleichen Thema um sieben Jahre zurück. Leonhard Euler, dessen Begabung Johann Bernoulli früh erkennt und den er mit allen seinen Möglichkeiten fördert, scheint der Einzige gewesen zu sein, auf dessen Leistungen und Fähigkeiten er nicht eifersüchtig reagiert.

Johann Bernoulli (1667–1748)

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