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November 2013: Süchtig nach Essen

Neue Erkenntnisse könnten erklären, warum fett- und zuckerhaltige Nahrungsmittel dick machen – durch ähnliche Mechanismen nämlich, die auch bei Drogenabhängigkeit eine Rolle spielen.
Frau beisst in einen Burger

Würde eine Ratte den Tod riskieren, nur um ein Stückchen Schokolade zu fressen? Kürzlich habe ich es herausgefunden. In meinem Labor gaben wir Ratten uneingeschränkten Zugang zu ihrem normalen Futter. Zusätzlich boten wir ihnen aber auch äußerst appetitanregende, kalorienreiche Nahrungsmittel an: Wurst, Käsekuchen, Schokolade. Die Ratten verschmähten daraufhin ihr gesundes, aber »langweiliges« Standardfressen und bedienten sich fast nur noch an den Kalorienbomben. Sie nahmen immer mehr zu und wurden schließlich fettleibig.

Dann installierten wir ein Blitzlicht, das den fressenden Ratten signalisierte, dass sie gleich einen sehr unangenehmen elektrischen Schlag an den Pfoten erhalten würden. Tiere, die sich gerade über normales Futter hermachten, hörten nach einem solchen Blitz sofort mit dem Fressen auf und rannten weg. Fettleibige Ratten hingegen, die Wurst, Kuchen oder Schokolade vertilgten, ignorierten das Warnsignal. Ihr Verlangen danach war stärker als ihr Selbsterhaltungstrieb. Ähnliche Beobachtungen hatte zuvor schon der Neurowissenschaftler Barry Everitt von der University of Cambridge gemacht – allerdings waren seine Ratten nicht scharf auf Schokolade, sondern kokainsüchtig.

Sind demnach die fettleibigen Nager fresssüchtig? Die Unfähigkeit, ein bestimmtes Verhalten zu vermeiden, obwohl es vorhersehbare schädliche Folgen hat, ist ein allgemeines Merkmal von Suchtkranken. Sie findet sich auch bei übergewichtigen Menschen. Fast alle Fettleibigen geben an, weniger essen zu wollen. Dennoch nehmen sie weiterhin viel zu viel zu sich, obwohl sie sich der negativen Konsequenzen für ihre Gesundheit und ihr Sozialleben bewusst sind. Studien zufolge aktiviert das exzessive Aufnehmen von Nahrung die Belohnungssysteme in unserem Gehirn – bei manchen Menschen so sehr, dass kein Sättigungsgefühl mehr entsteht. Je mehr diese Menschen essen, umso stärker wächst ihr Verlangen nach weiterer Nahrung – ähnlich wie bei Alkoholikern und Rauschgiftabhängigen die Gier nach der Droge mit dem Konsum zunimmt. Stimuliert übermäßige Nahrungsaufnahme also dieselben Hirnregionen wie Drogenkonsum? Falls ja, sollten Medikamente, die das Belohnungssystem im Gehirn dämpfen, übergewichtigen Menschen dabei helfen, ihre Kalorienaufnahme einzuschränken.

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Bis in die frühen 1990er Jahre hinein galt Fettleibigkeit, lateinisch »adipositas«, lediglich als Verhaltensstörung. Übergewichtigen Menschen, so glaubte man, mangele es einfach an Willenskraft und Selbstbeherrschung. Seither hat sich die Sichtweise dramatisch verändert, zumindest bei Wissenschaftlern. Grund dafür ist nicht zuletzt, dass sich die Fettleibigkeit epidemisch ausbreitet.

Einer der Ersten, die diesen Sinneswandel angestoßen haben, war der kanadische Biochemiker Douglas Coleman, der früher am Jackson Laboratory in Bar Harbor (Maine, USA) forschte. Er fand bereits in den 1960er Jahren Hinweise darauf, dass krankhaftes Übergewicht und gestörtes Essverhalten unter anderem auf genetische Faktoren zurückgehen. Zahlreiche seiner Überlegungen konnte später der amerikanische Molekulargenetiker Jeffrey Friedman von der Rockefeller University (New York) bestätigen. Beide Wissenschaftler führten Experimente mit Mäusestämmen durch, die erblich bedingt dazu neigen, an Adipositas und Diabetes mellitus zu erkranken.

Wie sich herausstellte, besitzt einer dieser Stämme einen Gendefekt, der verhindert, dass die Fettzellen das Hormon Leptin freisetzen. Der Signalstoff wird bei Mäusen und Menschen normalerweise nach den Mahlzeiten ausgeschüttet, zügelt den Appetit und dämpft so das Verlangen nach weiterer Nahrung. Ein anderer Mäusestamm, der zur Fettleibigkeit tendiert, erwies sich ebenfalls als Träger einer Genmutation: Die Körperzellen der betroffenen Tiere sprechen nicht mehr richtig auf Leptin an. Zusammengenommen bestätigten diese Ergebnisse, dass Hormone den Appetit und damit das Körpergewicht regulieren. Ein hormonelles Ungleichgewicht kann demnach zu gestörtem Essverhalten führen. Tatsächlich kommt Fettleibigkeit in bestimmten Familien mit genetisch bedingtem Leptinmangel häufig vor.

Doch es wäre zu kurz gesprungen, Adipositas nur auf eine Hormonstörung zurückzuführen. Erstens leiden längst nicht alle Übergewichtigen an einem erblich erworbenen Missverhältnis von appetitregulierenden Hormonen. Zweitens müssten Bluttests an adipösen Menschen dann regelmäßig entweder zu wenig appetitzügelnde oder zu viel appetitsteigernde Hormone anzeigen. Jedoch ist eher das Gegenteil der Fall. Paradoxerweise fallen fettsüchtige Menschen oft durch erhöhte Spiegel an appetitzügelnden Hormonen auf, unter anderem Leptin und Insulin.

Hier kommt das Konzept von der Esssucht ins Spiel. Appetitsteuernde Hormone beeinflussen neuronale Schaltkreise im Hypothalamus – jenem Abschnitt des Zwischenhirns, der die vegetativen Körperfunktionen reguliert. Zudem stehen sie in Wechselwirkung mit Belohnungssystemen im Gehirn. Je heftiger der Hunger, umso intensiver die Befriedigung, sobald wir etwas essen. Für diesen Mechanismus sind Hormone verantwortlich, die in Fastenzeiten das Reaktionsvermögen von mit Nahrung assoziierten Belohnungszentren erhöhen, vor allem im Corpus striatum (kurz Striatum). Dieses Hirnareal ist durch hohe Spiegel an Endorphinen gekennzeichnet, körpereigenen Verbindungen, die Glücks- und Belohnungsgefühle verstärken.

Während wir einer guten Mahlzeit frönen, produzieren Magen und Darm appetitzügelnde Hormone, welche die vom Striatum und von anderen Teilen des Belohnungssystems ausgehenden Glücksgefühle dämpfen. Zugleich setzen sie die Intensität des Genussempfindens herab. Die Speisen erscheinen uns daraufhin immer weniger begehrenswert, bis wir schließlich aufhören zu essen.

Wenn das Gefühl, satt zu sein, nicht mehr durchdringt

Moderne, extrem kalorienreiche Nahrungsmittel jedoch, die viel Fett und Zucker enthalten und oft besonders ansprechend aussehen, stimulieren unsere Belohnungssysteme so stark, dass die appetitzügelnde Wirkung von Leptin und anderen Hormonen nicht mehr dagegen ankommt. Infolgedessen essen wir immer weiter, auch wenn wir keinen Hunger mehr haben. Wir alle kennen diesen Effekt: Eben haben wir ein reichliches Abendessen zu uns genommen und kriegen keinen Bissen mehr herunter. Da serviert die Gastgeberin Schokoladentorte, und auf wundersame Weise geht diese Leckerei – eine der kalorienreichsten des Tages – dann doch noch irgendwie rein.

Unser Gehirn hat eine effiziente Maschinerie entwickelt, um das Körpergewicht auf stabilem, gesundem Niveau zu halten. Sie signalisiert uns, wann es Zeit ist zu essen und wann nicht. Unnatürlich kalorienreiche Nahrungsmittel können diese Signale jedoch aushebeln und uns zu einem krank machenden Essverhalten antreiben. Sahnetorte, Mousse au Chocolat & Co. sind künstliche Leckereien, mit denen unsere Vorfahren nicht konfrontiert waren – weshalb wir auch keine Gelegenheit hatten, im Zuge der Evolution einen angemessenen Umgang damit zu entwickeln.

Der Organismus reagiert auf das Kalorienbombardement, indem er den Blutspiegel appetitzügelnder Hormone wie Leptin und Insulin in dem Maß erhöht, in dem das Körpergewicht steigt. Jedoch büßen diese Signalstoffe irgendwann an Wirkung ein, weil der Körper eine Toleranz gegen sie entwickelt. Zudem reagieren die Belohnungssysteme im Gehirn übergewichtiger Menschen nur noch schwach auf den Verzehr von Speisen, wie Forscher des Brookhaven National Laboratory und des Oregon Research Institute mittels bildgebender Verfahren feststellten. Diese Abstumpfung führt zu ausbleibender Befriedigung und damit zu depressiver Verstimmung. Und was tut der Mensch dagegen? Er isst noch mehr, um seine Stimmung zeitweilig aufzuhellen – was den Teufelskreis perfekt macht. Fettleibige müssen wahrscheinlich erheblich mehr verzehren als Schlanke, um den gleichen Grad an Befriedigung zu erreichen.

Adipositas entsteht also offenbar nicht (nur) aus einem Mangel an Willenskraft. Auch Hormonstörungen sind als Auslöser eher selten. Zumindest in einigen Fällen scheint ihre Ursache in einem Außer-Kraft-Setzen der Belohnungssysteme im Gehirn durch extrem gehaltvolle und wohlschmeckende Nahrungsmittel zu liegen. Genau wie Sucht erzeugende Drogen können sie eine Rückkopplungsschleife im Gehirn anstoßen – je mehr Leckereien der Mensch zu sich nimmt, umso stärker wird sein Verlangen danach und desto schwerer fällt es, die Begierde zu stillen. Aber ist lustvolles Essen deswegen eine Sucht?

Abhängig machende Drogen, etwa Morphine, stimulieren die Belohnungssysteme des Gehirns auf die gleiche Weise wie Nahrungsmittel. Doch es gibt noch weitere Gemeinsamkeiten. Injiziert man Ratten Morphin in das Striatum, so löst dies bei den Tieren exzessive Fressanfälle aus, und zwar auch dann, wenn sie sich kurz zuvor satt fressen konnten. Morphine und andere Opiate imitieren demzufolge die Effekte von bestimmten Neurotransmittern – Botenstoffen, mit denen unser Gehirn das Essverhalten reguliert.

Können dann nicht Medikamente, die solche Botenstoffe hemmen, auch das übermäßige Verlangen nach Nahrung dämpfen? Laut neueren Studien senken Endorphinblocker die Aktivität von Belohnungszentren bei Menschen und Nagern, denen verlockende Speisen dargeboten werden – mit dem Ergebnis, dass die Betroffenen weniger davon zu sich nehmen. Behandelt man Drogenabhängige mit solchen Wirkstoffen, konsumieren sie anschließend weniger Heroin, Alkohol oder Kokain. Dies stützt die These, wonach exzessivem Essen und Drogensucht dieselben Mechanismen zu Grunde liegen. Wenn Ratten, die an tägliche Völlerei gewohnt sind, Endorphinblocker erhalten, dann zeigen sie ein Verhalten ähnlich den Entzugssymptomen bei Drogenabhängigen. Übermäßiges Essen kann demnach einen Zustand herbeiführen, der einer Drogensucht gleicht.

Auch im Hinblick auf einen weiteren wichtigen Neurotransmitter, Dopamin, gibt es Gemeinsamkeiten. Bekanntermaßen bewirken Sucht erzeugende Drogen die Freisetzung von Dopamin ins Striatum. Der Botenstoff spielt eine wesentliche Rolle beim Entstehen von Motivationen und treibt Süchtige dazu an, sich die Droge zu beschaffen. Die meisten Experten meinen, dass dieser Mechanismus die Abhängigkeit herbeiführt, wenngleich die genauen Vorgänge umstritten sind. Experimenten zufolge stimulieren auch attraktive Nahrungsmittel die Ausschüttung von Dopamin ins Striatum. Der Neurotransmitter motiviert die Betroffenen dazu, sich auf das Essen zu fokussieren. Bildgebende Verfahren belegen nun, dass im Striatum fettleibiger Menschen auffallend wenig Dopamin-2-Rezeptoren (D2R) vorhanden sind – Andockproteine für Dopamin, die Signalprozesse in Hirnzellen auslösen. Ähnliche Befunde sind von Alkoholikern bekannt sowie von Personen mit einer Sucht nach Kokain, Methamphetamin oder Opiaten.

Zudem erkranken Menschen, die auf Grund genetischer Besonderheiten nur verhältnismäßig wenige Dopamin-2-Rezeptoren produzieren, häufiger an Adipositas oder Drogenabhängigkeit. Der Mangel an diesen Molekülen führt zu einer verminderten Aktivität der Belohnungszentren des Gehirns, so dass die Betroffenen intensivere Stimuli durch Nahrungs- oder Rauschmittel benötigen, um den gleichen Grad an Befriedigung zu erlangen wie normale Menschen. Es fällt ihnen auch schwerer, Handlungen zu vermeiden, die negative Folgen haben. Offenbar ist hier die Funktion von Hirnregionen beeinträchtigt, die riskante, aber potenziell befriedigende Verhaltensweisen unterdrücken, etwa den exzessiven Konsum von Speisen oder Drogen.

Unsere Laborversuche an Ratten untermauern diese These. Fettleibige Tiere, die trotz unangenehmer elektrischer Schläge nicht davon abließen, alorienreiche Leckereien zu fressen, wiesen nur wenige Dopamin-2-Rezeptoren im Striatum auf. Auch andere Untersuchungen ergaben, dass drogensüchtige oder adipöse Ratten nicht vom Objekt ihrer Begierde ablassen, selbst wenn daraus negative Konsequenzen erwachsen. Bei Menschen beobachten wir ähnliche Phänomene: Viele Adipöse leiden so sehr unter der Unfähigkeit, ihr Essverhalten zu steuern, dass sie sich freiwillig riskanten Eingriffen unterziehen, etwa einer Magen-Bypass-Operation. Oft erleiden sie trotzdem einen Rückfall und nehmen wieder zu.

Starkes Übergewicht – eine psychische Krankheit? So weit gehen die Experten dann doch nicht

Destruktives Fehlverhalten, das kurzfristige Glücksgefühle verursacht, gefolgt vom Versuch, davon loszukommen – und schließlich der Rückfall: Dieses Muster ähnelt auffallend dem Teufelskreis einer Drogenabhängigkeit. Den neuesten Forschungsergebnissen zufolge ist Fettleibigkeit das Ergebnis eines übermächtigen Verlangens, die Belohnungszentren im Gehirn zu aktivieren und Befriedigung zu erreichen. Hormonelle Störungen und Stoffwechselentgleisungen könnten demnach die Folgen der Gewichtszunahme sein – und nicht ihre Ursachen.

Wegen der Gemeinsamkeiten zwischen Adipositas und Suchterkrankungen haben einige Experten vorgeschlagen, beides mit den gleichen Methoden zu therapieren. Einige empfahlen sogar, das Krankheitsbild Fettleibigkeit in die neueste Auflage des »Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders« (Diagnostisches und statistisches Handbuch psychischer Störungen) aufzunehmen, der »Bibel« der Psychiater. Das unter dem Kürzel DSM-5 bekannte Werk enthält Richtlinien zur Diagnostik psychischer Erkrankungen. Dieser Vorschlag führte unter Fachleuten zu lebhaften Debatten, wurde aber letztlich abgelehnt – in erster Linie, um fettleibige Menschen nicht als seelisch krank zu stigmatisieren.

Vorsicht scheint tatsächlich angebracht, da sich Adipositas und Suchterkrankungen trotz aller Ähnlichkeiten deutlich unterscheiden. Wenn Nahrungsmittel eine Sucht hervorrufen können, so müssten dafür bestimmte Inhaltsstoffe verantwortlich sein – das »Nikotin des Junkfood« sozusagen. Tatsächlich legen Arbeiten der Neurowissenschaftlerin Nicole Avena von der University of Florida und anderen Forschern nahe, es könnte sich um Fette oder Zucker handeln. Einer kleinen Studie des Mediziners David Ludwig vom Boston Children’s Hospital (USA) zufolge könnten industriell aufbereitete, leicht verdauliche Kohlenhydrate das Verlangen auslösen. Dennoch deutet die Erkenntnislage insgesamt darauf hin, dass nicht einzelne Inhaltsstoffe die Abhängigkeit verursachen. Vielmehr scheint eine Kombination aus Fetten, Zuckern und hohem Kaloriengehalt die »Glückswirkung« zu maximieren.

Andere Experten vertreten die Auffassung, dass sich Adipositas und Drogenabhängigkeit grundsätzlich voneinander unterscheiden. Und ernten damit reichlich Widerspruch. Denn wenn fettleibige Menschen mehr und mehr essen müssen, um Befriedigung zu erlangen, dann ähnelt das doch sehr der Toleranzentwicklung, die man von Rauschmittelsüchtigen kennt. Und wenn man Übergewichtige auf Diät setzt, damit sie abnehmen, kann das bei ihnen zu Verstimmungen und Depressionen führen, was wiederum einer Entzugssymptomatik nahekommt.

Schließlich gibt es Fachleute, die das Postulat einer Esssucht durchweg für unsinnig halten. Schließlich, so ihr Argument, seien wir doch alle irgendwie süchtig nach Nahrungsmitteln. Wären wir es nicht, würden wir nicht überleben. Diese Sichtweise vernachlässigt aber einen wichtigen Aspekt der Adipositas: Moderne, unnatürlich kalorienreiche Speisen können die biologischen Rückkopplungsmechanismen unseres Körpers so effektiv außer Kraft setzen, wie es mit natürlichen Nahrungsmitteln gar nicht möglich ist. Während Millionen von Jahren der Evolution lag die größte Sorge der Menschen nicht darin, ihren Appetit zu zügeln, sondern ausreichend Nahrung zu erjagen, zu sammeln oder anzubauen.

Die Gefahr zu verhungern dürfte weit größer gewesen sein als die, zu viel zu essen. Es erscheint plausibel, dass unser Gehirn den exzessiven Verzehr kalorienreicher Nahrung positiv bewertet und mit Zufriedenheitsgefühlen belohnt – denn er führt dazu, dass wir uns Reserven anfuttern. Für unsere Vorfahren ein durchaus sinnvolles Verhalten, denn in ihrem Leben als Wildbeuter war es stets unsicher, wann man das nächste Mal etwas zwischen die Zähne bekommen würde. Heute jedoch, angesichts eines in westlichen Ländern überreichen Angebots an Nahrungsmitteln, führt dieses Verhalten zu schädlichen Konsequenzen.

Medikamente mit gefährlichen Nebenwirkungen

Wissenschaftler, die den Suchtcharakter der Adipositas bestreiten, bringen durchaus vernünftige Einwände vor. Sie haben Recht damit, dass der Begriff »Abhängigkeit« mit Konnotationen befrachtet ist, die hier wenig helfen. Dennoch weisen exzessives Essen und Drogensucht viele Gemeinsamkeiten auf, in erster Linie einen Kontrollverlust. Wir müssen herausfinden, ob es sich dabei um mehr handelt als um oberflächliche Parallelen. Noch wichtiger ist die Frage, ob ein verändertes Verständnis der Adipositas uns erlaubt, neue Behandlungsansätze zu entwickeln. Andernfalls bleibt die Diskussion nur eine akademische Übung.

Erste Therapien, die in die neue Richtung weisen, gibt es bereits. Das Arzneimittelunternehmen Arena Pharmaceuticals hat kürzlich von der US-Arzneimittelbehörde FDA die Zulassung für seinen Appetitzügler Lorcaserin erhalten. Er soll übergewichtige Patienten beim Abnehmen unterstützen. Lorcaserin stimuliert so genannte Serotonin-2C-Rezeptoren im Gehirn. An Laborratten hat sich gezeigt, dass dies auch zu einem verminderten Verlangen nach Nikotin führen kann.

Ein anderer Arzneistoff ist Rimonabant, das in Europa eine Zeit lang als Appetitminderer zur Behandlung fettleibiger Menschen zugelassen war. Der Stoff hemmt den Cannabinoidrezeptor 1, der eine wichtige Rolle bei Heißhungerattacken spielt, wie sie etwa nach dem Konsum von Cannabis auftreten. Das Blockieren des Rezeptors dämmt die Gier nach Essen ein. Aber nicht nur das: Rimonabant erleichtert es Rauchern zudem, auf Zigaretten zu verzichten. Bei Ratten senkt es das Verlangen nach Alkohol, Opiaten und Kokain.

Allerdings löst Rimonabant bei einigen Patienten Depressionen aus, manche entwickeln sogar Selbstmordgedanken. Die Europäische Arzneimittelagentur empfahl deshalb vor fünf Jahren, die Zulassung auszusetzen, und die FDA lehnte die Einführung des Mittels auf dem US-Markt von vornherein ab. Warum das Präparat Depressionen verursacht, ist weiterhin unklar. Jedoch zeigt das Beispiel, dass neue Therapieansätze, die sich aus dem Konzept der Adipositas als Suchterkrankung ergeben, sorgfältig zu prüfen sind.

Um definitiv zu klären, ob Fettleibigkeit eine Suchterkrankung darstellt, müssen die Forscher zunächst detailliert offenlegen, welche neuronalen Netzwerke und zellulären Anpassungsvorgänge eine Drogensucht hervorrufen – um anschließend zu prüfen, ob dieselben Mechanismen auch Völlerei fördern. Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, dass die neuronalen Netze, die bei Kokainabhängigkeit beziehungsweise übermäßigem Essen eine Rolle spielen, zwar in verschiedenen Hirnregionen lokalisiert sind, jedoch ähnlich arbeiten. Eine wichtige Frage ist auch, ob genetische Abweichungen wie der Mangel an Dopaminrezeptoren sowohl Drogenabhängigkeit als auch Adipositas begünstigen. Falls es gemeinsame Risikogene gibt, könnten sie vielleicht als Angriffspunkte für Medikamente dienen, die beide Störungen lindern.

Selbst wenn sich herausstellt, dass Fettleibigkeit auf einer echten Nahrungsmittelsucht beruht, und man wirksame Arzneistoffe dagegen findet, werden übergewichtige Menschen weiterhin mit Familienmitgliedern, Freunden und Kollegen zusammenleben, die ihrerseits zu viel essen. An ihrem oft problematischen Umfeld wird sich also nichts ändern. Wie wir von Drogenabhängigen und Alkoholikern wissen, die den Ausstieg aus der Sucht geschafft haben, sind Umgebungsreize ein sehr häufiger Grund für Rückfälle. Die westlichen Gesellschaften mit ihrem Überfluss an fett- und zuckerhaltigen Versuchungen werden es deshalb auch künftig jedem Übergewichtigen schwer machen, von seinem Laster loszukommen.

(Spektrum der Wissenschaft, 11/2013)

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  • Quellen

Johnson, P. M., Kenny, P. J.: Dopamine D2 Receptors in Addiction-like Reward Dysfunction and Compulsive Eating in Obese Rats. In: Nature Neuroscience 13, S. 635 – 641, 2010

Stice, E. et al.: Relation between Obesity and Blunted Striatal Response to Food is Moderated by TaqIA A1 Allele. In: Science 322, S. 449 – 452, 2008

Ziauddeen, H. et al.: Obesity and the Brain: How Convincing is the Addiction Model? In: Nature Reviews Neuroscience 13, S. 279 – 286, 2012

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