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Ethnomathematik: Kraken im Achterpack

Unnötig kompliziert wirkt das Zahlensystem der Mangareva in Polynesien - und gleichzeitig ziemlich primitiv. Ein Relikt aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte oder doch eher ein innovatives Konzept?
Wer sich schon im Französischunterricht dafür begeistern konnte, "vier mal zwanzig und fünfzehn" statt einfach "fünfundneunzig" zu sagen, dem sei das Studium des klassischen Mangareva ans Herz gelegt. Denn wie die Bewohner des gleichnamigen Archipels in Französisch-Polynesien zählen, ist für den ans Dezimalsystem gewöhnten Europäer – gelinde gesagt – herausfordernd.

Nicht nur, dass dort wahlweise von der Basis zehn, zwanzig und vierzig ausgegangen wird, nein, der Insulaner beziffert achtzig Brotfrüchte auf "varu", es sei denn, es handelt sich um reife Exemplare. Dann würde ihre Anzahl mit "tataua" wiedergegeben werden. Stammen die Früchte hingegen aus der ersten Ernte der Saison, sind es nur "paua". "Tataua" wären in diesem Fall nämlich genau doppelt so viele, also 160. Gleiches gilt für Kraken, die ebenfalls nach den beiden letzten Systemen gezählt werden, während Werkzeuge, Zuckerrohr und eine Auswahl weiterer Dinge wie ordinäre Brotfrüchte gehandhabt werden.

Kein lebendes Arithmetik-Fossil

Geradezu abenteuerlich klingt da die Behauptung von Sieghard Beller und Andrea Bender von der Universität Freiburg: dass nämlich die Mangareva ihre spezielle Zählweise zur Steigerung kognitiver Effizienz entwickelt haben. Ziel sei gewesen, das Kopfrechnen zu erleichtern.

Pirahã | Die Pirahã leben fast vollständig isoliert im brasilianischen Regenwald von Jagd und Fischfang. Sie kennen nur die Zahlwörter "eins", "zwei" und "viele" – und können sich daher Zahlen größer drei nicht vorstellen.
Bisher lautete dagegen die Standarderklärung, hier habe sich ein archaischer Entwicklungsstand in die Gegenwart gerettet, aus einer Zeit, als es bei den Menschen noch nicht zur Einsicht gereicht habe, dass die reine Anzahl vom konkreten Inhalt des zu Zählenden abstrahiert werden kann. Ähnliche lebende Fossilien gebe es auch andernorts, etwa bei den in vieler Hinsicht kuriosen Pirahã im Amazonasgebiet, die nach Ansicht einiger Wissenschaftler lediglich über zwei Zahlwörter ("eins" und "zwei"), anderen zufolge über gar keine verfügen.

Doch dieses Erklärungsmuster vereinfache allzu sehr, sagen die Psychologen Beller und Bender und verweisen auf eine vierte, anscheinend moderne Zählweise im Mangareva, die sowohl abstrakt ist, als auch die Bildung von Zahlen über einer Million zulässt. Anders als Anhänger des herkömmlichen Modells sehen sie in diesem System Nummer Vier jedoch nicht das Ergebnis einer kognitiven Weiterentwicklung gegenüber den anderen drei.

Vielmehr sei es genau umgekehrt verlaufen: Vieles spreche nach Ansicht der Wissenschaftler dafür, dass Mangareva, das als polynesische Sprache zum so genannten ozeanischen Zweig der austronesischen Familie gehört, das quasi-moderne System aus dem Proto-Ozeanischen geerbt hat. Die vermeintlichen Relikte einer urtümlichen Arithmetik entstanden dagegen erst später als Antwort auf die Nachteile des ererbten Abzählverfahrens.

Innovation im Kopfrechnen

Mangels Schrift waren die Mangareva stets auf ihre Kopfrechenkünste angewiesen. Nehmen Sie also an, fünf Leute würden Ihnen pro Person 72 Eier schenken, die Sie alle zusammen unter zwei Freunden aufteilen wollen. Wie viel erhält jeder? Im Kopf ist das nur schwer zu rechnen. Zählt man dagegen die Eier im Dutzend, vereinfacht sich die Rechnung zu fünf mal sechs Dutzend, also 30 Dutzend, von denen jeder 15 erhält. Genau dies tun die Mangareva, wenn sie etwa mit Mengen von Brotfrüchten rechnen.

Nur benutzen sie keine Zwölfereinheiten, sondern Vielfache von "tauga", was je nach dem zu zählenden Gegenstand für einen Zweier-, Vierer- oder Achterpack steht. Im Unterschied zur bei uns gängigen Praxis verwenden sie allerdings nicht das abstrakte Zahlensystem (ergänzt um die Angabe "Dutzend" oder eben "tauga"), wenn sie so rechnen. Beide Zählweisen haben – ab Werten größer zehn – jeweils verschiedene Zahlwörter.

Genauer gesagt: Das allgemeine System arbeitet mit der Basis 10, ab der Zahl 19 hingegen mit der Basis 2*10. Das spezifische System kennt dafür die Zahlwörter für 1 bis 9 sowie 10, 20 und einige Vielfache von 40. Gibt man nun beispielsweise die Anzahl von Brotfrüchten in einem Korb mit 118 an, so wird dies als "2*40+20+10+8" konstruiert.

"Drei Früchte" fallen durch die Lücke

Von Nachteil sind die Lücken, die die Mangareva damit in ihr Zahlensystem rissen: Nur Mengen, die genau einem Vielfachen der mit "tauga" gemeinten Anzahl entsprechen, können exakt benannt werden. Darüber hinaus müssen Rechenwillige zwei unterschiedliche Multiplikationstabellen beherrschen – eine für das abstrakte und eine für das spezifische System.

Kritiker könnten deshalb einwenden, das mangarevische Zahlenwirrwarr sei genauso Folge einer Rückentwicklung, wie das Fehlen der Augen bei Höhlentieren. In der Tat verkümmerte in anderen ozeanischen Sprachen, etwa in Papua-Neuguinea, das ererbte, quasi-moderne System zur simplen Pirahã-ähnlichen Variante "Alles über fünf ist 'eine Menge'".

Weil die Polynesier jedoch stets eifrige Händler waren und gerade Mangareva den Freiburger Forschern zufolge einst als wichtiger Warenumschlagplatz diente, sei ohne gekonnte Arithmetik kein Auskommen gewesen. Der Vorteil, den das "Tauga-System" beim Kopfrechnen biete, liefere den entscheidenden Hinweis darauf, dass hier eine gezielte Weiterentwicklung stattgefunden habe.

Es sei also keineswegs der Fall, meinen Beller und Bender, dass sich Zahlensysteme stets von spezifischeren zu abstrakteren und von simpleren zu komplexeren entwickeln. Gefährlich sei es daher, Urteile über die Nützlichkeit und Effizienz einer Zählweise abzugeben, ohne Blick auf die kulturellen Zusammenhänge, in denen die Menschen sie gebrauchen.

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