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Evolution: Eutrophierung lässt junge Arten wieder verschmelzen

Bietet ein Lebensraum viele ökologische Nischen, entstehen manchmal sehr schnell auch ohne echte räumliche Trennung neue Arten: Die verschiedenen "Vorlieben" wirken als effektive Barrieren. Gehen diese Nischen jedoch verloren, fallen die Barrikaden. In der Folge können sich die Spezies wieder annähern oder gar erneut verschmelzen. Die Renken des Bodensees und Schweizer Seen demonstrieren, wie Eutrophierung frühere Vielfalt zunichtemacht.

Diese umgekehrte Evolution steht eher selten im Rampenlicht, wenn es um das Aussterben von Arten geht: Meist wird der Verlust einer Spezies darauf zurückgeführt, dass die Lebensgemeinschaften als solche ausgerottet wurden. Ole Seehausen von der Universität Bern und seine Kollegen fürchten jedoch, dass die Verschmelzung einstiger Arten eine größere Gefahr für die Biodiversität darstellt als bislang gedacht. Denn ihre Untersuchungen an verschiedenen Arten der Fischgattung Coregonus – zu der auch die Bodenseefelchen (C. wartmanni) zählen – zeigen, dass der Prozess sehr weit verbreitet ist.

Im Fall der Renken der betrachteten Voralpenseen hatten sich getrennte Spezies entwickelt, weil unter anderem die Laichtiefe und der Laichzeitpunkt immer weiter auseinanderwichen. Im Zuge der Eutrophierung der einst nährstoffarmen Seen und der zunehmend sauerstofflosen Bedingungen am Seeboden gerieten die Tieflaicher jedoch in Schwierigkeiten. Bereits 1950 gab es erste Hinweise, dass dies zum Aussterben einiger Arten geführt hatte: Ihre Eier starben ab. Gleichzeitig änderte die Nährstoffzufuhr die Zusammensetzung und Dichte des Zooplanktons, was wiederum die Gruppe der Planktonfresser unter den Renken gegenüber den anderen förderte, die sich von bodenlebenden Wirbellosen ernähren.

Als die Forscher nun historische mit aktuellen Verbreitungsdaten verglichen, stellten sie wenig verwunderlich in vielen Seen einen Rückgang der Artenzahlen fest: Nur vier von 17 Seen hatten noch das frühere Arteninventar. Mindestens acht endemische Spezies und sieben Populationen noch heute lebender Arten sind ausgestorben.

Das Ausmaß der umgekehrten Evolution für den Artenrückgang brachten genetische Untersuchungen an Schuppen von Museumsexemplaren aus dem Bodensee im Vergleich zu heute lebenden Vertretern ans Licht: Die Genome verschiedener Arten sind sich in manchen Bereichen ähnlicher geworden, wie es bei einer Durchmischung zuvor getrennter Genpools zu erwarten ist. Gleichzeitig stieg die genetische Vielfalt innerhalb einer Art, wie sich unter anderem beim Bodenseefelchen zeigte – auch dies ein Zeichen, dass neues genetisches Material eingeschleust wurde. Unterstützt werden die genetischen Befunde durch morphologische Daten: In den mittel bis stark eutrophierten Seen hat sich die Anzahl der Kiemenreusendornen der Tiere angeglichen – sie gehört zu den klassischen Unterscheidungsmerkmalen bei der Artbestimmung.

Im Brienzersee, der auf Grund seiner nur geringen Nährstoffbelastung als Kontrolle diente, waren diese Muster dagegen nicht signifikant nachzuweisen. Doch auch hier tauchen manche Allele, die früher auf C. albellus beschränkt waren, nun auch in anderen Arten auf. Selbst bei kaum belasteten Seen kam es also zu einer erneuten Vermischung von zuvor als getrennt betrachteten Arten.

Umgekehrte Evolution sei allerdings schwer zu entdecken und werde deshalb womöglich unterbewertet, mahnen Seehausen und seine Kollegen: Einerseits bleiben die Veränderungen leicht in der Bandbreite der normalen Variationen innerhalb und zwischen Arten versteckt, andererseits kann der Zusammenbruch sehr schnell ablaufen. Außerdem muss historisches Vergleichsmaterial in ausreichender Qualität für eine Genanalyse vorhanden sein. Ähnlich wie bei Artensterben durch Ausrottung der Populationen führt aber auch umgekehrte Evolution nicht nur zu einer verarmten Fauna, sondern beeinflusst ganze Ökosysteme.

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  • Quellen
Nature 482, S. 357–362, 2012

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