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Evolutionsfaktor Mensch: Artenschutz braucht Darwin

Der Mensch dominiert die Selektion auf diesem Planeten. Wer evolutionäre Prinzipien außer Acht lässt, sagen Biologen, kann daher beim Artenschutz nur scheitern.

Hunderttausende, Millionen, gar Milliarden Jahre – wer über Evolution redet, braucht geologische Zeitskalen. Bestenfalls im Museum wird der Prozess anschaulich. Und eins ist doch gewiss sicher: Ein Menschenleben reicht bei Weitem nicht aus, um die Veränderung einer Art mitzuerleben.

Oder etwa doch? "Manche Arten verändern sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten", sagt Klaus Schwenk vom Institut für Umweltwissenschaften der Universität Koblenz-Landau, "das lässt sich heute messen." Hinter der Turboevolution steckt oft eine sich verändernde Umwelt. Und hinter dieser meist – direkt oder indirekt – der Mensch. Wir holzen Regenwälder ab, legen Monokulturen an, plündern die Meere, verschmutzen Gewässer und verändern das Klima.

All das wirkt auf Flora und Fauna. So sehr, dass sich Evolutionsbiologen gezwungen sahen, einen neuen Begriff einzuführen: Sie unterscheiden heute zwischen der natürlichen und der menschengemachten Auslese, der anthropogenen Selektion.

Massiver menschlicher Einfluss

"Dass der Mensch die Evolution von Arten massiv beeinflusst, wurde erstmals vor rund zehn Jahren an der Trophäenjagd in den USA gezeigt", sagt der Evolutionsbiologe Martin Schaefer von der Universität Freiburg, "die Jäger schossen immer die ältesten Elche, Hirsche oder Dickhornschafe, also die Männchen mit den größten Geweihen und Hörnern. Nach einigen Generationen bildeten die Männchen kleinere Geweihe und Hörner aus." Wissenschaftler in Afrika beobachten ähnliches: Die Jahrzehnte lang andauernde Wilderei auf Elefanten führt dazu, dass die Dickhäuter kleinere oder gar keine Stoßzähne mehr ausbilden. Die Liste der Beispiele ist lang.

Die Konsequenzen liegen für viele Wissenschaftler auf der Hand: Evolutionsbiologische Prinzipien müssen wesentlich stärker im Umweltmanagement berücksichtigt werden. Das heißt konkret im Artenschutz, aber auch in der Jagd- und Fischereiverwaltung. "Das würde das Umweltmanagement langfristig stark verbessern – auch zum Wohle des Menschen", sagt Luis Santamaría, Biologe vom spanischen Forschungsinstitut Estación Biológica de Doñana in Sevilla. Denn überall dort, wo der Mensch exzessiv jagt oder fischt, selektiert er auf nicht erwünschte Merkmale wie etwa kleinere Geweihe oder eine geringere Körpergröße bei Fischen. Letzteres hat gravierende Konsequenzen für die Welternährung, da kleinere Fische auch rückläufige Fangmengen bedeuten.

Beliebte Speisefische werden immer kleiner und früher geschlechstreif

Fischereistatistiken zeigen, dass kommerziell genutzte Fischarten immer jünger geschlechtsreif werden: Der Kabeljau im Nordwestatlantik etwa wurde in den 1950er Jahren mit gut sechs Jahren geschlechtsreif und war dabei etwa 65 Zentimeter lang. Heute laichen die Fische bereits im Alter von vier Jahren bei einer Länge von 40 Zentimetern.

Experten sprechen von "fisheries-induced evolution" (FIE). Da die Fangflotten vor allem große Fische anlanden – und damit deren Fortpflanzung verhindern – haben Individuen, die sich bei kleinerer Köpergröße früh fortpflanzen, einen Vorteil und hinterlassen im Verhältnis mehr Nachkommen.

Die evolutionären Folgen der Fischerei lassen sich nicht so ohne Weiteres rückgängig machen: Obwohl der nordwestatlantische Kabeljau 15 Jahre geschont wurde, hat er nicht zu seiner früheren Körpergröße zurückgefunden. Evolutionsbiologen nehmen an, dass die genetische Variabilität der Fischpopulation gelitten hat: Jeder Fisch trägt nur eine Auswahl der Gene, die in der Gesamtpopulation, etwa einem Fischschwarm, vorhanden sind. Fischt man alle großen Exemplare weg und schont die verbleibenden Individuen, können diese sich vermehren. Nach einiger Zeit erreicht der Schwarm wieder seine ursprüngliche Größe – der Genpool hingegen bleibt dauerhaft klein.

Stark vereinfacht ausgedrückt kann mit dem Wegfischen aller großen Fische die genetische Information für die große Körpergröße verloren gegangen sein. "Bis eine solche Information wieder auftaucht, können mehrere 100 Jahre vergehen. Denn dazu braucht es Mutationen und Genfluss. Diese evolutiven Prozesse sind aber deutlich schwächer als die Auswirkungen der anthropogenen Selektion", sagt Schwenk.

Vor der Art selbst schwindet die genetische Vielfalt

"Wenn Arten evolutionär anpassungsfähig bleiben sollen – und das müssen sie im Hinblick auf Befischung, Jagd, Lebensraumfragmentierung, Konkurrenz durch invasive Arten und den Klimawandel – muss ihre genetische Variabilität erhalten bleiben", sagt Santamaría.

Dazu muss jedoch der menschliche Selektionsdruck verringert werden. Und das wiederum erfordert Umdenken. In der Fischerei etwa hieße das, künftig auch die großen und alten Fische zu schützen. Praktisch müssten Fische also, nachdem sie gefangen wurden, lebend nach Größe sortiert und ein Teil zurück ins Meer geworfen werden. Oder es müssten großräumige Schutzzonen eingerichtet werden, in denen gar nicht gefischt werden darf. Bei weltweit steigender Nachfrage nach Fisch und gleichzeitig sinkenden Fangmengen erscheint das utopisch.

"Bevor eine Art geschützt wird, ist sie in der Regel bereits genetisch verarmt"Luis Santamaría

Auch die Umsetzung im Artenschutz wird steinig. "Bevor eine Art heute geschützt wird, muss sie selten sein. Zu dem Zeitpunkt ist sie in der Regel bereits genetisch verarmt. Zielarten müssten viel früher schon unter Schutz gestellt werden", sagt Santamaría.

Mit Klebestreifen nach Genen fischen

Die genetische Variabilität einer Art bestimmen Biologen heute durch molekulare Analysemethoden. Im Pfälzerwald etwa bringen sie Klebestreifen an Baumstämme an. Streift ein Luchs oder ein Wolf daran vorbei, bleiben Haare hängen, die genetisch untersucht werden können. Ist die Stichprobe groß genug, können Biologen Rückschlüsse auf die Populationsgröße und auch die genetische Variabilität ziehen. Solche Methoden sind jedoch aufwendig und teuer. "Bei Tieren mit großen Augen und Fell lassen sich Mittel auftreiben. Bei kleinen, aber ökologisch höchst relevanten Arten wird es viel schwieriger", sagt Schwenk.

Beim Schutz des Atlantischen Lachs wurden evolutionäre Prinzipien bereits berücksichtigt: Ein Fünftel aller in Europa gefischten Lachse stammt aus dem finnischen Fluss Teno. Mit Hilfe genetischer Methoden fanden Wissenschaftler heraus, dass im Teno 14 genetisch unterschiedliche Lachspopulationen leben. Die Bestände in den oberen Zuflüssen waren dabei genetisch weniger divers, also empfindlicher, als die Populationen im Unterlauf. Die Forscher entdeckten weiter, dass die ersten Lachse, die zum Laichen zurückkehrten, Individuen aus den oberen Zuflüssen waren. Daraufhin wurden Regeln erlassen, um die Fische zeitlich und räumlich besser zu schützen: Die Sportfischerei wurde zu Beginn der Lachswanderung verboten und später auf Populationen des Unterlaufs beschränkt. Auf diese Weise ist das Überleben aller 14 Lachspopulationen gesichert.

Auch in der Medizin halten evolutionäre Prinzipien Einzug: "In Krankenhäusern übt der Mensch einen massiven Selektionsdruck auf Bakterien aus. Die Folge sind multiple Antibiotikaresistenzen. In manchen Kliniken wird die so genannte Darwinian Medicin erfolgreich eingesetzt", sagt Schwenk. Dabei werden Medikamente so verabreicht, dass Bakterien keine Resistenzen ausbilden.

Wie schnell sich evolutionäre Prinzipien im Naturschutz verbreiten werden, ist schwer vorherzusagen. Der Schutz der Artenvielfalt wurde 1992 von der internationalen Staatengemeinschaft beschlossen. Damals war bereits ersichtlich, dass das sechste Massenaussterben der Erdgeschichte eine höchst bedrohliche Dimension erreichen wird und dass der Mensch dafür verantwortlich ist. Die seither bei allen weiteren Treffen formulierten Ziele waren vernünftig und lobenswert – und wurden in der Praxis niemals erreicht.

Gut gedacht, nichts gemacht

Doch die Erkenntnis, dass der Mensch Biodiversität auf vielfältige Weise nutzt, gar von ihr abhängig ist, setzt sich immer weiter durch: Wälder speichern CO2, Bienen und andere Insekten bestäuben Nutzpflanzen, Pilze produzieren Antibiotika, intakte Ökosysteme liefern sauberes Trinkwasser. Bis 2020 sollen aus diesem Grund 17 Prozent der Erdoberfläche unter Schutz stehen.

Um die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, wurden zwischenstaatliche Plattformen wie Diversitas und IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) gegründet. Sie sollen als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik dienen. Teilprojekte wie bioGENESIS beschäftigen sich mit den evolutionsbiologischen Aspekten.

Evolutionsbiologen und Naturschützer begrüßen diese Entwicklungen. "Es ist sinnvoll, Entscheidungsträgern alternative, wissenschaftlich fundierte Strategien aufzuzeigen", sagt Schwenk. Schaefer jedoch bleibt skeptisch: "Solche Plattformen sind gut. Aber sie werden wenig zum Erhalt der Artenvielfalt beitragen, wenn nicht endlich mehr Geld fließt."

Eine Hochrechnung, an der er selbst beteiligt war, sorgte 2012 für Schlagzeilen: Damals bezifferte das Forscherteam die Kosten für den Erhalt der Artenvielfalt auf 80 Milliarden Dollar – weniger als 20 Prozent der weltweiten Ausgaben für Erfrischungsgetränke. "Momentan", sagt Schaefer, "bringen wir nur 12 Prozent der Summe auf."

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