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Extrazelluläre Matrix: Enzymatische Verjüngungskur für das Gehirn

Hirnzelle in künstlerischer Darstellung

Lernen, Vergessen, Behalten, Umdenken – all das leistet das Gehirn durch eine fast unüberschaubare Vielfalt von Mechanismen. Einer davon stand bislang zu Unrecht außerhalb des Rampenlichts: die extrazelluläre Matrix. Dieses Gerüst schmiegt sich eng an die Nervenzellen an. Und mischt beim Fixieren und Lösen von Erinnerungen offenbar kräftig mit.

Wie genau, das untersuchten jetzt Forscher um Renato Frischknecht vom Leibniz Institut für Neurobiologie in Magdeburg: Erst nachdem die Forscher die Matrix ihrer Mongolischen Rennmäuse vorübergehend zerstört hatten, erhielten die Tiere die Fähigkeit zurück, eine einmal gelernte Assoziation durch ihr Gegenteil zu ersetzen. Sie versetzten das Gehirn damit in eine Art jugendlichen Zustand erhöhter Plastizität.

Die Tiere mussten über Tage hinweg lernen, bei einem bestimmten Ton in die andere Kammer ihres Käfigs zu springen und bei einem anderen Ton an Ort und Stelle zu bleiben. Machten sie einen Fehler, erhielten sie einen unangenehmen Stromschlag an den Füßen. Dann injizierten die Forscher einer Hälfte der Versuchstiere unter Narkose das Enzym Hyaluronidase in den auditorischen Kortex und bauten damit die dort befindliche extrazelluläre Matrix ab.

Nun kehrten die Forscher den Zusammenhang um und verlangten zu den beiden Tönen die jeweils entgegengesetzte Reaktion. Es zeigten sich deutliche Unterschiede: Die Mäuse, bei denen das Zellkorsett zerstört worden war, konnten sich besonders schnell die neue Assoziation einprägen. Die anderen hatten erhebliche Schwierigkeiten und scheiterten in der Regel ganz.

Offenbar – so deuten die Forscher ihre Ergebnisse – scheint die extrazelluläre Matrix im Gehirn dafür mitverantwortlich zu sein, bestehende Erinnerungsspuren gegenüber neuen Konkurrenten zu schützen. Sie würde das Gehirn demnach daran hindern, altbewährtes Wissen bei erster Gelegenheit über Bord zu werfen.

Ergänzende Tests schlossen alternative Erklärungen aus. Sie zeigten, dass der enzymatische Abbau nicht generell Erinnerungen löscht – behielten Frischknecht und Kollegen die Tonassoziation bei, befolgten die Tiere auch nach der Injektion den einmal gelernten Zusammenhang. Der Abbau der extrazellulären Matrix scheint überdies auch nicht die allgemeine Lernfähigkeit zu erhöhen: Die Tonassoziation prägten sich Tiere, deren Matrix zu Beginn des Experiments zerstört wurde, nicht schneller ein als Tiere mit intaktem Zellkorsett.

Wie genau die Struktur, die überwiegend aus Zuckermolekülen besteht und lange Zeit für ein passives Stützelement gehalten wurde, das schafft, ist allerdings noch nicht restlos geklärt. Frühere Tests hätten ergeben, dass sie aktiv auf Mechanismen der Gedächtnisbildung einwirkt, schreiben Frischknecht und Kollegen – etwa auf die Beweglichkeit von Synapsenbestandteilen oder die Wirksamkeit von Ionenkanälen, mit denen Neurone zellinterne Prozesse in Gang setzen.

Dass sich die jugendliche Plastizität, also die Fähigkeit des Gehirns sich stark umzubauen, nicht bis ins Erwachsenenalter erhält, kann mitunter erhebliche Nachteile haben – besonders in Extremfällen wie nach einem Schlaganfall oder einer Wirbelsäulenverletzung. Dann hindert sich das Gehirn selbst daran, den Ausfall von Hirnregionen zügig zu kompensieren. Auch in der Traumabehandlung spielt die extrazelluläre Matrix eine Rolle, wenn Betroffene die quälende Erinnerung nicht einfach vergessen oder verändern können.

Das therapeutische Potenzial von Wirkstoffen, die die extrazelluläre Matrix beeinflussen, ist allerdings wohl eher begrenzt. Im aktuellen Experiment zeigten die Forscher zwar, dass das Korsett innerhalb von etwa anderthalb Wochen wieder nachwuchs und demnach nicht dauerhaft zerstört wurde. Trotzdem verlangt der Einsatz des Enzyms, das in die Großhirnrinde gespritzt wurde, einen chirurgischen Eingriff. Möglicherweise würde es sich daher lohnen, schreiben die Forscher, über eine Modifikation der Matrix in Fällen nachzudenken, in denen ohnehin eine Operation ansteht, etwa bei der Implantierung eines "Hirnschrittmachers" oder dem Einsatz von Hörprothesen. Ein vorübergehender Abbau der Matrix könnte hier womöglich dem Gehirn die Anpassung an die künstliche Stimulation erleichtern.

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