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Feynman-Diagramme: Ein Bild für das Abstrakte

Vor 65 Jahren ersann Richard Feynman eine Möglichkeit, Begegnungen in der Quantenwelt zu skizzieren. Heute sind die Feynman-Diagramme ein essenzielles Handwerkszeug für Teilchendompteure.
Rechnen mit Tälern

Für Paul Dirac waren Bilder verpönt. Es sei deutlich geworden, "dass die Naturgesetze die Welt nicht auf eine Art und Weise lenken, die man sich vorstellen kann", schrieb der berühmte Physiker im Jahr 1935 in einem Lehrbuch. In Zeiten der Quantenmechanik könne man kein konsistentes Bild der Wirklichkeit mehr formen, ohne Widersprüchlichkeiten einzuführen. Diracs Worte hatten Gewicht: Der blasse Brite wurde von seinen Weggefährten als brillantes Mathematikgenie verehrt. Wenige Jahre zuvor hatte er den Nobelpreis erhalten, für eine Gleichung zur Beschreibung lichtschneller Elektronen.

Ein jüngerer Physiker, der später ähnlich berühmt wie Dirac werden sollte, stand dem Rechenkult skeptisch gegenüber. "Die Macht der Mathematik ist Angst einflößend", schrieb Richard Feynman einem Studienfreund. "Mir gefällt dieses Gerede nicht, dass es kein Bild mehr geben kann und wir Phänomene nur noch ausrechnen können." Zu viele Physiker glaubten, sie hätten die richtigen Gleichungen, und versuchten gar nicht mehr, sie zu verstehen. Da könne es doch sicher nicht schaden, sich neben der Rechnung noch eine Anschauungsmöglichkeit auszudenken.

Tatsächlich entwickelte Richard Feynman mit Ende 20 eine Möglichkeit, die Quantenwelt visuell darzustellen: Heute lernen Physikstudenten die "Feynman-Diagramme" als essenziellen Bestandteil der Teilchenphysik kennen. Ohne die Bildchen hätten Wissenschaftler wenig Hoffnung, jene Partikelschwemme zu deuten, die in der Röhre des weltgrößten Teilchenbeschleunigers LHC das Innerste der Materie offenbaren.

Bunter Vogel

Die Diagramme sind das geistige Erbe eines Mannes, der auch in anderer Hinsicht in die Physikgeschichte eingegangen ist. Der 1988 an Krebs verstorbene Feynman ist bis heute als bunter Vogel bekannt. Er bewies, dass selbst theoretische Physiker einen Hang zum Sinnlichen haben können. Feynman trommelte gerne, und wie selbstverständlich besuchte er regelmäßig Stripklubs. Zur Legende wurde der US-Amerikaner, als er kurz vor seinem Tod im Untersuchungsausschuss zum Absturz des Challenger-Shuttles öffentlich die verkrustete Bürokratie der NASA anprangerte.

Und bis heute helfen seine Striche und Kringel dabei, eine für Physiker entscheidende Frage zu beantworten: Was passiert, wenn sich Elementarteilchen begegnen? Eine Besonderheit der Quantenphysik ist, dass man keine allgemein gültigen Vorhersagen mehr darüber treffen kann. Vielmehr lassen sich nur noch Wahrscheinlichkeiten angeben, um den Ausgang eines subatomaren Rendezvous zu beschreiben. Eine typische Antwort der Quantenphysik liest sich etwa so: Mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit durchdringt ein Lichtteilchen eine Fensterscheibe, ansonsten wird es von einem Atom im Glas reflektiert.

Was in diesem Beispiel noch leicht anmutet, bereitet im Ernstfall schnell Kopfschmerzen. Denn um die Wahrscheinlichkeit für nur einen Weg zu berechnen, den eine Quantenreaktion nehmen kann, müssen Physiker ein oft kompliziertes Integral lösen. Und wer nur eine Möglichkeit vergisst, bekommt ein falsches Ergebnis, wenn er Vorhersagen über die Quantenwelt treffen will. Dabei war Buchhalten über alle Reaktionswege ein nicht zu unterschätzender Teil der Herausforderung: Selbst die Begegnung zweier Elektronen kann – wenn man sie halbwegs genau berechnen will – über ein knappes Dutzend Wege nehmen, die man alle berücksichtigen musste.

Eine Art Stenografie der Quantenwelt

Feynman-Diagramme dienen als Erinnerungsstütze. In den Raum-Zeit-Diagrammen ist jeweils eine Reaktionsmöglichkeit festgehalten. Durchgezogene Linien symbolisieren dabei Elementarteilchen wie das Elektron. Gewellte, gekringelte oder gestrichelte Linien stehen für Austauschteilchen, die Kräfte zwischen den Elementarteilchen repräsentieren. Das dritte Element der Diagramme sind die Punkte, an denen sich Elementar- und Austauschteilchen treffen. Jedes der drei Elemente entspricht einem komplizierten Ausdruck im Formalismus der Quantenmechanik. Multipliziert man all diese Integrale miteinander, erhält man die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die durch das Diagramm dargestellte Reaktion stattfindet.

"Feynman-Diagramme waren ursprünglich eine Art Stenografie, die letztendlich Rechnungen viel schneller und verlässlicher werden ließ", schrieb der Physiker Hans Christian von Baeyer in einem Aufsatz im Jahr 1999. Vor Feynman hätten die Rechnungen der Quantenelektrodynamik dem Versuch geglichen, mit römischen Zahlen Arithmetik zu betreiben. Eines sind die schicken Bilder aber nicht: eine genaue Abbildung des Zusammentreffens zweier Elementarteilchen. Man solle sie eher als symbolische Rechenhilfe verstehen, heißt es in einem der Standardlehrbücher für Quantenphysik – und ja nicht den Fehler machen, die Linien als Bahn eines Teilchens aufzufassen.

Seinen Stand musste Feynman von der Macht der Bildchen erst überzeugen. Tatsächlich war es für die Bildchen ein weiter Weg aus dem Kopf von Feynman bis an die Tafeln hunderter Vorlesungssäle. Wie der Wissenschaftshistoriker David Kaiser in seinem Buch "Drawing Theories Apart – The Dispersion of Feynman Diagrams" nachzeichnet, begann die Reise vor 65 Jahren in einem Seminarraum im Pocono Manor Inn in Pennsylvania. Im Frühling 1948 trafen sich dort die 28 bedeutendsten westlichen Physiker, um die großen Probleme der Nachkriegsphysik zu diskutieren.

Als Feynman die Tafel im Pocono Manor Inn mit Kringeln und Strichen vollkritzelte, hagelte es aber vor allem Unverständnis. Paul Dirac murmelte eine kritische Anmerkung. "Wo kommt die Formel denn her?", fragte jemand anderes aus dem Publikum, als Feynman die Gleichung vorstellte, mit der man die Wahrscheinlichkeit eines Diagramms berechnen kann. Feyman erwiderte: "Es ist egal, wo die Formel herkommt. Sie funktioniert."

Gemalte Elektronenbahnen

"Es war die Lebenslektion der Gründungsväter der Quantenmechanik, dass klassische Bilder nicht funktionieren", erläutert der Wissenschaftshistoriker Adrian Wüthrich von der Universität Bern, der seine Doktorarbeit über Feynman-Diagramme geschrieben hat ("The Genesis of Feynman Diagrams", 2010). Diracs Physiker-Generation hätte ihr Leben lang dafür gekämpft, dass sich Leute Elektronen nicht mehr auf Kreisbahnen um einen Atomkern vorstellen, sondern im Sinn der Quantenmechanik als Bestandteil einer diffusen Wolke, in der man die Position des Elektrons nur mit Wahrscheinlichkeiten angeben kann. "Und dann kam einer, der plötzlich wieder Elektronenbahnen gemalt hat."

Ein junger Doktorand und zwei Postdocs versuchten dennoch die Diagramme zu Beginn der 1950er Jahre zu benutzen, kamen jedoch bei der gleichen Rechnung zu unterschiedlichen Ergebnissen. Sie waren aber Ausnahmen, denn sonst verbreiteten sich die Diagramme nicht von selbst, so Kaiser. Erst als Feynmans junger Kollege Freeman Dyson nach langen Diskussionen mit Feynman die Regeln der Diagramme veröffentlichte, begannen die nachwachsenden amerikanischen Physiker sie vermehrt einzusetzen.

Zugute kam den Diagrammen ein Wandel in der physikalischen Grundlagenforschung nach dem Zweiten Weltkrieg: In Amerika schossen innerhalb weniger Jahre etliche Forschungsreaktoren und Teilchenbeschleuniger aus dem Boden, welche die Physiker mit Daten aus dem Mikrokosmos überschwemmten. Feynmans Diagramme entpuppten sich als perfektes Werkzeug, um diese Daten zu deuten. "Sie stellten eine Möglichkeit dar, Zahlen auszuspucken, schneller als jemals zuvor", schreibt David Kaiser. In den 1950er und 1960er Jahren bestanden oftmals ganze Doktorarbeiten daraus, bestimmte Feynman-Diagramme zu berechnen.

Feynman sollte zusammen mit seinen Kollegen Julian Schwinger und Sin-Itiro Tomonaga 1965 den Nobelpreis bekommen. Die drei Theoretiker hatten Ende der 1940er Jahre die letzten Hürden bei der Vereinigung von Elektrodynamik und Quantentheorie aus dem Weg geräumt. Bei der Verallgemeinerung dieser "Renormierung" durch Freeman Dyson spielten auch Feynmans Diagramme eine wichtige Rolle. Einige Jahrzehnte später ließ Feynman seinen Van mit einigen der Diagramme bedrucken. Seine Heimatuniversität, das California Institute of Technology in Pasadena, hat eine Wand mit den Bildchen bemalt. Und 2005 druckte das US-Postamt USPS einige Diagramme auf eine Briefmarke. Vielleicht könnte heute sogar Paul Dirac den Bildchen etwas Gutes abgewinnen.

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