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Fische: Das Rind des Meeres kehrt zurück

Allen Hiobsbotschaften zum Trotz: Die Kabeljaubestände in der Nordsee scheinen sich allmählich zu erholen. Doch sie werden auch in Zukunft noch mit Problemen zu kämpfen haben
Zum Trocknen an der Luft aufgehängter Kabeljau auf den Lofoten

Die Sache klang dramatisch: "Nur noch 100 erwachsene Kabeljaus in der Nordsee!" Diese und ähnliche Schlagzeilen geisterten in letzter Zeit vor allem durch die britische Presse. Dabei handelt es sich allerdings um ein Gerücht, das Journalisten in die Welt gesetzt haben. In Wirklichkeit schätzt der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES) den Bestand des erwachsenen und damit fortpflanzungsfähigen Nordseekabeljaus auf etwa 70 000 Tonnen. Da es einer dieser Fische im Durchschnitt auf vier bis fünf Kilogramm Gewicht bringt, wären das grob gerechnet immerhin zwischen 14 und 18 Millionen Tiere – damit ist die Lage nicht mehr ganz so düster wie noch vor ein paar Jahren. "Allmählich scheint sich der Kabeljau in der Nordsee wieder zu erholen", sagt Alexander Kempf vom Thünen-Institut für Seefischerei in Hamburg.

Kabeljauschwarm | Der Kabeljau oder Dorsch war lange der Brotfisch der Europäer: Überfischung ließ dann in den letzten Jahrzehnten die Bestände zusammenbrechen. Langsam erholen sie sich jedoch wieder.

Dass dieser populäre und einst sehr häufige Fisch überhaupt in Schwierigkeiten geraten könnte, hätte lange Zeit wohl kaum jemand für möglich gehalten. Immerhin stand die Art seit Menschengedenken auf den Speisezetteln Europas und machte schon zu Kolumbus' Zeiten Karriere als Proviantfisch für lange Seereisen. Die portugiesischen und spanischen Seeleute, die im 16. Jahrhundert in die Neue Welt segelten, ernährten sich fast ausschließlich von gesalzenem und damit haltbar gemachtem Kabeljau. 200 weitere Jahre lang bestanden rund 60 Prozent aller europäischen Fischmahlzeiten aus dieser einen Art. Und auch im 20. Jahrhundert blieb das "Rind des Meeres" einer der wichtigsten Speisefische überhaupt. Noch Ende der 1970er Jahre wurden allein in der Nordsee bis zu 370 000 Tonnen Kabeljau pro Jahr gefangen. In den letzten 20 Jahren aber kamen immer mehr Hiobsbotschaften aus der Unterwasserwelt. Seine Beliebtheit schien den Kabeljau, im Ostseeraum auch als Dorsch bezeichnet, geradewegs in den Untergang zu führen. Dem Ansturm der zahllosen Schiffe, die ihm mit modernsten Fangmethoden nachstellten, war er einfach nicht mehr gewachsen. Zuerst brachen 1992 die Bestände vor der Küste Neufundlands zusammen, dann erfasste der Kabeljauschwund auch andere Meeresgebiete wie die Nordsee.

Fahndung in der Nordsee

In den Statistiken des ICES lässt sich diese Entwicklung gut verfolgen. Die Organisation mit Sitz in Kopenhagen überwacht die Bestände von wichtigen Fischarten im Nordatlantik sowie in Nord- und Ostsee. Dazu tragen Wissenschaftler der einzelnen Anrainerstaaten Informationen aus den jeweiligen Meeresgebieten zusammen. In Deutschland ist für solche Daten aus dem Nordatlantik und der Nordsee das Hamburger Thünen-Institut für Seefischerei zuständig, das zum Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei gehört. "Wir schicken zum einen Beobachter an Bord von Fischereischiffen, zum anderen unternehmen wir auch eigene Forschungsfahrten", erläutert Alexander Kempf. Eine repräsentative Stichprobe der kommerziell oder zu Forschungszwecken gefangenen Fische wird dabei vermessen und anderweitig untersucht. Interessant sind zum Beispiel kleine Gehörsteinchen im Innenohr der Tiere, die Biologen "Otolithen" nennen. "Ähnlich wie in Bäumen finden sich in diesen Steinchen Jahresringe", erklärt Kempf. "Und an denen können wir das ungefähre Alter des jeweiligen Fisches ablesen." So gewinnen die Forscher einen Überblick über die Größe und Demografie der Bestände in verschiedenen Regionen. Diese Mosaiksteine setzen sie dann im Rahmen von ICES zu einem Gesamtbild der Situation des Nordseekabeljaus zusammen.

Den absoluten Tiefpunkt hatten die Bestände diesen Daten zufolge im Jahr 2006 erreicht. Insgesamt sollen damals in der Nordsee nur noch rund 30 000 Tonnen erwachsener Dorsch geschwommen sein. "Seither beobachten wir wieder eine allmähliche Zunahme", sagt Kempf. Den Grund für die Erholung sieht der Wissenschaftler hauptsächlich in einer besseren Überwachung und strengeren Regulierung der Fischerei. Sehr lange hatten die ICES-Experten Jahr für Jahr für geringere Fangquoten plädiert, um die ausgedünnten Bestände aufzupäppeln. Doch der EU-Ministerrat hatte sich immer wieder über die wissenschaftlichen Argumente hinweggesetzt und den Fischern höhere Quoten genehmigt.

Diese politische Entscheidung war in den Augen vieler Experten ein schwerer Fehler. So haben Rainer Froese vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung (GEOMAR) in Kiel und Martin Quaas von der Universität Kiel mit Computermodellen simuliert, was ein besseres Management der Bestände hätte bewirken können. Demnach hätte es genügt, im Jahr 2003 einen Fangstopp zu verhängen. Nach drei Jahren wären dann die Bestände so weit erholt gewesen, um den Fang wieder zu erlauben. Anschließend hätte man die Fangmenge in den wachsenden Populationen schrittweise immer weiter steigern können, so dass die Fischer den Berechnungen zufolge trotz des dreijährigen Fangstopps in den Jahren 2003 bis 2011 insgesamt gut 591 000 Tonnen Kabeljau aus der Nordsee hätten ziehen können. In der Realität waren es über 50 000 Tonnen weniger.

Inzwischen hat allerdings auch die Europäische Union auf das Überfischungsproblem reagiert, seit 2008 gibt es einen verbesserten Managementplan für den Speisefisch. Dieser enthält nun genaue Vorschriften, nach welchen Regeln die Fangquoten geändert werden dürfen. Damit schiebt er allzu großen, kurzfristigen Quotenschwankungen einen Riegel vor. Auch dürfen die Fischer nicht mehr beliebig viel Aufwand betreiben, um trotz dezimierter Bestände ihre Netze zu füllen. "Diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass sich unser Kabeljau jetzt langsam erholt", meint Alexander Kempf. Trotzdem sind in seinen Augen noch längst nicht alle Probleme gelöst.

Stockfisch | Kabeljau ist in vielen Ländern weiterhin eine begehrte Fischspeise – etwa als Stockfisch auf den Lofoten oder in Spanien. Hier trocknet Kabeljau an der Luft.

Gerade in der Nordsee nützt es dem Fisch zum Beispiel wenig, wenn nur für seine eigene Art strenge Fangquoten gelten. Denn anders als etwa in der Ostsee oder der Barentssee gibt es dort kaum Fischer, die es gezielt nur auf diese Art abgesehen haben. Vielmehr landet ein großer Teil des gefangenen Kabeljaus in Netzen, die eigentlich für andere Arten wie Schellfisch ausgeworfen werden. Eine hohe Fangquote für Schellfisch kann also dazu führen, dass unbeabsichtigt auch viel Kabeljau aus dem Wasser gezogen wird. Neben einer genauen Abstimmung der Quoten für die einzelnen Arten sind daher auch selektivere Fangmethoden gefragt. "Man kann dazu bestimmte Gebiete meiden oder auf eine verbesserte Netztechnik setzen", meint Kempf. Manche Netze sind zum Beispiel so konstruiert, dass sich darin vor allem Fischarten verfangen, die bei Gefahr nach oben flüchten. Tiere, die wie der Kabeljau Richtung Meeresgrund zu entkommen versuchen, haben dadurch bessere Überlebenschancen.

Fische im Treibhaus

Entscheidend wird jedenfalls sein, dass künftig ein geringerer Anteil des Bestandes gefangen wird. "Wir müssen auf jeden Fall dafür sorgen, dass diese so genannte fischereiliche Sterblichkeit weiter sinkt und auf einem niedrigen Niveau gehalten wird", sagt der Hamburger Forscher. Denn auch ohne den extremen Druck der Fangflotten stehen den Tieren wohl keine einfachen Zeiten bevor. Zahlreiche Studien deuten nämlich darauf hin, dass der Dorsch Probleme mit dem Klimawandel bekommen könnte – oder sogar heute schon hat. "Der Bestand in der Nordsee vermehrt sich relativ schlecht", sagt Kempf. "Und das hängt offenbar mit den steigenden Wassertemperaturen zusammen."

Im Prinzip können Kabeljauweibchen ihre Eier zwar bei Temperaturen zwischen null und etwa zwölf Grad Celsius ablegen, sie bevorzugen allerdings die kälteren Gewässer bis zu etwa sechs Grad Celsius. In der Nordsee ist das Wasser in den 1990er Jahren jedoch deutlich wärmer geworden. Durchschnittlich kletterte das Thermometer dort in der ersten Jahreshälfte auf mehr als acht Grad Celsius. Seither vermehrt sich der Kabeljau in diesen Gewässern immer schlechter. Woran das genau liegt, ist allerdings unklar. Denn hohe Temperaturen können den Fischen gleich auf mehreren Ebenen zu schaffen machen. So hat eine ICES-Forschergruppe um den Briten Clive Fox festgestellt, dass sich der eigentliche Schwerpunkt der Kabeljauverbreitung zwar weiter Richtung Norden verschoben hat. Trotzdem hält die Art offensichtlich sehr konservativ an ihren stark erwärmten Laichgründen in der südlichen Nordsee fest. Zu hohe Temperaturen aber können bei Kabeljau zu Stoffwechselproblemen führen, zeigen Untersuchungen von Hans-Otto Pörtner und Rainer Knust vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Das Herz-Kreislauf-System der Tiere kann den Körper dann nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgen. Betroffene Fische sind nicht nur weniger leistungsfähig und wachsen langsamer, sie vermehren sich auch schlechter. Alf Skovgaard von der Universität Kopenhagen und seine Kollegen vermuten außerdem, dass die Larven des Fischs in warmen Gewässern stärker unter Parasitenbefall leiden. Im Jahr 2001 haben die Forscher in vor Dänemark gefangenem Fischnachwuchs viel häufiger parasitische Fadenwürmer der Art Hysterothylacium aduncum gefunden als noch 1992 – eine Entwicklung, die ihrer Ansicht nach auf die gestiegenen Wassertemperaturen zurückzuführen ist.

Zusätzlich hat der Klimawandel den Jungtieren offenbar auch ein Nahrungsproblem beschert. Die Larven fressen mit Vorliebe kleine Ruderfußkrebse der Art Calanus finmarchicus, die jedoch eher kühles Wasser bevorzugen. Mit den steigenden Temperaturen gegen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre begannen sich daher die Lebensbedingungen für diese Art zu verschlechtern. Stattdessen schwebte nun vermehrt eine andere Krebsart namens Calanus helgolandicus im Plankton – ein schlechter Tausch. Denn diese Ruderfußkrebse sind kleiner und weniger nahrhaft als ihre Kälte liebenderen Kollegen; zudem treten sie erst im Herbst in großen Mengen auf, wenn die Kabeljaukinderstube schon größere Beute braucht.

Zu allem Überfluss haben die Larven dann auch noch mit einem gefräßigen Feind zu kämpfen. Seit Ende der 1980er Jahre ist in der Nordsee der Graue Knurrhahn auf dem Vormarsch. Dieser Fisch hat offenbar vom Rückgang des Kabeljaus profitiert und einen Teil von dessen ökologischen Nischen besetzt. Und er macht seinem Konkurrenten die Rückkehr nicht leichter, wie Alexander Kempf und seine Kollegen herausgefunden haben: Der Graue Knurrhahn hat sich auf das Fressen von Fischlarven spezialisiert – und legt dabei eine besondere Vorliebe für Kabeljau an den Tag.

Trotz aller Widrigkeiten sieht Alexander Kempf die Zukunft des Nordseekabeljaus jedoch nicht allzu schwarz. "Wenn wir den Managementplan weiter konsequent einhalten, wird er sich auch weiter erholen", meint der Experte. Wie groß die Bestände in Zeiten des Klimawandels wieder werden können, wagt allerdings derzeit niemand zu prognostizieren. Doch mehr als 100 erwachsene Fische werden wohl auch in Zukunft noch in der Nordsee schwimmen.

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