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Geologie: Erben der Eiswelt

Nach einer globalen Eiszeit vor 700 Millionen Jahren gelangten Unmengen Phosphat in die Ozeane - machte dieses geologische Ereignis vielzellige Organismen erst möglich?
Antarktis
Für den größten Teil ihrer Existenz war die Erde ein Planet der Mikroorganismen. Mehr als zwei Milliarden Jahre lang, durch das gesamte Erdzeitalter des Proterozoikums hindurch, geschah – abgesehen von Asteroidentreffern oder zerbrechenden Superkontinenten – kaum etwas Interessantes. Einzeller und Algenmatten beherrschten die weltweiten Ozeane, und hunderte Meter große Stromatolithen wuchsen in den küstennahen Gewässern heran. Doch das änderte sich vor etwa 700 Millionen Jahren, in einer Epoche, die man heute als Cryogenian bezeichnet – oder populärer: Schneeball-Erde.

Mindestens zweimal drangen zu dieser Zeit Gletscher bis in die Nähe des Äquators vor und stürzten den Planeten in globale Eiszeiten, die in heißen und stürmischen Supertreibhaus-Perioden endeten. Als der Planet diese unruhige Phase vor etwa 620 Millionen Jahren hinter sich ließ, betrat eine neue, nie dagewesene Form von Organismus die Bühne: Zellen schlossen sich zu größeren Einheiten zusammen und spezialisierten sich auf bestimmte Aufgaben. Die ersten Vielzeller begannen, die Erde zu bevölkern.

Haben die beiden Ereignisse mehr miteinander gemeinsam als den bloßen Zeitpunkt? Wissenschaftler vermuten seit einiger Zeit, dass die globale Vereisung den Aufstieg der Vielzeller erst möglich gemacht hat, und einen möglichen Mechanismus für diesen Zusammenhang hat jetzt ein internationales Forscherteam aus Chemikern und Ozeanografen vorgestellt. Die Wissenschaftler sehen im Phosphat das entscheidende Verbindungsglied zwischen Geologie und Biologie.

Tatsächlich bestimmt die Phosphatkonzentration die Produktivität der Ozeane über geologische Zeiträume. Das Element ist für die Bildung des Erbmoleküls DNA ebenso unverzichtbar wie für den Energiehaushalt aller Zellen. Ohne Phosphor kein Leben. Aktuelle Untersuchungen an Sedimentproben zeigen nun, dass die totale Vergletscherung der Erde dramatische Auswirkungen auf den Phosphathaushalt der Weltmeere hatte.

Vor etwa 750 Millionen Jahren kühlte sich die Welt durch eine verhängnisvolle Rückkopplung aus Verwitterung und Albedo deutlich ab. Gletscher bedeckten die Kontinente bis in die Nähe des Äquators, wie die Magnetisierung glazialer Sedimente aus jener Zeit ebenso demonstriert wie Gletscherschutt, der direkt auf tropischen Karbonatplattformen abgelagert wurde. Wissenschaftler streiten bis heute, wie vollständig die Erde vom Eis begraben war und wie lange diese Schneeball-Phasen dauerten. Sicher ist: Die Eismassen raspelten Milliarden Tonnen Schutt und Trümmer vom Grundgestein – und sie lagen wie eine Schutzhülle über Land und Meer. Verwitterung und Gasaustausch, ganze geochemische Kreisläufe kamen zum Erliegen.

Das ist auch der Grund, weshalb die Eiszeit nicht andauerte: Auch der Kohlenstoffkreislauf war unterbrochen, so dass sich Kohlendioxid aus Vulkanen langsam in der Atmosphäre anreicherte. Bald war die Konzentration des klimawirksamen Gases so hoch, dass der Treibhauseffekt das Eis schmelzen ließ, und das Klima in die andere Richtung ausschlug: Die Erde verwandelte sich in ein Supertreibhaus mit gigantischen Stürmen, die die Ozeane bis in hunderte Meter Tiefe aufwühlten. Das von den Eismassen zermahlene Gestein begann sich unter dem Einfluss der Atmosphäre zu zersetzen und Nährstoffe freizugeben – darunter auch Phosphat, von dem die Forscher um Timothy Lyons von der University of California beträchtliche Mengen in den Gesteinen jener Zeit fanden.

Wie viel des Leben spendenden Elements in vergangenen Äonen im Meerwasser gelöst war, lässt sich aus eisenhaltigen Sedimenten ablesen. Phosphat bindet an Eisenoxide, und zwar in umso größerer Menge, je mehr in der Wassersäule vorhanden ist. Die Forscher identifizierten in Sedimenten der letzten drei Milliarden Jahre mehrere Zeiträume mit konstanten Phosphatanteilen in den eisenhaltigen Sedimenten. Es stellte sich unter anderem heraus, dass die Phosphatkonzentration der Weltmeere im Phanerozoikum, den letzten 542 Millionen Jahren der Erdgeschichte, im Wesentlichen konstant war. Das Gleiche gilt für das Proterozoikum, das die zweieinhalb Milliarden Jahre vorher umfasst.
Ein Schneeball verändert die Erde | Verwitternder Gletscherschutt ließ die Phosphatkonzentration im Ozean stark ansteigen – die Folge war eine Algenblüte, die die Atmosphäre mit Sauerstoff flutete.
In den Sedimenten des Cryogenians jedoch, also zur Zeit der großen Vereisung und kurz danach, fanden die Forscher deutlich mehr Phosphat. Über fünfmal so hoch wie heute muss dessen Konzentration im Meerwasser gewesen sein, verglichen mit heutigen Werten – mindestens. Schätzungen anhand der Siliziumkonzentration, die den Wert ebenfalls beeinflusst, deuten darauf hin, dass es sogar noch viel mehr gewesen sein könnte. Mit dem Ende der Vergletscherung gelangten gewaltige Mengen Phosphat ins Meer.

Wenn heute ein Gewässer unerwartet mit zuvor knappen Nährstoffen geflutet wird, bildet sich sofort ein Teppich aus Algen. Algen allerdings gab es schon vor 600 Millionen Jahren, und dank der Nährstoffe aus den plötzlich verwitternden Gesteinsmassen lebten sie nach dem Ende der globalen Eiszeit überraschend im Schlaraffenland. Diese bis dahin beispiellose Algenblüte muss Jahrzehntausende gedauert haben – so lange verbleibt Phosphat im Wasser, bis es in den Sedimenten des Meeresbodens begraben und dem Kreislauf entzogen wird. In dieser Zeit sanken auch enorme Mengen des pflanzlichen Kohlenstoffes auf Nimmerwiedersehen in die Tiefsee. Isotopenmessungen an Tiefseesedimenten belegen, dass zu jener Zeit viel organischer Kohlenstoff in der Tiefsee begraben wurde.

Damit aber verändert sich auch die Zusammensetzung der Atmosphäre. Jedes einzelne Kohlenstoffatom dieser organischen Materie war zuvor Bestandteil von Kohlendioxid gewesen, bevor es durch die Fotosynthese in biologisches Material umgewandelt wurde. Bei diesem Vorgang entsteht als Abfallprodukt Sauerstoff. Fotosynthese treibende Algen erzeugten schon seit Milliarden Jahren kleine Mengen Sauerstoff, doch der Anteil des Gases an der Atmosphäre überstieg kaum ein Prozent.

Das änderte sich mit der Phosphat-induzierten Algenblüte am Abschluss des Cryogenians drastisch: Als das Gesteinsmehl aufgebraucht und das Phosphat wieder auf Normalniveau war, hatten Algen und andere Organismen den Sauerstoffanteil auf Werte hochschnellen lassen, die ungefähr der heutigen Konzentration entsprachen. Damit stand den Lebewesen eine Energiequelle zur Verfügung, deren Effizienz alle bisher dagewesenen Stoffwechselwege um ein Vielfaches übertraf – die Sauerstoffatmung erst verschafft Vielzellern die Energiereserven, einzelne Zellen für Sonderaufgaben anzustellen. Mit dem neuen, aus dem Schutt zermahlener Gesteinsschichten geborenen Treibstoff begann eine Entwicklung, die das Gesicht der Erde ebenso dramatisch veränderte wie die Entstehung des Lebens selbst.

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  • Quellen
Lyons, T. et al.: The evolution of the marine phosphate reservoir. In: Nature 467, S. 1088 – 1090, 2010.

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