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Hirnforschung: "Wir hätten nicht geglaubt, dass das machbar ist"

"BigBrain" heißt der bislang genaueste Atlas für unser Gehirn. Im Interview erzählt Katrin Amunts, was die interaktive Karte bringt - und wieso der Erfolg nur scheibchenweise kam.
Mikrotom

Frau Amunts, Sie und Ihr Team haben gerade nach jahrelanger Arbeit den bislang genauesten und umfangreichsten 3-D-Atlas eines menschlichen Hirns online gestellt. Wie kommt man zu einer solchen Unternehmung?

Zellarchitektur fasziniert mich schon seit der Studienzeit. Es geht dabei ja nicht nur um eine anatomische Beschreibung. Die Anordnung der Zellen hängt eng mit der Funktion des Gehirns und unserem Verhalten zusammen. Neurone sind eben nicht zufällig verteilt. Aber warum sie genau so und nicht anders angeordnet sind und wie das mit der Hirnfunktion zusammenhängt, das ist noch immer nicht gut verstanden.

Und beim Verständnis hilft der 3-D-Atlas?

Ja, mit der herkömmlichen Methode kommt man irgendwann nicht mehr weiter. Man kann Gewebeschnitte anfertigen und unter dem Mikroskop die Struktur untersuchen. Aber wegen der gefalteten Oberfläche des Gehirns bleiben immer wieder wesentliche Bereiche verborgen, weil sie ungünstig angeschnitten wurden. Bei einem dreidimensionalen Modell unterliegt man nicht mehr derartigen Beschränkungen.

Katrin Amunts | Katrin Amunts ist seit Anfang des Jahres die Direktorin des Cécile und Oskar Vogt-Instituts für Hirnforschung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und außerdem Leiterin des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich.

Geschnitten wird dann nicht mehr im Labor, sondern virtuell am Computer?

Richtig. Das ist die Idee. Man kann damit beispielsweise die Großhirnrinde viel genauer in Areale unterteilen. Wir haben uns deshalb schon vor zehn Jahren das Ziel gesetzt, ein Gehirn, das wir bereits in tausende feiner Scheiben geschnitten hatten, am Computer wieder zusammenzusetzen. Dass das tatsächlich machbar sein würde, haben wir damals allerdings selbst nicht so recht geglaubt.

Nicht machbar? Warum?

2003 war die Technik eigentlich noch nicht so weit. Wir hatten siebeneinhalbtausend Schnitte, die nach dem Digitalisieren rund ein Terabyte Rohdaten umfassten. Um eine solche Datenmenge zu verarbeiten und darzustellen, benötigt man eine umfangreiche Infrastruktur. Glücklicherweise war das BigBrain-Projekt von vorneherein längerfristig angelegt. Es kostet ja schon Monate, die Schnitte aufzubereiten. Und allein das Einscannen der Schnitte hat etwa 1000 Stunden in Anspruch genommen.

Wenn Sie einscannen sagen, meinen Sie mit dem Mikroskop abfotografieren?

Nein, mit den Mikroskopen von damals hätte man die Proben gar nicht vollständig abfahren können. Aber Flachbettscanner bieten eine ausreichende Auflösung. Anschließend war es allerdings noch notwendig, die Aufnahmen nachzubearbeiten. Auch hier hatte glücklicherweise die Bildbearbeitung entscheidende Fortschritte gemacht. Mit Kollegen aus Kanada haben wir Routinen entwickelt, um Fehler beheben zu können. Wenn beispielsweise ein Stückchen Hirngewebe beim Schneiden verschoben wurde, musste es mit Hilfe des Computers wieder an die richtige Stelle gesetzt werden.

Für das Zusammensetzen der Einzelbilder haben sie schließlich Supercomputer in Anspruch genommen …

Ja, bei einer solchen Aufgabe kommen Sie mit einem Laptop nicht weit, nicht mal mit einem Rechnerverbund. Wir haben deshalb mit dem Zentrum für High Performance Computing in Sherbrooke in Kanada und später hier am Forschungszentrum Jülich zusammengearbeitet.

Anfertigung der Hirnschnitte | Die Wissenschaftler erzeugten aus dem konservierten Gehirn einer 65-Jährigen exakt 7400 Scheiben von nur 20 Mikrometer Dicke. Dazu verwendeten sie ein Schneidegerät zur Herstellung extrem dünner Schnittpräparate, der Mikrotome.

Im Atlas erreichten Sie am Ende eine Auflösung von 20 Mikrometern. Was kann man dabei erkennen?

Größere Zellen können Sie direkt sehen, vor allem aber erkennt man die Struktur in der Großhirnrinde, die architektonischen Merkmale wie Schichten oder Säulen. Diese Eigenschaften sagen viel darüber aus, wie Verbindungsmuster in einer Hirnregion ausgeprägt sind. Und diese Verbindungen hängen eng mit der Funktion von Arealen zusammen.

In Ihrer Veröffentlichung wünschen Sie sich für den Atlas die Funktion als "Goldstandard", das heißt als Referenzsystem. Was ist damit gemeint?

Wenn Sie nun beispielsweise Daten über die Aktivität einer Nervenzelle in bestimmten Bereichen des Gehirns erheben, hilft unser Atlas dabei, diese Ergebnisse eindeutig in drei Dimensionen zu verorten und die Aktivität zum Beispiel einer bestimmten Zellschicht zuzuordnen. Das ist vor allem wichtig, wenn Messwerte verschiedener Forschergruppen miteinander verglichen werden sollen. Ich denke, dass unser Atlas in dieser Hinsicht ein gutes Werkzeug darstellt, mit dem diese Vereinheitlichung möglich ist. Das wollen wir natürlich nicht allein erledigen, sondern unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Human Brain Project oder der INCF, der International Neuroinformatics Coordinating Facility, die die Standardisierung und Kooperation von Forschergruppen vorantreibt.

Ein Fachkollege hat Ihre Arbeit mit den Leistungen der Kartografen des 17. Jahrhunderts verglichen. Empfinden Sie das als passenden Vergleich?

Ich würde es zwar nicht so ausdrücken, aber ich denke, worauf der Kollege hier anspielt, ist die Tatsache, dass man nun erstmals akkurate Karten zur Hand hat. Keine weißen Flecken mehr, die mit Tierdarstellungen ausgefüllt wurden, sondern reale Daten, wenn Sie so wollen. Das war damals ein Durchbruch, und etwas Ähnliches hoffen wir auch erreicht zu haben. Tatsächlich bekommen wir auch viel positive Rückmeldung. Mit der Auflösung, die unser BigBrain-Atlas liefert, liegen wir deutlich über dem, was bislang verfügbar war. Der Vergleich zeigt aber auch, dass wir noch nicht am Ende angelangt sind. Wir haben jetzt die grundlegende Zellarchitektur sichtbar machen können, aber früher oder später wird man auf die Ebene einzelner Zellen hinunter müssen.

Das heißt, die Auflösung müsste noch weiter erhöht werden?

Das wäre eine Überlegung. Seit ein paar Jahren existieren Scanner, mit denen sich die Datenerfassung bewerkstelligen ließe. Allerdings wächst die Datenmenge dadurch enorm.

Haben Sie einmal ausgerechnet, wie viel Sie bei einer 1-Mikrometer-Auflösung speichern müssten?

Das wären in jeder Raumdimension um den Faktor 20 mehr Daten. Im Endergebnis landet man also bei gut acht Petabyte nur an Ausgangsdaten. Da müssen wir uns mit den Kollegen vom Supercomputing-Zentrum in Jülich noch einmal genauer unterhalten … Man würde neue Soft- und Hardware benötigen. Besonders die Visualisierung und der Interaktive Umgang mit den Daten würde heute Schwierigkeiten bereiten.

© Montreal Neurological Institute/McGill University, Institute of Neuroscience and Medicine/Research Centre Juelich, and National Research Council of Canada
Th BigBrain
Durch eine Auflösung von 20 Mikrometern werden einzelne Details der verschiedenen Hirngebiete sichtbar.

Also das Navigieren durch das virtuelle Hirn?

Neurowissenschaftler schätzen eine interaktive Herangehensweise, wie wir sie mit dem BigBrain-Atlas ja auch ermöglichen: Jeder kann auf der Website durch die Bilder blättern und den Blickwinkel ändern, bis er genau das gefunden hat, was er sucht. Ein statisches Modell bietet diese Möglichkeit nicht.

Das heißt, zunächst bleibt es bei der jetzigen Auflösung?

Vorerst ja. Unser nächstes Ziel ist vor allem, mehr als nur ein Gehirn in dieser Art aufzubereiten. Das ist noch ein Grund, weshalb mir der Vergleich mit den alten Kartografen nicht so gut gefällt: Wir haben nur eine Welt, die man beliebig genau abbilden kann. Aber unsere Gehirne sind alle sehr verschieden. Entsprechend benötigen wir mehrere Karten, aus denen die individuellen Unterschiede hervorgehen.

Sie müssen also zurück an die Schnittmaschine?

Ja. Mit einem zweiten Gehirn haben wir bereits angefangen. Und es ist gut möglich, dass auch noch weitere folgen.

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