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Intelligenz: Werden wir immer klüger?

Heidelberg. Bei Intelligenztests erzielen Menschen im Durchschnitt von Jahr zu Jahr bessere Ergebnisse. Heißt das, irgendwann wird die Erde von lauter Genies bevölkert sein? Woher kommt der rätselhafte IQ-Anstieg eigentlich?
Abstraktionsvermögen

Vor bald dreißig Jahren entdeckte der amerikanische Forscher James R. Flynn von der University of Otago (Neuseeland) ein Phänomen, das noch immer Rätsel aufgibt: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts steigt der durch Tests ermittelte Intelligenzquotient (IQ) stetig an. Flynn überprüfte die Ergebnisse aus mehr als zwei Dutzend Ländern und stellte fest, dass die IQ-Werte um durchschnittlich drei Punkte pro Jahrzehnt zunahmen. Seither haben zahlreiche Studien den globalen Aufwärtstrend bestätigt, den man heute Flynn-Effekt nennt.

Und die Werte steigen weiter. "Zu meinem Erstaunen setzt sich der Anstieg im 21. Jahrhundert fort", erklärt Flynn in der Mai-Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft. "Wie die neuesten Daten zeigen, klettern die Werte in Amerika weiter um 0,3 Punkte pro Jahr." Der seltsame Effekt treibt den IQ anscheinend unaufhaltsam nach oben.

Das bedeutet, dass Kinder ihre Eltern bei Intelligenztests im Durchschnitt um zehn Punkte übertreffen. Falls sich die Entwicklung fortsetzt, werden unsere Nachkommen am Ende dieses Jahrhunderts um fast 30 Punkte besser abschneiden. Das entspricht dem Abstand zwischen durchschnittlicher Intelligenz und den schlauesten zwei Prozent der Bevölkerung. Aber kann sich der Trend ewig fortsetzen? Werden die Menschen künftig nach heutigen Maßstäben Genies sein?

Bald nachdem Forscher den Flynn-Effekt bestätigt hatten, erkannten sie, dass die ansteigenden IQ-Werte fast ausschließlich von bestimmten Teilen der gebräuchlichsten Intelligenztests herrühren. Solche Tests bestehen aus mehreren Bausteinen, die jeweils unterschiedliche Fähigkeiten prüfen. Man könnte nun erwarten, dass sich mit der Zeit vor allem vermehrtes Schulwissen in besseren Testresultaten niederschlägt. Doch das ist nicht der Fall: Die Überprüfung von Rechnen und Wortschatz liefert mehr oder weniger konstante Ergebnisse.

Die meisten IQ-Zuwächse stammen aus Untertests, die auf abstraktes Denken zielen. Beispielsweise wird gefragt: "Was haben Äpfel und Orangen gemeinsam?" Die Antwort "Beide sind essbar" bekommt eine schlechtere Note als „Beide sind Früchte", denn die zweite Aussage geht über die Angabe des simplen Gebrauchs hinaus. Andere Untertests bestehen aus einer Reihe von geometrischen Mustern, die auf abstrakte Weise verwandt sind, und der Prüfling muss diesen Zusammenhang richtig angeben.

Solche Tests wurden eigentlich entworfen, um den nicht sprachlichen und nicht von Kultur abhängigen Anteil der Intelligenz zu messen – also die angeborene Fähigkeit, neuartige Probleme zu lösen. Doch wie der Flynn-Effekt deutlich zeigt, übt irgendetwas in der Umwelt einen merklichen Einfluss auf die vermeintlich kulturunabhängigen Komponenten der Intelligenz aus, und zwar weltweit. Flynn und viele andere Forscher sind überzeugt, dass die ansteigenden IQ-Zahlen keinen Zuwachs an reiner Gehirnleistung widerspiegeln. Vielmehr zeigt der Flynn-Effekt, wie modern unser Verstand geworden ist. Die beschriebenen Tests erfordern die Fähigkeit, abstrakte Kategorien zu erkennen und Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Und diese Fähigkeit ist nach Flynns Überzeugung im letzten Jahrhundert nützlicher geworden als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte.

Vielleicht sind wir daher gar nicht intelligenter als unsere Vorfahren, aber zweifellos hat sich unser Verstand verändert. Flynn glaubt, dass die Veränderung von der industriellen Revolution ausging. Damals entstanden staatliche Schulsysteme, kleinere Familien und eine Gesellschaft, in der mehr Menschen in technischen Berufen oder in Büros arbeiteten als in der Landwirtschaft. Neue Berufsbilder entstanden – Ingenieure, Elektriker, Architekten –, die Abstraktionsvermögen verlangten. Die bessere Bildung trieb wiederum Innovationen und sozialen Wandel voran. So entstand eine positive Rückkopplung zwischen unserem Verstand und einer dynamischen, auf Technik beruhenden Kultur. Bei dieser Entwicklung ist offenbar noch lange kein Ende abzusehen.

Abdruck honorarfrei bei Quellenangabe: Spektrum der Wissenschaft, Mai 2013
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