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Interview: Streiter für rationales Denken

Wie sieht ein britischer Spitzenforscher mit deutschen Wurzeln den Forschungsstandort Deutschland? Ein Gespräch über Wissen und Glauben mit dem Chemiker Sir Harold Kroto am Rande der Lindauer Nobelpreisträgertagung.
Harold Kroto
Harold Kroto ist der Sohn deutscher Eltern, die 1937 nach England emigrierten. Der Chemiker erhielt 1996 den Nobelpreis in Chemie für die Entdeckung des Buckminster-Fulleren C60. Seither engagiert er sich für naturwissenschaftliche Bildung bei Kindern und Jugendlichen.

Sir Harold Kroto | 1996 wurde Harold Kroto gemeinsam mit Robert F. Curl Jr. und Richard E. Smalley mit dem Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung der Fullerene ausgezeichnet. Seit 2004 arbeitet er an der Florida State University in Tallahassee. Er engagiert sich stark in Bildungsprojekten im Internet und ist bekennender Atheist. Als er nach dem Interview erstaunt feststellte, dass er seinen Sitz im Restaurant der Lindauer Inselhalle ausgerechnet unter einem Kruzifix gewählt hatte, empörte er sich über die Brutalität, die darin zum Ausdruck kommt: "Das ist die unmenschlichste Art, jemanden zu töten. Es macht mich wütend, wenn Leute ein Kreuz um den Hals hängen haben und nicht darüber nachdenken, was es bedeutet, auf derart grausame Weise zu Tode gefoltert zu werden."
spektrumdirekt: Professor Kroto – Ihre Familie stammt ursprünglich aus Schlesien. Ihre Eltern wurden beide in Berlin geboren, mussten auf Grund der jüdischen Herkunft Ihres Vaters aber vor dem Hitler-Regime fliehen. Sie selbst wurden 1939 in England geboren. Haben Sie jemals mit dem Gedanken gespielt, in Deutschland zu studieren oder zu forschen?

Harold Kroto: Nein, der Sprache wegen – meine Sprache ist Englisch. Ich bin ein Mensch, der immer geradeheraus denkt und spricht – und muss mich entsprechend ausdrücken können. Als Kind habe ich natürlich Deutsch gelernt und spreche noch immer ein paar Brocken. Aber das hätte mir nie gereicht, um in Deutschland zu arbeiten.

Abseits des offiziellen Programms der diesjährigen Lindauer Nobelpreisträgertagung debattieren deutsche Forscher, Wissenschaftsmanager und -politiker viel über den Forschungsstandort Deutschland. Man fürchtet, im weltweiten Wettbewerb von China und anderen ostasiatischen Staaten überholt zu werden. Teilen Sie diese Angst?

Das Problem ist in der Tat riesig – aber kein spezifisch deutsches. Die ganze westliche Welt tut nicht genug für Bildung und Wissenschaft. Vor allem bieten wir unseren Kindern völlig falsche Rollenvorbilder. Sie wollen Fußballstar werden oder Fotomodell. Als ob diese Dinge zählten! Chinesische Kinder hingegen leben überwiegend nach wie vor in Armut. Sie lechzen geradezu danach, dieser Lage zu entkommen – durch Bildung! Und sie werden von einer immer besseren Infrastruktur aufgenommen, in die aktuell enorm investiert wird. Doch davon mal abgesehen: Auf lange Sicht können wir ohnehin nicht mit mehr als zwei Milliarden Chinesen und Indern konkurrieren.

Wie sehen Sie Deutschland von außen? Sind wir forschungs- und technikfeindlicher als andere Nationen? Deutsche Forscher klagen mitunter, dass wir bei Themen wie Nanotechnologie oder Gentechnik immer nur die Risiken sehen – und wichtige Entwicklungen verpassen. Nach dem Gau von Fukushima haben wir als einziges Land weltweit beschlossen, möglichst schnell aus der Kernenergie auszusteigen ...

Diese Entscheidung wird noch auf die Deutschen zurückfallen! So wünschenswert es wäre – wir haben schlicht nicht die alternativen Energiequellen, um fossile Brennstoffe und Kernkraft einfach so zu ersetzen. Wenn es in ein paar Jahren im Winter einmal bitterkalt wird und man in Hamburg oder Berlin Strom, Öl und Gas rationiert, dann werden sich die Deutschen umschauen. Der weltweite Energiebedarf wächst unaufhörlich. Jeder will fernsehen, telefonieren, es angenehm kühl oder warm haben, je nachdem. Weil wir die Menschen nicht ausreichend versorgen können, wird es irgendwann zu handfesten sozialen und politischen Spannungenkommen – auch in Europa und den USA.

Sie engagieren sich stark für Bildung durch digitale Medien. Was treibt Sie an?

Das Internet ist nach dem Buchdruck die zweite Bildungsrevolution der Geschichte. Dank Gutenberg konnten erstmals einzelne Personen ihre Ideen zum Wissensschatz der Menschheit beitragen. Das Internet hat dies nochmals radikal vereinfacht: Jetzt kann sich wirklich jeder mitteilen. Dafür engagiere ich mich in unserem Geoset-Projekt (Global Educational Outreach for Science, Engineering and Technology), das auf einer Webseite vielfältiges Informationsmaterial über Wissenschaft sammelt. Dort können sich sogar Kinder einbringen.

Verbringen Kinder nicht zu viel Zeit mit elektronischen Medien?

Es kommt natürlich darauf an, was man macht. Bildung ist gut, Facebook finde ich höchst fragwürdig. Aber da ist noch etwas anderes: Als ich ein Kind war, habe ich meine elektrische Eisenbahn auseinandergenommen, um zu schauen, wie sie funktioniert. Später habe ich selbst einen einfachen elektrischen Motor gebaut. Dadurch habe ich die Technik verstanden und mich noch mehr dafür interessiert. Heute aber spielen Kinder mit Tablet-PCs oder Handys. Das sind fantastische Geräte, aber keiner kann sie einfach mal so aufschrauben und nachbauen. Da ist etwas Wichtiges verloren gegangen. Bei all meiner Sympathie für digitale Medien muss ich das zugeben.

Sie führen auch Workshops mit Kindern und Jugendlichen durch. Worauf kommt es Ihnen an?

Im Gespräch | Harold Kroto im Gespräch mit Spektrum-Chefredakteur Carsten Könneker
Es geht mir um rationales Denken. Kinder sollen verstehen, warum die Welt so ist, wie sie ist. Wissenschaft liefert tiefere philosophische Einsichten als alles andere, was Menschen praktizieren – vor allem im Vergleich mit Religion. Religion ist das größte Geschäft auf Erden: ein Geschäft mit der Dummheit der Leute. Doch viele erkennen das nicht! Bei uns in Tallahassee saß ein Mann jahrelang unschuldig im Gefängnis. Ihm waren Vergewaltigung, Entführung und weitere Straftaten zur Last gelegt worden. Seine Mutter sagte ihm: "Gott wird Dich da rausbringen." Als er 2006 nach 24 Jahren tatsächlich freikam, hörte ich ihn im Radio sagen: "Ich wusste immer, dass einer für mich sorgt, und danke Gott für diesen Tag." Er wäre nicht verbittert und würde in sein altes Leben zurückkehren. Was für ein toller Mensch, dachte ich mir damals. Was ihn durch diese elend lange finstere Zeit trug, war sein Glaube. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie ich das an seiner Stelle durchgehalten hätte all die Jahre! Dennoch bleibt die Frage: Wer hat ihn herausgebracht? Doch nicht Gott! Die Wissenschaft war es, mein Freund Alec Jeffreys von der Leicester University, der Vater des genetischen Fingerabdrucks!

Eigentlich wären Sie gern Künstler geworden. Was verbindet Kunst mit Wissenschaft?

Die Kreativität. Wobei Kunst noch eine ganz eigene Dimension hat. Picassos Gemälde "Guernica" ist für mich das größte Kunstwerk des 20. Jahrhunderts. Es trägt die ganze tragische Geschichte dieses Jahrhunderts in sich.

Was ist die größte menschliche Errungenschaft?

Die Menschlichkeit: Liebe, Mitgefühl – auch mit anderen Tieren. Wenn es Gott wirklich gäbe, er wäre zutiefst unmenschlich. Wie könnte er eine Welt schaffen, deren Geschöpfe einander fressen müssen, um selbst zu überleben?

Unsere Menschlichkeit hat uns aber auch nicht davor bewahrt, dass es Dinge wie das Dritte Reich gab, welches ja auch Ihre Familiengeschichte umgeschrieben hat.

Gern gesehener Gast am See | Harold Kroto ist ein häufig gesehener Gast bei den seit 1951 durchgeführten Nobelpreisträgertagungen am Bodensee.
Richtig. In gewisser Weise war Hitler mein Patenonkel: Ohne ihn würde es mich in meiner heutigen Form nicht geben. Meine Eltern flohen 1937, ich wurde 1939 in England geboren. Unmenschlichkeit gibt es aber überall und zu allen Zeiten. Als mein Vater nach England kam, soll er gesagt haben, dass die Menschen dort auch nicht anders seien.

Ist er nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt?

Ja. Er hatte Freunde hier, die ihm halfen, in England ein kleines Geschäft zu eröffnen. Aber ich erinnere mich nicht, dass er jemals plante, ganz zurückzuziehen.

Was forschen Sie momentan?

Ich bin ein Individualist, verfolge keine bestimmte Strategie, möchte keine Arbeitsgruppe leiten, kein Labor. Ich kenne meine Grenzen: Ich bin ein guter, aber kein überragender Forscher. Aktuell experimentiere ich wieder mit jener Technologie, die uns 1985 die Entdeckung von C60 erlaubte: hoch auflösende Massenspektroskopie. Wir können heute Signale auflösen, die wir früher nicht auflösen konnten. Wir versuchen damit, den Prozess zu verstehen, durch den sich diese Moleküle selbstorganisierend zusammensetzen. Das ist sehr schwierig. Den anderen Teil meines Lebens widme ich dem Geoset-Vorhaben. Ich habe 10 Millionen Dollar, um 20 Geoset-Programme in 20 Universitäten zu starten. Danach kann ich mich endlich meiner wahren Liebe widmen: Kunst und Grafikdesign.

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