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Klimaforschung: Mehr Extremwetter, weil das Eis am Nordpol schmilzt?

Wissenschaftler vermuten schon lange, dass der Klimawandel in der Arktis das Wetter auf der gesamten Nordhalbkugel verändert. Jetzt beginnen sie, die komplexen Zusammenhänge zwischen Ozean und Atmosphäre zu verstehen.
Dürre

Der Arktis geht das Eis aus – schon bevor Anfang August ein ungewöhnlich starker Sturm die Eisdecke zerteilte und auf großer Fläche zum Schmelzen brachte, war das Jahr 2012 auf dem Weg zu einem neuen Minusrekord der Meereisbedeckung. Im Vergleich zu 1980 hat die schwimmende Eiskappe etwa 40 Prozent ihrer sommerlichen Fläche verloren.

Das Schrumpfen der Eisfläche beeinflusst schon jetzt Mensch und Tier in der Hocharktis, doch Wissenschaftler vermuten, dass die drastischen Veränderungen nördlich des Polarkreises den gesamten Planeten beeinflussen können – denn das Meereis reguliert den Energieaustausch zwischen arktischem Ozean und Atmosphäre. Eine geschlossene Eisdecke reflektiert den größten Teil der Sonnenstrahlung ins All, während offener Ozean die Strahlung aufnimmt, die Energie speichert und später wieder an die Atmosphäre abgibt. Die zusätzliche Energie verändert womöglich das Wetter auf der gesamten Nordhalbkugel.

"Wie das schmelzende Meereis das Wetter beeinflusst, ist derzeit in der Diskussion. Wir wissen, dass sich die Arktis schneller erwärmt als der Rest des Planeten, und damit sinkt der Temperaturunterschied zwischen hohen und mittleren Breiten", erklärt Vladimir Semenov vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung GEOMAR in Kiel, "Diese Differenz ist ein wichtiger Antrieb der Wettermuster in der gemäßigten Zone."

Schwächerer polarer Jetstream

Im letzten Jahrzehnt sind die ostwärts gerichteten Höhenwinde der Nordhalbkugel in Herbst und Winter um etwa 20 Prozent schwächer geworden, zeigen Messdaten – möglicherweise eine Folge des geringeren Temperaturunterschiedes. Denn die dadurch entstehende Luftdruckdifferenz treibt diese zonalen Windsysteme an – Winde in Höhen von fünf Kilometern und mehr, die parallel zu den Breitenkreisen wehen und deren wichtigster der polare Jetstream ist. Die Geschwindigkeit der Höhenwinde wiederum beeinflusst die wichtigsten großräumigen Strukturen der Atmosphäre: Die Rossby-Wellen. Sie äußern sich in großen Schleifen, die der polare Jetstream nach Norden und Süden schlägt. Nimmt die Strömung einen Bogen nach Süden, dringt kalte Luft weit in Richtung Äquator vor, während eine Nordschleife warme Luft in hohe Breiten leitet. Diese Schleifen, Rücken und Tröge genannt, bestimmen direkt das Wetter in ihrem Einflussgebiet.

Der polare Jetstream
Der polare Jetstream der Nordhalbkugel windet sich um den Globus und schlägt dabei Wellen, die das Wetter ganzer Kontinente bestimmen können.

Aber sie sind nicht stationär – sie bewegen sich relativ zu den vorherrschenden Winden westwärts. Dabei seien sie normalerweise langsamer als der Wind selbst und wandern mit der Strömung mit, erklärt Semenov. "Die Mittleren Breiten erfahren deswegen wechselhaftes Wetter, jeweils abhängig davon, wie die synoptischen Rossby-Wellen durchziehen. Doch wenn die zonalen Winde wegen des Klimawandels schwächer werden, können beide die gleiche Geschwindigkeit haben – und dann steht die Welle relativ zur Oberfläche still."

Diese quasi feststeckenden Rossby-Wellen sind für lang anhaltende Wetterlagen verantwortlich, Hitze und Trockenheit in einem Fall, reichlich Niederschläge im anderen. Wie eine solche Wetterlage in der Praxis aussehen könnte, demonstrierte das Jahr 2010: Eine wie festgenagelt über Zentralasien liegende Schleife des Jetstreams brachte Russland wochenlang brütende Hitze und verheerende Waldbrände, während ihr südwärts weisender Ast gigantische Regenmengen über Pakistan niedergehen ließ und tausende in den Fluten starben.

Stehende Wellen bringen extreme Wetterlagen

Der Einfluss der Arktis auf das Klima in weit entfernten Regionen nimmt seinen Ausgang im Frühsommer, wenn immer größeren Flächen des Meereises zu schmelzen beginnen. Die dunklen Flächen offenen Wassers absorbieren das Sonnenlicht, statt es ins Weltall zurückzuwerfen, und speichern so Energie. Nach dem Ende der sommerlichen Schmelzphase gelangt die zusätzliche Wärme zurück in die Atmosphäre – bevor nämlich das Meer wieder zuzufrieren beginnt und sich die ausgedehnte winterliche Eisdecke neu bildet, muss die vom offenen Wasser über den gesamten Sommer aufgenommene Wärme wieder abgegeben werden.

Die zusätzliche Energie erzeugt so lokale Hitzeinseln in der Arktis, während andere, weiterhin von Meereis bedeckte Regionen kühl bleiben. Auch dieses Ungleichgewicht konspiriert gegen den Jetstream, vermuten Experten. "Die asymmetrische Wärmeverteilung verstärkt die meridionalen Windmuster, und das führt Luftmassen aus Nord und Süd herbei, die die zonalen Winde ebenfalls schwächen", sagt Semenov.

Einen weiteren Einflussfaktor, der lang andauernde Wetterlagen begünstigt, beschrieb Jennifer Francis von der Rutgers University: Sie entdeckte, dass der Verlust von arktischem Meereis im Sommer dazu führt, dass die Schleifen im Jetstream in die Länge gezogen werden – die Amplitude der Welle nimmt zu, und damit nimmt ihre Geschwindigkeit ab. Ein Jetstrem-Muster mit großer Ausdehnung – über 1600 Kilometern zwischen dem südlichen und nördlichen Ende der Schleife – bringt deswegen extremeres Wetter: Hitze und Trockenheit bis weit in den Norden und unter dem nach Süden reichenden Trog kühle Luft und starke Niederschläge.

Wie die Forscherin herausfand, schwankt die Amplitude der Rossby-Wellen mit der Arktischen Oszillation, einem Muster von Luftdruckschwankungen auf der Nordhalbkugel, das zwischen zwei Zuständen schwankt und ebenfalls das Wetter beeinflusst. Seit dem Jahr 2000 stieg die Amplitude jedoch nach den Erkenntnissen von Francis um etwa 200 Kilometer, ohne dass ein Zusammenhang mit der Arktischen Oszillation ersichtlich ist. Auf die Ursache deutet auch das Muster der Veränderung: Während der Südrand der Tröge konstant blieb, dehnten sich die Rücken mit hohem Luftdruck weiter nach Norden aus – womöglich als Folge der zusätzlichen Wärme in der Arktis.

Drastische Auswirkungen in der Zukunft

Trotz dieser Erkenntnisse ist die Wechselwirkung zwischen Meereis und Extremwetter nach wie vor nur unvollständig verstanden. "Wie genau das schmelzende Eis das Wetter beeinflusst, ist derzeit Gegenstand noch laufender Diskussionen", sagt auch Semenov. Zum Beispiel wisse man noch praktisch überhaupt nichts darüber, wie diese Wetterlagen auf das arktische Klima und die Meereisbedeckung zurückwirken. "Momentan schauen wir nur auf den Einfluss in einer Richtung, vom Meereis auf das Wetter, denn schon diese Mechanismen sind extrem komplex." Hinzu komme, dass sich diese Effekte nicht zwangsläufig linear verhalten. Wir können nicht davon ausgehen, dass weitere Erwärmung dazu führt, dass sich Muster wie kalte Winter in Europa proportional verstärken. Im Gegenteil, weitere Erwärmung könnte sehr wohl dazu führen, dass die Auswirkungen der Eisschmelze auf das Wetter sich in Zukunft drastisch verändern, gibt Semenov zu bedenken.

Dass allerdings die Schmelze und der damit verbundene Energietransfer in die Atmosphäre gravierende Auswirkungen auf die Atmosphäre hat, daran besteht kaum noch Zweifel. Bei einer Präsentation ihrer Ergebnisse auf dem Herbsttreffen der American Geophysical Union in San Francisco erklärte Jennifer Francis: Die Frage sei nicht, ob der Verlust des Meereises die globale Zirkulation beeinflusst, sondern – wie könnte er nicht?

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