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Kreativität: Ein trüber Gast auf der dunklen Erde

Wie viele andere Künstler zog Johann Wolfgang von Goethe aus seinen seelischen Leiden schöpferische Kraft. Gehören Kreativität und psychische Labilität zusammen?
Johann Wolfgang von Goethe

"Ich schaudre nicht, den kalten, schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll!"

"Die Leiden des jungen Werthers" gehen nicht gut aus: Der tragische Titelheld erschießt sich. Dieser 1774 erschienene Briefroman machte seinen Autor weltberühmt – und rettete ihm vielleicht das Leben. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) verarbeitete hier seinen Liebesschmerz. Als junger Advokat hatte er sich in Wetzlar unsterblich in Charlotte Buff verliebt; ihre Zurückweisung stürzte den 22-Jährigen in eine tiefe Krise. Am Boden zerstört flüchtete er ins Frankfurter Elternhaus, depressive Verstimmungen und Selbstmordgedanken quälten ihn.

Seine Verzweiflung verarbeitete Goethe durch Lesen, Gespräche und einsame Wanderungen. Anderthalb Jahre nach der Trennung von Charlotte schrieb er in nur vier Wochen, "einem Traumwandler gleich", seinen "Werther" nieder. Jahre später bekannte er: "Ich weiß recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kos­tete, damals den Wellen des Todes zu entkommen, so wie ich mich aus manchem späteren Schiffbruch auch mühsam rettete und mühselig erholte."

Goethe litt häufig unter Stimmungsschwankungen. Seine Seele überfiel dann "eine Dunkelheit, so undurchdringlich wie der Oktober­nebel". Doch er schaffte es immer wieder, sich selbst aus seinem Tief herauszuziehen. Seine Depressionen waren nicht so schwer, dass sie ihn am Arbeiten hinderten. Im Gegenteil: Seine melancholischen Stimmungen inspirierten den Dichter. Er schaffte es, ein produktives Gleichgewicht zwischen konzentriertem Arbeiten und freiem Fantasieren zu finden. Wie der "Werther" entstanden vermutlich etliche seiner Werke aus einem Zustand psychischer Labilität. Wenn er als Minister arbeitete, fühlte er sich stabiler: "Der Druck der Geschäfte ist sehr schön der Seele", notierte er 1779 in seinem Tagebuch.

Das Beispiel Goethe zeigt, wie seelische Probleme sowohl Motivation als auch Stoff für schöpferische Leistungen liefern können ...

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  • Quellen und Literaturtipps

Literaturtipps

Holm-Hadulla, R. M.: Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität. Eine Psychobiographie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009
Ein psychologischer Blick auf Goethes Schaffen

Holm-Hadulla, R. M.: Kreativität. Konzept und Lebensstil. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010

Holm-Hadulla, R. M.: Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011
Der Autor stellt kulturelle, psychologische und neurobiologische Kreativitätskonzepte vor.

Holm-Hadulla, R. M.: Integrative Psychotherapie. Zwölf exemplarische Geschichten aus der Praxis. Klett-Cotta, Stuttgart, erscheint 2015


Quellen

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Fitzgerald, F. S.: A Life in Letters. Macmillan, New York 1994

Goethe, J. W.: Die Leiden des jungen Werthers. Weygand, Leipzig 1774

Holm-Hadulla, R. M.: Goethes Studienkrise, Depression und seine Selbstbehandlungsstrategien. In: Psychotherapeut 54, S. 370-376, 2009

Holm-Hadulla, R. M.: Goethe's Anxieties, Depressive Episodes and (Self-)Therapeutic Strategies: A Contribution to Method Integration in Psychotherapy. In: Psychopathology 46, S. 266-274, 2013

Holm-Hadulla, R. M.: The Dialectic of Creativity: A Synthesis of Neurobiological, Psychological, Cultural and Practical Aspects of the Creative Process. In: Creativity Research Journal 25, S. 293-299, 2013

Holm-Hadulla, R. M.: Creativity, Alcohol and Drug Abuse: The Pop Icon Jim Morrison. In: Psychopathology 47, S. 167-173, 2014

Jamison, K. R.: Touched with Fire. Manic-Depressive Illness and the Artistic Temperament. Free Press, New York 1993

Jamison, K. R.: To Know Suicide: Depression Can Be Treated, but It Takes Competence. In: New York Times, 15.8.2014

Jarosz, A. F. et al.: Uncorking the Muse: Alcohol Intoxication Facilitates Creative Problem Solving. In: Consciousness and Cognition 21, S. 487-493, 2012

Kim, K. H.: The Creativity Crisis: The Decrease in Creative Thinking Scores on the Torrance Tests of Creative Thinking. In: Creativity Research Journal 23, S. 285-295, 2011

de Leeuw, P. W.: De dood en de popmusicus. In: Nederlands Tijdschrift voor Geneeskunde 155, A4419, 2011

Ludwig, A. M.: Creative Achievement and Psychopathology: Comparison Among Professions. In: American Journal of Psychotherapy 46, S. 330-356, 1992

Mann, T.: Dichterische Arbeit und Alkohol. Fischer, Frankfurt/M 2009

Runco, M. A.: Creativity. Theories and Themes: Research, Development, and Practice. Elsevier, Philadelphia 2014

Thys, E. et al.: Creativity and Psychopathology: A Systematic Review. In: Psychopathology 47, S. 141-147, 2014

Tolson, G. H., Cuyet, M. J.: Jazz and Substance Abuse: Road to Creative Genius or Pathway to Premature Death. In: International Journal of Law and Psychiatry 30, S. 530-538, 2007

Volkow, N. D. et al.: Adverse Health Effects of Marijuana Use. In: New England Journal of Medicine 370, S. 2219-2227, 2014

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