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Krebstherapie: Antikörpertaxi in den Tumor

Seit Jahren tüfteln Forscher an Antikörpern, die Krebsmedikamente direkt in den Tumor lotsen. Doch der große Erfolg blieb aus. Nun macht ein neues Medikament Hoffnung.
Attackiertes Hodgkin-Lymphom
Man möchte fast an ein Wunder denken: Zum ersten Mal seit 1977 wurde ein neues Medikament für das Hodgkin-Lymphom zugelassen. Die US-Pharmafirma Seattle Genetics hatte in einer klinischen Studie 102 Patienten, die an der Krebserkrankung des Lymphsystems litten, behandelt und bei ganzen 73 Prozent der Probanden eine deutliche Besserung festgestellt. Bei 32 Prozent sei der Tumor gar völlig verschwunden, berichtet das Unternehmen. Ähnlich positiv waren die Studienergebnisse bei einer weiteren Lymphomart.

Die Food and Drug Administration der Vereinigten Staaten zeigte sich beeindruckt [1]. Zwar muss das neue Therapeutikum noch in zusätzlichen klinischen Tests geprüft werden. Doch die Zulassungsbehörde will nun die weitere Genehmigungsprozedur beschleunigt vorantreiben und erlaubte im Juli dieses Jahres sogar den Einsatz des neuen Wirkstoffs für die Behandlung bestimmter Patienten. Jährlich bekommen rund zwei bis vier von 100 000 Menschen die Diagnose Hodgkin-Lymphom gestellt.

Doch der Grund für die vorsichtige Feierstimmung in Fachkreisen ist nicht die Neuzulassung des Medikaments selbst: Hinter Adcetris, so der Markenname der neuen Waffe gegen Krebs, verbirgt sich eine Angriffsstrategie, die trotz großer Versprechen und jahrelanger Erforschung nie nennenswerte Erfolge verbuchen konnte. "Das Spiel ist wieder offen", kommentierte beispielsweise der Onkologe Tim Illidge von der University of Manchester gegenüber der Fachzeitschrift "Nature" [2].

Tumor mit Zielmarkierung

Sichten und vernichten | Das Prinzip hinter den konjugierten Antikörpern ist viel versprechend, doch schwer umsetzbar. Der Erfolg von Adcetris könnte bedeuten, dass die größten Hürden überwunden sind. Aus: Nature 476, S. 380-381, 2011
Bei Adcetris und ähnlichen Medikamenten sollen maßgeschneiderte Antikörper als Taxi für Chemotherapeutika dienen. Die Natur spielt den Entwicklern dabei in die Hände: Krebszellen tragen auf ihrer Oberfläche typische Strukturen, so genannte Tumor-Antigene. Das können veränderte Moleküle sein, die das Abwehrsystem als fremd erkennt, oder solche, die eigentlich nur während der Embryonalentwicklung auftreten sollten. Erstere kommen zwar auch auf gesundem Körpergewebe vor, sind aber auf den entarteten Zellen extrem viel häufiger.

Das Prinzip, spezielle Antikörper für Tumoren zu züchten, liegt auch der Immuntherapie zu Grunde. Sie sollen das Immunsystem zu einer Attacke auf den Krebs veranlassen. Im Fall von Adcetris spielt die Immunabwehr selbst jedoch keine Rolle. Wirksam ist ausschließlich das Chemotherapeutikum. Weil es jedoch zielgerichtet in der Krebszelle abgeliefert wird, steigt seine Effektivität, während das Risiko von Nebenwirkungen sinkt – und die behandelnden Ärzte können dessen Dosierung erhöhen.

Für die Krebstherapie eröffnet dies eine ganze Reihe von Möglichkeiten: So lassen sich etwa Zellgifte einsetzen, die noch nicht als Medikament zugelassen wurden und so toxisch sind, dass Mediziner sie nicht systemisch verabreichen können. Im Tandem mit einem geeigneten Antikörper wandern sie jedoch zielgerichtet in den Tumor – ohne gesundes Gewebe zu schädigen. Wissenschaftler hoffen, mit solchen Giftstoffen auch Tumoren zu behandeln, die gegen zugelassene Chemotherapeutika resistent sind. Auch Botenstoffe, die Krebszellen in den Tod schicken, sowie Radionuklide, Partikel für eine Strahlentherapie von innen, lassen sich an Immunmoleküle koppeln [3, 4].

Idee mit langer Vorgeschichte

Auf die gute Idee mit den so genannten konjugierten Antikörpern sind Forscher freilich schon viel früher gekommen. Bereits in den 1950er Jahren experimentierten Wissenschaftler mit strahlenden Antikörpern. Und 1964 konstruierten amerikanische Forscher aus Cleveland ein Abwehrmolekül, bewaffnet mit einem Chemotherapeutikum [5]. Es kam allerdings nie zum Einsatz. Auch nachfolgende Versuche, Zellgifte per Antikörpertaxi direkt in den Tumor zu schicken, scheiterten weit gehend. Neben Adcetris stehen derzeit gerade einmal zwei weitere viel versprechende Kandidaten kurz vor der Zulassung: einer gegen Non-Hodgkin-Lymphome und ein weiterer gegen bestimmte Fälle von Brustkrebs.

Der Grund für den zögerlichen Fortschritt: Der Weg von der Idee in die Klinik ist gesäumt mit einer ganzen Reihe von Stolpersteinen. "Große Probleme bereiteten über lange Zeit die Wirkstoffe selbst", erklärt Gerhard Moldenhauer, der am Deutschen Krebsforschungszentrum und im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg selbst an konjugierten Antikörpern forscht. "Die erste Generation so genannter Immuntoxine war im Tierexperiment mit starken Nebenwirkungen verbunden." Die Zellgifte aus Pflanzen, Pilzen oder Bakterien besitzen Vorrichtungen, um sich ans Gewebe anzuheften. Trotz Antikörpertaxi richten sie daher auch in gesunden Organen Schaden an. "Mittlerweile arbeiten wir mit toxischen Komponenten der dritten Generation", so Moldenhauer. "Sie sind so verändert, dass sie keine zellbindende Domäne mehr besitzen, und sie sind außerdem klein genug, damit sie zum einen keine Immunreaktion auslösen und der Tumor sie zum anderen aufnimmt."

Stolperstein Nummer zwei ist die Befestigung der Wirkstoffe am Antikörper. Sie garantiert, dass die gefährliche Fracht auf dem Weg zum Tumor nicht verloren geht und anderswo Schaden anrichtet. Einmal in der Zielzelle angekommen, muss sie sich jedoch problemlos ablösen lassen, um an ihren Wirkort, beispielsweise in den Zellkern, zu gelangen.

Und schließlich – Stolperstein Nummer drei – gibt es eine ganze Reihe von Anforderungen an das Transportvehikel. Denn sich spezifisch an kranke Zielzellen zu heften, ist nicht genug. Der Wirkstoff muss auch ins Zellinnere gelangen. Das funktioniert, wenn der Antikörper speziell an Strukturen andockt, die Taxi und Fracht sicher durch die Zellwand schleusen. Das aber schränkt wiederum die Auswahl an geeigneten Vehikeln stark ein.

Eingeschränkte Nutzbarkeit

So ist es auch kein Wunder, dass sich die verheißungsvollen Wirkstoffkandidaten gegen sehr spezielle Krebsarten richten. Das Gros der Kranken profitiert zunächst wenig vom Erkenntnisgewinn. Der konjugierte Antikörper zur Brustkrebstherapie, dessen Entwicklung Roche in Zusammenarbeit mit der US-Firma ImmunoGen vorantreibt, setzt auf den so genannten HER2-Rezeptor, der in den Tumorzellen von nur 20 Prozent aller Patientinnen vermehrt auftritt. Der Antikörper gegen dieses Oberflächenmolekül ist hochspezifisch und hat sich bereits in der Krebstherapie bewährt.

Adcetris zur Therapie von Hodgkin-Lymphomen nimmt dagegen den so genannten CD30-Rezeptor ins Visier. Das Molekül tummelt sich nicht nur auf den entarteten weißen Blutkörperchen der Kranken, sondern ist typisch für aktivierte B- und T-Lymphozyten des Abwehrsystems. Auch diese werden daher durch den Wirkstoff ausradiert. "Das ist aber in diesem Fall nicht weiter schlimm, da sie aus den Blutstammzellen im Knochenmark ohnehin ständig neu entstehen", erläutert Moldenhauer. "Bei anderen Geweben ist das so nicht gegeben – sie müssen vor toxischen Wirkstoffen geschützt werden."

Ausweitung der Kampfzone

Trotzdem: Mit den Ergebnissen der Adcetris-Studie keimt wieder Hoffnung auf, dass konjugierte Antikörper künftig mehr Krebspatienten helfen werden. Moldenhauer zum Beispiel tüftelt zusammen mit Heinz Faulstich von der Universität Heidelberg an einem Tandem, das sich gegen ein breiteres Spektrum von Tumoren richtet – darunter auch schwer zu behandelnde Krebserkrankungen der Bauchspeicheldrüse.

Der Wirkstoff seiner Wahl ist das Alpha-Amanintin, ein tödliches Gift aus dem Grünen Knollenblätterpilz, das den programmierten Zelltod, die Apoptose, auslöst. Den Stoff koppeln die Heidelberger an einen Antikörper gegen ein Molekül, das sich auf vielen verschiedenen Tumorzellen findet – allerdings in geringerer Dichte auch auf normalen Epithelzellen, die etwa unseren Darmtrakt auskleiden und verschiedene Drüsengewebe bilden. "Bevor wir so eine Substanz in die Blutbahn spritzen, müssen wir die unerwünschten Nebenwirkungen genau analysieren", sagt Moldenhauer. Eine andere Möglichkeit sei es, das Wirkstofftandem nur lokal zu verabreichen, es etwa zur Behandlung eines Karzinoms der Eierstöcke in die Bauchhöhle zu injizieren oder direkt in das entartete Gewebe eines Tumors.

Aktuelle Experimente mit Mäusen stimmen zuversichtlich. Doch Moldenhauer warnt vor zu viel Euphorie: "Der Weg von den ersten Tierexperimenten bis zur möglichen Anwendung beim Patienten ist sehr weit – selbst wenn das Prinzip funktioniert, kann es sein, dass wir noch viele Faktoren verändern müssen, um Menschen auf diese Weise zu behandeln."

Und er erinnert daran, dass auch Wirkstoffe, die bereits zugelassen sind, sich in der Praxis nicht unbedingt bewähren. Ein erster Antikörper mit Chemotherapeutikum im Gepäck wurde bereits 2004 zu Behandlung von Leukämien zugelassen. Im letzten Jahr verschwand er jedoch wieder vom Markt: Zu gering war die Wirkung im Klinikalltag. Für die neuen Tandempräparate heißt es daher erst einmal Daumen drücken. Vielleicht können sie wirklich einmal ein Wunder vollbringen – und sei es nur bei einer kleinen Gruppe von Patienten.

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  • Quellen
[1] Food and Drug Administration, Pressemitteilung vom 19. Aug. 2011
[2] Ledford, H.: Toxic antibodies blitz tumours. In: Nature 476, S. 380–381, 2011
[3] Alley, S.C. et al.: Antibody–drug conjugates: targeted drug delivery for cancer. In: Current Opinion in Chemical Biology 14, S. 529–537, 2010
[4] Beck, A. et al.: World Antibody Drug Conjugate Summit Europe: February 21–23, 2011; Frankfurt, Germany. In: mAbs 3, S. 331–337, 2011
[5] DeCarvalho, S. et al.: Coupling of Cyclic Chemotherapeutic Compounds to Immune Gamma-Globulins. In: Nature 202, S. 255–258, 1964

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