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Materialwissenschaften: Einzigartig dank Unordnung

Die Suche nach neuen Werkstoffen läuft auf Hochtouren. Ein viel versprechender Kandidat ist metallisches Glas mit seinen hervorragenden mechanischen Eigenschaften - wäre es nur nicht so spröde. Doch bekommen Forscher dieses Problem nun allmählich in den Griff.
Amorphe Struktur
Härter als Stahl, gießbar wie Plastik: Metallische Gläser bergen ein enormes Anwendungspotenzial und werden daher aktuell so intensiv erforscht wie kaum eine andere Materialklasse. Da sie sich bei niedrigen Temperaturen verarbeiten lassen, können Bauteile viel präziser als mit herkömmlichen Metallen hergestellt werden, Feinheiten mit einer Genauigkeit von nur einem Millionstel Meter sind möglich – das ist sechzig Mal dünner als ein Haar.

Der entscheidende Unterschied zu herkömmlichen Metallen liegt in der atomaren Struktur der metallischen Gläser. Konventionelle Metalle sind kristallin, da die Atome über weite Bereiche immer die gleichen Abstände zueinander einnehmen. Dagegen wird ein Material "glasförmig" oder auch "amorph" genannt, wenn dessen Atome sich nicht in festen Abständen zueinander anordnen, sondern völlig unregelmäßig arrangiert sind. Dieser Zustand der atomaren Unordnung führt zu den einzigartigen Eigenschaften der metallischen Gläser.

Amorphe Struktur | In metallischen Gläser gibt es keine regelmäßige Anordnung der Atome wie in herkömmlichen kristallinen Metallen. Ist in der Mischung ein Element wesentlich größer als die anderen, so formt es vor dem Erstarren der Schmelze ein relativ starres Netzwerk (grau). Dadurch wird die Beweglichkeit der kleineren Elemente stark reduziert und die Kristallisation kann bereits mit niedrigen Kühlraten unterbunden werden.
Schockgefrorenes Durcheinander

Auch wenn zurzeit intensiv an ihnen geforscht wird, ein brandneues Material sind metallische Gläser nicht. Denn ihre Geschichte begann bereits im Jahr 1960, als Wissenschaftler am California Institute of Technology in Pasadena eine Gold-Silizium-Mischung mit einer Million Grad Celsius pro Sekunde abkühlten. Bei dieser extremen Kühlrate blieb den Atomen keine Zeit, eine kristalline Ordnung aufzubauen, so dass beim Erstarren der Schmelze die atomare Unordnung des flüssigen Zustands eingefroren wurde.

Solche hohen Kühlraten sind allerdings nur für dünne Metallbänder realisierbar, weshalb metallische Gläser lange Zeit lediglich für eine sehr begrenzte Reihe von Anwendungen in Betracht kamen. So haben sie in Form von dünnen Streifen beispielsweise als Diebstahlsicherung von Waren schon seit Langem Einzug in unseren Alltag gehalten.

Herstellung metallischer Gläser | Zur Herstellung metallischer Gläser wird in diesem Ofen ein Lichtbogen gezündet. Die Entladung zwischen Kupferplatte (unten) und Wolframspitze (Mitte) ist bis zu 3000 Grad Celsius heiß.
Im Lauf der Jahrzehnte verfeinerten die Materialwissenschaftler jedoch kontinuierlich ihre Strategien, die Kristallisation zu verhindern und so auch Bänder von mehr als Zehntel Millimeter Dicke herzustellen. Anfang der 1990er Jahre gelang es dann erstmals, auch größere Stücke amorphen Metalls zu erzeugen.

Die Mischung macht's

Eine zentrale Idee zur Bildung solcher massiven metallischen Gläser ist die so genannte "Verwirrung der Atome". Der Ansatz zielt darauf ab, es den Atomen möglichst schwer zu gestalten, eine kristalline Ordnung einzunehmen. Unter anderem lässt sich die "Verwirrung der Atome" durch die Mischung der richtigen Elemente in der richtigen Zusammensetzung erreichen. "Ist eine Sorte von Atomen wesentlich größer als die anderen und in der richtigen Konzentration vorhanden, so formen die großen Atome während des Abkühlens der Schmelze einen relativ starren Verbund. Dieser reduziert die Zähflüssigkeit der gesamten Schmelze drastisch", erläutert Franz Faupel von der Universität zu Kiel.

Durch die stark verringerte Mobilität der Schmelze kann sich eine kristalline Ordnung während des Abkühlens nur sehr langsam aufbauen. Daher reicht in diesem Fall bereits eine Kühlrate von wenigen Grad Celsius pro Sekunde, um die atomare Unordnung der Schmelze einzufrieren. Derart erzeugte massive metallische Gläser eröffnen eine Vielzahl neuer Anwendungsmöglichkeiten und kommen heute beispielsweise schon in extrem dünnen und kratzfesten Handygehäusen, in professioneller Sportausrüstung oder als selbstschärfende Skalpelle zum Einsatz.

Gegen die einzigartigen Eigenschaften metallischer Gläser wirkt konventioneller Stahl auf den ersten Blick in die Jahre gekommen. Doch haben die amorphen Metalle ihm gegenüber einen Haken: Sie sind zwar wesentlich härter als kristalline Stähle, doch geben die Gläser erst einmal nach, dann ganz und gar. Denn entsteht ein Bruch, so wird das amorphe Material unter anderem wegen lokaler Hitzeentwicklung an der Bruchstelle weicher. Der Defekt kann so lawinenartig durch das gesamte Material laufen und zum Versagen eines Bauteils führen.

Stabiler im Verbund

In den vergangenen Jahren zielten daher zahlreiche Forschungsarbeiten darauf ab, das fatale Ausbreiten eines Bruchs in amorphen Metallen zu unterbinden. Ein Erfolg versprechender Ansatz besteht darin, in dem metallischen Glas Bereiche aus kristallinem Metall einzubetten. Mit solchen Verbundmaterialien gelang es Forschern in den vergangenen Jahren, die positiven Eigenschaften von amorphen und kristallinen Legierungen zu verbinden. Die Hybridmaterialien könnten beispielsweise in anspruchsvollen Anwendungen der Medizin oder Luftfahrt zum Einsatz kommen. Bis dahin muss die Bildung der amorphen und kristallinen Bereiche jedoch weiter erforscht und kontrolliert werden.

Einsatz als Implantat | Magnesiumbasiertes metallisches Glas bildet nur eine dünne Korrosionsschicht (links oben) und erzeugt im Gewebe keinen Wasserstoff (rechts oben). Eine herkömmliche Magnesiumlegierung hingegen führt beim Abbau zu unerwünschten Gasblasen.
Neben der Brüchigkeit gibt es noch einen weiteren schwer wiegenden Grund, der den Einsatz der metallischen Gläser stark einschränkt: Zur Erzeugung der amorphen Metalle sind exotische – und damit teure – Elemente wie Zirkonium oder Palladium nötig. "Metallische Gläser werden herkömmlichen Stahl nie ersetzen. Auf Grund der hohen Herstellungskosten werden sie stets Werkstoffe für Spezialanwendungen bleiben", so Faupel.

Zerfall erwünscht

Wie beispielsweise in der Medizin. Hier verspricht ein metallisches Glas aus Magnesium, Zink und Kalzium eine völlig neue Art von biologisch abbaubaren Implantaten zu ermöglichen. Bislang fixieren Chirurgen gebrochene Knochen mit Schrauben und Platten aus Titanstahl oder rostfreiem Edelstahl. Nach der Heilung müssen die Teile in einer zweiten Operation wieder entfernt werden. Biologisch abbaubare Implantate würden hingegen einfach vom Körper des Patienten aufgelöst.

"Zwar ist auch reines Magnesium biologisch abbaubar, der dabei entstehende Wasserstoff bildet jedoch Gasblasen um das Implantat und kann so zu Entzündungen führen", erklärt der Erfinder des neuen Materials, Jörg Löffler von der ETH Zürich. "Das Besondere an unserer neuen Legierung ist, dass während des Abbauprozesses kaum Wasserstoff freigesetzt wird. Daher birgt das Material immenses medizinisches Potenzial", ist sich Löffler gewiss. In den kommenden Jahren sollen die ersten Implantate aus amorphem Metall in klinischen Tests geprüft werden.

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