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Mikrochimärismus: Menschen als Chimären

Jeder Mensch scheint Fremdgänger in seinen Organen zu beherbergen. Meist tragen wir sie offenbar unbemerkt mit uns. Manchmal dürften sie chronische Krankheiten hervorrufen. Vielleicht wirken die Eindringlinge aber gelegentlich auch segensreich.
Prozentual gesehen ist die Zahl von fremden Zellen im Körper verschwindend winzig. Soweit bisher überhaupt erforscht, mag ein solcher Fremdling bei gesunden Menschen auf hunderttausend oder eine Million eigene Zellen kommen. Doch sie können sich anscheinend im Blut und in allen Organen festsetzen, nach neueren Befunden wohl sogar im Gehirn.

Zu den wenigen Forschern, die dieses Phänomen seit einigen Jahren untersuchen, zählt die amerikanische Medizinerin J. Lee Nelson von der Universität von Washington in Seattle. In der September-Ausgabe von „Spektrum der Wissenschaft“ legt die Professorin ihre These dar, dass viele Fälle von Autoimmunkrankheiten mit diesem so genannten Mikrochimärismus zusammenhängen könnten. Solche Hinweise fanden sich zum Beispiel bei multipler Sklerose, bei rheumatoider Arthritis und auch beim systemischen Lupus erythematodes.

Dass Zellen in unserem Körper hausen, die nicht von uns selbst stammen, entdeckten Wissenschaftler zufällig. Zuerst fanden sie im Blut von Schwangeren Zellen des Kindes. Viel später erkannten sie erst, dass eine Mutter die Zellen lebenslang behalten kann. Doch auch Föten nehmen über die Plazenta mütterliche Zellen auf. Diese können sich später sogar in die kindlichen Organe eingliedern und sind noch nach Jahrzehnten nachweisbar. Mit Sicherheit kann zwischen Zwillingen im Uterus ein Austausch stattfinden. Womöglich gibt die Mutter sogar an spätere Kinder Zellen älterer Geschwister weiter.

Wieso dass Immunsystem die Fremdlinge überhaupt duldet, ist noch nicht bekannt. Nach ersten Studien arrangiert es sich damit besonders dann, wenn die Gewebemerkmale von Mutter und Kind übermäßig ähnlich aussehen. Manches spricht dafür, dass die fein regulierten Immunprozesse irgendwann doch umkippen können – und dann zum Beispiel eine Autoimmunerkrankung bewirken. Andererseits gibt es Anzeichen, dass einige entzündliche Erkrankungen von Kindern durch übergetretene Immunzellen der Mutter hervorgerufen werden.

Beim so genannten jugendlichen Diabetes stießen die Forscher allerdings auf etwas Überraschendes. Zwar gilt auch dieses Leiden als Autoimmunkrankheit, denn die Insulinzellen der Bauchspeicheldrüse werden von Immunangriffen zerstört. Aber bei den Diabetikern ließen sich nun fremde Zellen nachweisen, die offenbar versuchten, das zerstörte Gewebe zu ersetzen. Solche Resultate ermutigen, die Eindringlinge künftig für Heilungsprozesse zu animieren. Vor allem auch die Transplantationsmedizin verspricht sich von diesen Forschungen Hilfe. Was beim Mikrochimärismus im Körper geschieht, könnte sich nutzen lassen, um die Abstoßung überpflanzter Organe leichter zu beherrschen.

Noch ist das Forschungsfeld sehr jung. Doch viele weiterführende Studien sind schon geplant. Zum Beispiel haben Mütter ein geringeres Brustkrebsrisiko als andere Frauen. Ersten Hinweisen zufolge könnten Zellen ihrer Kinder dazu beitragen.

Abdruck honorarfrei bei Quellenangabe: Spektrum der Wissenschaft, 9/2008
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