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Nanotechnologie: Entzauberte Wunderfolie

Eine Million Mal dünner als ein Blatt Papier: Graphen, das aus einer einzigen Schicht von Kohlenstoffatomen besteht, bringt Forscher zum Träumen. Denn so einzigartig wie sein Aufbau sind auch die elektrischen Eigenschaften des Materials - zumindest theoretisch. Denn erste bescheidene Anwendungen zeichnen sich zwar ab, doch noch bleibt das Material in der Praxis hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück.
Graphen - die Zukunft der Wunderfolie
Graphen ist eigentlich überall. Bleistiftminen enthalten es in rauen Mengen: Das Graphit in den Minen ist nichts weiter als ein Stapel schwach aneinander gebundener Graphen-Folien, die beim Schreiben oder Zeichnen in Bündeln am Papier haften bleiben. Sie bestehen ganz und gar aus Kohlenstoffatomen, die sich zu einem Netzwerk aus Sechsecken zusammenlagern, einem Hasengitter vergleichbar.

Graphit-Struktur
Das Kohlenstoff-Netz ist ein alltägliches Wunder, denn einen zweidimensionalen Kristall, also eine nur ein Atom dicke Folie, hielten Wissenschaftler lange für unmöglich. Sie glaubten, dass eine solche Schicht in einer dreidimensionalen Umgebung nicht stabil sei und sich spontan zu Zylindern aufrollen oder zu Kugeln umformen müsse. In Ruß beobachtete Kohlenstoff-Nanoröhrchen und Bälle aus Kohlenstoff mit wenigen Nanometern (Millionstel Millimeter) Durchmesser, die so genannten Fullerene oder Buckyballs, schienen die Annahme zu bestätigen. Niemand erwartete, dass je eine einzelne Graphen-Schichten beobachtet werden würde.

Und es gibt sie doch

Bis zum Oktober 2004. Da stellten Forscher der University of Manchester erstmals Graphen her, indem sie eine Graphitschuppe, wie sie in jedem Bleistiftstrich vorkommt, so oft mit Hilfe eines Klebebandes zerteilten, bis sie einzelne Graphen-Schichten erhielten [1].

Graphen | Modell einer Graphen-Membran: Deutlich ist ihre gewellte Struktur zu erkennen, die ihr womöglich die unerwartete Stabilität verleiht.
Im letzten Jahr kamen Forscher des Stuttgarter Max-Planck-Institutes für Festkörperforschung hinter den Trick der Natur, der die Graphenschicht stabilisiert [2]. Sie hatten eine zwischen Golddrähten aufgespannte, freitragende Graphen-Folie mit Hilfe von Elektronenstrahlen untersucht. Das Ergebnis: Das Graphen ist nicht perfekt flach, sondern leicht gewellt. Die Wellen sind etwa einen Nanometer hoch und erstrecken sich über mehrere hundert Kohlenstoffatome. Ähnlich wie die Rillen einer Wellpappe festigen die winzigen Hügel das gesamte Gebilde.

Die Wunderfolie ist so stabil, dass die Kohlenstoffatome sich schwer tun, aus dem gleichmäßigen Gitter auszuscheren. Die wenigen Gitterfehler im Kristallgitter machen Graphen, zumindest theoretisch, zu einem hervorragenden Leiter: Die Elektronen gleiten, ohne auf ein Hindernis zu stoßen, tausendmal so weit durch den Kristall als in einem Halbleiter. In letzterem lenken Unregelmäßigkeiten im Kristallgitter die Ladungsträger immer wieder von ihrer Bewegungsrichtung ab. Bei jedem Stoß verlieren sie Energie, und der Widerstand des Materials steigt.

Leichte Flitzer

Ihre Beweglichkeit wird zudem durch einen Effekt verstärkt, der aus dem besonders symmetrischen Aufbau des Graphens resultiert: Die Elektronen im Kristall scheinen fast keine Masse mehr zu besitzen. Ihre Schwerelosigkeit lässt sie mit 1000 Kilometer pro Sekunde durch das Graphen rasen – immerhin ein 300stel der Lichtgeschwindigkeit.

Weil die Graphen-Elektronen so agil sind, sollten sich besonders schnell schaltende Transistoren und andere elektronische Komponenten bauen lassen, die effizienter arbeiten als herkömmliche Silizium-Bauteile, glauben viele Forscher. Doch in der Praxis zeigen sich die Graphen-Elektronen bei Weitem nicht so beweglich, wie theoretisch vorausgesagt. Die Gründe für die eher enttäuschende Performance vermuten Forscher in Verunreinigungen, also Fremdatomen, die sich beim Herstellen auf den Folien ablagern, oder in Wechselwirkungen mit der Unterlage, auf der die Folien meist liegen.

Um den Einfluss der Unterlage auszuschalten, haben Forscher der New Yorker Columbia University vor Kurzem die Ladungsträgerbeweglichkeit in einer freischwebenden Graphenfolie bestimmt [3]. Sie ermittelten 200 000 Quadratzentimetr pro Volt und Sekunde – etwa zehnmal so viel wie bislang erreicht und mehr als 100 Mal so viel wie in Silizium. Allerdings maßen sie nicht bei Raumtemperatur, sondern bei fünf Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt. Außerdem mussten sie das Graphen vor der Messung auf 600 Grad Celsius erhitzen, um anhaftende Fremdatome zu entfernen. Alles in allem betrieben sie also für den neuen Rekord einen erheblichen Aufwand.

Nicht konsequent genug

Schnelle Transistoren aus Graphen hält Gerhard Ulbricht vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart daher für unrealistisch. Nicht nur wegen der Empfindlichkeit des Graphen gegen Unsauberkeiten: "Der Strom lässt sich im Graphen nur unter großen Schwierigkeiten ausschalten", erzählt der Physiker. Doch gerade die Fähigkeit, Strom aufzuhalten, sei eine notwendige Eigenschaft von Transistoren, damit sie in Computern als Schalter den Strom entweder sperren oder durchlassen.

Graphen-Membran auf Goldgitter | Auf einem Gitter aus Golddrähten konnten die Forscher freitragende Graphen-Lagen herstellen. Größenmaßstab 500 Nanometer.
Wenn sie den Stromfluss nur abschwächten, müsse die gesamte Elektronik eines Rechners an diese neuen Situation angepasst werden. Graphen-Folien leiteten Strom aber so gut, dass er nicht komplett abzustellen sei. Nur sehr dünne Streifen, die mühsam aus der Folie geätzt werden müssen, unterbinden den Stromfluss ganz. "Dabei wird aber die Qualität des Graphens so stark beeinträchtigt, dass der Transistor nicht schneller wäre als ein Silizium-Transistor", erklärt Ulbricht.

Anderer Meinung ist Max Lemme von der Gesellschaft für Angewandte Mikro- und Optoelektronik in Aachen: "Die Beweglichkeit in einem realistischen Graphen-Transistor ist immer noch deutlich besser als in Silizium", meint der Ingenieur. Sie komme aber an die Beweglichkeit in perfekt sauberem Graphen nicht heran, sagt Lemme, der Anfang letzten Jahres einen Transistor aus Graphen gefertigt hat [4]. Allerdings gebe es gerade einmal eine Handvoll Untersuchungen: "Da ist man bei der Siliziumtechnologie einfach 40 Jahre weiter."

Keine Grenzen nach unten?

Einen wesentlichen Vorteil hätten Graphen-Transistoren in jedem Fall: Wenn in gut zehn Jahren das Schrumpfen von Silizium-Transistoren und damit die stetige Leistungssteigerung von Computerchips an seine Grenzen stößt, könnten Bauteile aus Graphen weiterschrumpfen. Dass das geht, haben Forscher der University of Manchester vor Kurzem gezeigt. Sie schnitten aus einer Graphenfolie den bislang kleinsten Transistor der Welt aus – ganze 100 Atome groß [5].

Der Mitautor der Studie und Entdecker des Graphens Kostya Novoselov räumt trotz des Erfolges ein, dass an praktisch nutzbare Graphen-Transistoren noch lange nicht zu denken ist. "Dafür bräuchten wir ein Verfahren, mit dem sich sauberes Graphen in Massen herstellen lässt", erklärt der Physiker.

"Als erstes wird Graphen für transparente und leitende Beschichtungen von Flüssigkristallanzeigen, Solarzellen und Touch-Screens eingesetzt werden", meint Novoselov. Transparente Leiter sind ein wesentlicher Bestandteil dieser Geräte. Heute wird meist Indiumzinnoxid (ITO) dafür eingesetzt. Da das Metall Indium aber knapp und teuer ist, sucht man aber nach preiswerten Alternativen. Das durchsichtige Graphen könnte ITO ersetzen.

Die Forschergruppe aus Manchester hat selbst vor Kurzem eine simple Flüssigkristallanzeige mit Graphen als transparentem Leiter hergestellt [6]. Obwohl die Anzeige nur aus einem Pixel besteht, das zwischen hell, dunkel und einer mittleren Helligkeit umschalten kann, denken die Forscher schon an die industrielle Fertigung von graphenhaltigen Displays: "Es gibt bereits mehrere Techniken, die potenziell eine Massenherstellung dünner graphenbasierter transparenter Leiter erlauben", schreiben sie.

Gute Spürnasen

Als nächste Anwendung könnten auch hochempfindliche Gassensoren aus Graphen hergestellt werden, meint Novoselov. Dass Graphen sogar ein einziges Gasmolekül nachweisen kann, zeigten die Physiker aus Manchester im letzten Jahr [7]. Wenn sich ein Molekül auf dem Wabengitter ablagert, ändert sich dessen Leitfähigkeit messbar.

Für viele Wissenschaftler sind die praktischen Anwendungen eher Nebensache. Sie blicken fasziniert auf das bizarre Verhalten der Elektronen im Graphen. Für die Elementarteilchen gelten im Graphen Regeln wie sonst nur in der Nähe von Schwarzen Löchern oder in riesigen Teilchenbeschleunigern, wo Partikel fast mit Lichtgeschwindigkeit rasen. Es ist, als ob für die Ladungsträger im Graphen die Lichtgeschwindigkeit 300 Mal geringer wäre als außerhalb, so dass sie nicht nur den Gleichungen der Quantenmechanik gehorchen müssen, sondern auch denen von Einsteins Relativitätstheorie. Sie verhalten sich wie so genannte relativistische Teilchen.

Im Dienste der Wissenschaft

Viele Forscher hoffen, nun mit Hilfe dieser relativistischen Graphen-Elektronen im Labor sonderbare Phänomene untersuchen zu können, wie sie sonst nur in unerreichbaren und verborgenen Winkeln des Universums auftreten. Zum Beispiel das so genannte Kleinsche Paradoxon: Es besagt, dass relativistische Teilchen jede Energiehürde überwinden, auch wenn ihre Energie dafür eigentlich nicht ausreicht – als würde ein Radfahrer mühelos über jeden Hügel rollen. Das Phänomen, das vermutlich in der Nähe Schwarzer Löcher auftritt, ließe sich nun im auf relativ simple Weise nachstellen: indem man eine äußere Spannung über einem Teil einer Graphen-Folie anlegt. Diese beeinflusst die Graphen-Elektronen auf ähnliche Weise wie ein Schwarzes Loch die Teilchen in seiner Nähe.

Doch ganz so einfach werde es nicht, meint Ulbricht. "Man müsste die Bewegung der Elektronen sehr genau kontrollieren", erklärt der Physiker. Das Kleinsche Paradoxon gelte nur für Teilchen, die in einem exakt definierten Winkel auf die Energiehürde treffen. Man müsse zeigen, dass die meisten Elektronen durchkommen, während Ladungsträger, die aus diesen Winkeln auf die Barriere treffen, an ihr scheitern.

Also lassen auch im Labor die einzigartigen Eigenschaften des Graphen noch nicht ausbeuten. Die Wunderfolie fasziniert weiterhin, aber zaubern kann man mit ihr nicht.

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  • Quellen
[1] Novoselov, K.S. et al.: Electric Field Effect in Atomically Thin Carbon Films. In: Science 306, S. 666–669, 2004.
[2] Meyer, J. et al.: The structure of suspended graphene sheets. In: Nature 446, S. 60–63, 2007.
[3] Bolotin, K.I.: Ultrahigh electron mobility in suspended graphene, arXiv:0802.2389v1, 2008.
[4] Lemme, M.C. et al.: A Graphene Field Effect Device. In: IEEE Electron Device Letters, 28, S. 282–284, 2007.
[5] Ponomarenko, L. A. et a.: Chaotic Dirac Billiard in Graphene Quantum Dots. In: Science 320, S. 356–358, 2008.
[6] Blake, P. et al.: Graphene-Based Liquid Crystal Device. In: Nano Letters, 10.1021/nl080649i, 2008.
[7] Schedin et al.: Detection of individual gas molecules adsorbed on graphene. In: Nature Materials 6, S. 652–655, 2007.

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