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Naturschutz: Gibt es ein unsichtbares Artensterben?

Ökologen warnen vor einem massenhaften Artensterben, doch selbst manche Biologen zweifeln an den Katastrophen-Szenarien, während Naturschützer das Problem durch die Fixierung auf medienwirksame Wirbeltiere eher verschleiern als lösen helfen. Tatsächlich ist es äußerst schwierig, das ganze Ausmaß des Artenschwunds zu ermitteln, den Schaden konkret zu beziffern und wirksam Abhilfe zu schaffen.


Unter den Wissenschaftlern, die sich letzten August zur Jahrestagung der Society for Conservation Biology in der Stadt Hilo auf Hawaii versammelt hatten, war die Verzweiflung mit Händen zu greifen. "Ich bin bloß froh, dass ich bald in Pension gehe und nicht mehr sehen muss, wie alles verschwindet", klagte P. Dee Boersma, der frühere Präsident der Gesellschaft, während des Abendessens am Eröffnungstag. Andere Veteranen der Feldforschung rund um den Tisch pflichteten ihm mit düsterem Gemurmel bei.

Bei seiner Eröffnungsrede am nächsten Morgen setzte Robert M. May alles daran, eventuell verbliebenen Optimisten auch die letzten Reste von Zuversicht zu nehmen. Der Zoologe von der Universität Oxford ist Präsident der Royal Society und war bis zum Jahr 2000 oberster wissenschaftlicher Berater der britischen Regierung. Nach seinen neuesten groben Schätzungen hat die Aussterberate – die Geschwindigkeit, mit der biologische Arten von unserem Planeten verschwinden – im Laufe des 20. Jahrhunderts etwa tausendmal höhere Werte erreicht, als sie vor dem Auftreten der Menschheit hatte. Verschiedene Überlegungen, erklärte er, "legen nahe, dass sie in den nächsten hundert Jahren noch einmal um etwa den Faktor zehn steigt ... Und das brächte uns direkt an den Rand der sechsten großen Extinktionswelle in der Geschichte des irdischen Lebens."

Doch sparte May auch nicht mit Kritik an der eigenen Zunft. Er warf Biologen und Umweltschützern einen "absoluten Wirbeltierchauvinismus" vor. Ihre einseitige Ausrichtung auf Säuger, Vögel und Fische untergrabe alle Bemühungen, Ausmaß und Folgen des tatsächlichen Verlusts an biologischer Vielfalt zuverlässig vorherzusagen – schließlich sei der Großteil der Biodiversität anderswo zu finden. Dies stelle auch den Sinn der Konzentration auf "Hotspots" in Frage: Schwerpunkt-Regionen, in denen angeblich besonders viele Tier- und Pflanzenarten vorkommen, deren Lebensraum stark bedroht ist.

"Und zu guter Letzt müssen wir uns die Frage gefallen lassen, warum wir uns überhaupt" um den Artenreichtum dieses Planeten und sein Schwinden "kümmern", stellte May fest. "Diese zentrale Frage ist politischer Natur und betrifft unsere gesellschaftlichen Werte. Bei ihrer Beantwortung hat die Stimme der mit Naturschutz befassten Wissenschaftler keinen besonderen Stellenwert." Leider, so schloss er "ist keines der ... Argumente, mit denen wir die Politiker von der Wichtigkeit unseres Anliegens zu überzeugen suchen ... wirklich zwingend."

Mays Behauptung, dass die Menschheit offenbar ein Artensterben verursacht, das schlimmer als alles ist, was sich seit dem Untergang der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren ereignet hat, mag jene schockieren, die sich mit dem Thema Biodiversität nicht weiter beschäftigt haben. Aber Naturschützern entlockt sie keine entsetzten Reaktionen mehr. Sie haben sie in vielerlei Variationen schon seit mindestens 1979 gehört, als Norman Myers, der Begründer des Hotspot-Ansatzes in seinem Buch "The Sinking Ark" ("Die sinkende Arche") schätzte, dass jedes Jahr 40000 Arten ihren letzten Vertreter verlören und bis zum Jahr 2000 eine Million Arten ausgestorben wären. Eine ähnliche Prognose machte in den 1980er Jahren Thomas E. Lovejoy. Demnach sollten 15 bis 20 Prozent der Arten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ausgelöscht worden sein. Paul R. Ehrlich von der Universität Stanford (Kalifornien) kam bei seinen Berechnungen sogar auf 50 Prozent. "Ich bin einigermaßen sicher, dass [die Auslöschung eines Fünftels oder gar der Hälfte der Arten] nicht stattgefunden hat", sagt jedoch Kirk O. Winemiller, ein Fischkundler von der Texas A&M University in College Station, der gerade einen Übersichtsartikel über die wissenschaftliche Literatur zu Aussterberaten fertig gestellt hat.

Tatsächlich liefern neuere Extrapolationen etwas geringere Werte, denn einige bedrohte Arten haben länger überdauert als erwartet. Andere sind sogar von den Toten auferstanden. Dazu zählt etwa das einzige Säugetier Kontinentaleuropas, das als ausgestorben galt: die Bayerische Kurzohrmaus (Microtus bavaricus). Angeblich war sie schon seit rund 500 Jahren ausgerottet. "Erst diesen Sommer entdeckte man, dass [sie] in Wahrheit noch unter uns weilt", berichtet Ross D. E. MacPhee, Kurator für Säugetierkunde am American Museum of Natural History (AMNH) in New York.

Gemetzel ...

Dennoch: In der 1999er Auflage seines viel gelesenen Buchs "Des Lebens ganze Fülle" (Claassen-Verlag) zitiert Edward Osborne Wilson von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) aktuelle Schätzungen, wonach zwischen ein und zehn Prozent der Arten in jeder Dekade für immer verloren gingen. Das wären mindestens 27000 Spezies im Jahr. Michael L. Novaceck, wissenschaftlicher Leiter des AMNH, schrieb vor knapp einem Jahr in einem Übersichtsartikel, dass "Angaben über eine Vernichtung von bis zu 30 Prozent aller Arten bis Mitte des 21. Jahrhunderts nicht unrealistisch sind." Und in einer Umfrage unter Biologen, die 1998 stattfand, äußerten 70 Prozent die Ansicht, dass sich momentan eine Massenextinktion ereignet; ein Drittel erwartete einen Verlust von 20 bis 50 Prozent der Arten in den nächsten 30 Jahren.

Solche Zahlen erklärt Bjørn Lomborg, Professor für Statistik und politische Wissenschaften an der Universität Århus, in seinem kürzlich erschienenen Buch "The Sceptical Environmentalist" für stark übertrieben. "Auch wenn allenthalben behauptet wird, es gäbe einen massenhaften Artenschwund, so deckt sich das einfach nicht mit den vorliegenden Daten," schreibt er. Den Umweltschützern wirft er unter anderem vor, sie hätten neue Hinweise ignoriert, wonach die Entwaldung in den Tropen nicht so große Opfer fordert wie befürchtet. "Keine gut untersuchte Tiergruppe weist ein Artenschwund-Muster auf, das zu stark gestiegenen Extinktionsraten passen würde", sekundiert MacPhee. Laut Lomborg prognostizieren die besten Modellrechnungen eine Aussterberate von 0,15 Prozent der Arten pro Dekade: "keine Katastrophe, sondern ein Problem – eines von vielen, das die Menschheit zu lösen hat."

Zur Beantwortung der Frage, ob denn nun eine Massenextinktion stattfindet oder droht, muss man drei Größen kennen: die natürliche (oder "Hintergrund-") Aussterberate, die aktuelle Geschwindigkeit des Artenverlustes und ihre mögliche Änderung in der Zukunft. Der erste Schritt besteht laut Wilson in der Berechnung der mittleren Lebensspanne einer Spezies anhand von Fossilfunden. "Die Hintergrund-Aussterberate ist dann der Kehrwert davon. Wenn Arten nach einem Zufallsmuster entstehen und alle exakt eine Million Jahre lang existieren ..., dann heißt das, dass jedes Jahr pro Million Arten eine auf natürliche Weise zu Grunde geht."

... oder langsamer Rückgang?

Auch May berechnete in einem Artikel von 1995, der immer noch in fast allen Veröffentlichungen über dieses Thema zitiert wird (sogar in Lomborgs Buch), das Hintergrundsterben auf ähnliche Weise. Dabei stützte er sich allerdings auf Schätzungen, die für die mittlere Lebensspanne einer Art fünf bis zehn Millionen Jahre veranschlagten. Deshalb erhielt er eine Rate, die fünf- bis zehnmal niedriger liegt als im obigen Beispiel von Wilson. Aber nach Meinung des Paläontologen David M. Raup von der Universität Chicago (inzwischen emeritiert), der einige der von May und Wilson benutzten Zahlen veröffentlicht hatte, gehen solche Berechnungen von drei falschen Voraussetzungen aus.

Die erste ist, dass alle Arten von Pflanzen, Säugetieren, Insekten, wirbellosen Meerestieren und anderen Gruppen in etwa gleich lange existieren. In Wirklichkeit variiert die typische Überlebenszeit von Gruppe zu Gruppe um den Faktor zehn oder mehr, wobei Säugerarten zu den am wenigsten ausdauernden gehören. Zweitens wird irrigerweise unterstellt, dass alle Organismen in etwa die gleiche Chance haben, zur fossilen Überlieferung beizutragen. Aber nach Schätzungen der Paläontologen haben weniger als vier Prozent aller Arten, die jemals existierten, überhaupt Spuren hinterlassen. "Was wir an Fossilien finden, stammt von weit verbreiteten, erfolgreichen Arten", meint Raup. Und John Alroy von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara ergänzt: "Die unbedeutenden Spezies, die auf irgendeinen Hügel oder eine Insel beschränkt blieben, sind alle ausgestorben, ohne sich in versteinerter Form zu verewigen."

Das dritte Problem ist, dass May und Wilson eine mittlere Lebensspanne berechneten. Stattdessen hätten sie den Medianwert verwenden sollen. Denn "die überwiegende Mehrheit der Arten ist kurzlebig", erklärt Raup. "Der Mittelwert wird also durch die ganz wenigen Spezies mit sehr langer Lebensspanne verzerrt." Diese drei methodischen Fehler führen alle zu einer Unterschätzung der Hintergrundrate – und lassen so die heutige Situation erschreckender erscheinen, als sie ist.

Grausige Ratespiele

Letztes Jahr unternahmen die Bioma-thematikerin Helen M. Regan von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara und einige ihrer Kollegen einen ersten Versuch, solche systematischen Fehler zu korrigieren und Unsicherheiten in den Daten zu berücksichtigen. So betrachteten sie nur die Säugetiere als die am besten untersuchte Gruppe. Sie überschlugen, wie viele der heute lebenden und der jüngst ausgestorbenen Säuger dereinst in versteinerter Form wieder auftauchen würden. Außerdem rechneten sie die Unsicherheitsfaktoren mit ein, statt sich auf gemittelte Schätzungen zu verlassen. Am Ende kam heraus, dass "die momentane Aussterberate bei den Säugern 17- bis 377-mal so groß wie die Hintergrundrate ist". Die beste Schätzung wäre ein 36- bis 78-facher Anstieg in den letzten 400 Jahren.

Es gibt jedoch weitere Unsicherheiten. Die Internationale Naturschutzorganisation IUCN führt "rote Listen" von Arten, die in freier Wildbahn vermutlich ausgestorben sind. Doch MacPhee bemängelt, dass "die IUCN-Methode zur Ermittlung des Aussterbens nicht streng genug ist, um zuverlässig zu sein". Er und andere Experten auf dem Gebiet haben ein "Komitee für kürzlich ausgestorbene Organismen" gegründet. Sie durchkämmen die roten Listen nach Arten, die wirklich eigenständig und nicht bloße Subspezies, Rassen oder Populationen waren und die trotz angemessener Bemühungen nicht mehr aufgefunden werden konnten. Das Komitee bestätigte 60 der 87 in den IUCN-Listen geführten Säugerarten als ausgestorben. Aber von den 92 Arten von Süßwasserfischen, die laut IUCN nicht mehr existieren, hält es nur 33 für definitiv ausgelöscht.

Andererseits könnten einer jeden Spezies, die fälschlicherweise vermisst wird, hunderte oder gar tausende gegenüberstehen, die vom Erdball verschwinden, ohne dass die Wissenschaft je von ihnen erfahren hat. "Die Unsicherheit darüber, mit wie vielen Arten wir den Planeten teilen, ist so groß, dass die Angaben um den Faktor zehn schwanken", bekennt May. "Ich tippe auf etwa 7 Millionen, aber glaubwürdige Schätzungen reichen von 5 bis 15 Millionen", Mikroorganismen nicht eingerechnet.

Taxonomen haben bisher rund 1,8 Millionen Arten identifiziert, aber die Biologen wissen fast nichts über die meisten von ihnen. Am größten sind die Wissenslücken ausgerechnet bei den Lebewesen, die im Tierreich dominieren: Insekten, Fadenwürmern und Krebstieren. Etwa 40 Prozent der rund 400000 bekannten Käferarten sind mit nur einer Fundstelle beschrieben – aber ohne eine Vorstellung vom Verbreitungsgebiet einer Spezies lässt sich deren Aussterben kaum definitiv feststellen. Sogar wirbellose Tiere, von denen man weiß, dass sie nicht mehr existieren, werden oft nicht verzeichnet: Als 1914 die Wandertaube ausstarb, riss sie zwei Arten parasitischer Läuse mit in den Tod; diese sind aber immer noch nicht in den Listen der IUCN aufgetaucht.

"Die Chance, das Aussterben einer Art zu beobachten, ist ungefähr so gering, wie mit eigenen Augen einen Flugzeugabsturz zu sehen", sagt Wilson. Nicht, dass die Wissenschaftler es nicht versuchen würden. Artikel über den "biotischen Holocaust", wie Myers ihn nennt, gehen üblicherweise davon aus, dass die überwiegende Mehrheit der Extinktionen in den mittel- und südamerikanischen Tropen stattfindet. Süßwasserfische, von denen über ein Viertel als bedroht eingestuft werden, sind besonders empfindlich. "Ich arbeite in Venezuela, wo es bedeutend mehr Süßwasserfische gibt als in ganz Nordamerika. Und nach 30 Jahren haben wir die Fischvielfalt hier einigermaßen erfasst", meint Winemiller, "aber wir können keinen einzigen dokumentierten Fall einer Extinktion vorweisen."

Ähnliches gelte für andere Organismengruppen, behauptet er. "Wenn Sie nach konkreten Beweisen dafür suchen, dass jedes Jahr dutzende, hunderte oder tausende Arten verschwinden, werden Sie keine finden. Das kann an der schrecklich unzureichenden Datenbasis liegen", gibt er zu. "Aber man sollte die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Situation gar nicht so verheerend ist, wie jeder befürchtet."

Unbestechliche Logik eines Dramas

Die Katastrophen-Szenarien basieren auf mehreren, voneinander unabhängigen Indizienketten, die alle auf hohe und schnell steigende Extinktionsraten hindeuten. Die breiteste Zustimmung findet dabei die Theorie vom Fläche-Arten-Verhältnis. "Ganz allgemein gilt: Wenn ein Lebensraum schrumpft, nimmt die Zahl der dort lebenden Arten proportional zum Flächenverlust ab – und zwar mit der dritten bis sechsten Wurzel", erklärt Wilson, der diese Beziehung vor über 30 Jahren abgeleitet hat. "Ein mittlerer Wert wäre die vierte Wurzel, was bedeuten würde: Wenn Sie 90 Prozent des Lebensraumes vernichten, sinkt die Artenzahl auf die Hälfte."

"Aus dieser groben Schätzung und der Rate, mit der der Tropische Regenwald vernichtet wird, nämlich rund ein Prozent pro Jahr", fährt Wilson fort, "lässt sich vorhersagen, dass etwa ein viertel Prozent der Arten entweder direkt ausgelöscht oder zu einem baldigen Ende verurteilt wird." Bei einem Bestand von ungefähr zehn Millionen Arten sollten also jährlich etwa 25000 untergehen.

Lomborg bestreitet das. Fläche-Arten-Verhältnisse wurden, so sein Haupteinwand, durch Vergleich der Artenzahl auf verschieden großen Inseln entwickelt und seien deshalb nicht unbedingt auf zersplitterte Lebensräume auf dem Festland anwendbar. "Mehr als 50 Prozent der Vogelarten Costa Ricas kommen in weitgehend entwaldeten ländlichen Regionen vor, und Ähnliches gilt für Säuger- und Schmetterlingsarten", resümierte die Biologin Gretchen Daily von der Universität Stanford jüngst in der Zeitschrift Nature. Auch wenn die Waldarten auf Ackerland und in kleinen Gehölzen nicht gerade üppig gedeihen, können die meisten dort zumindest überleben – für wie lange, weiß allerdings niemand.

Streit um ausgestorbene Vogelarten

Lomborg führt ein schlagendes Beispiel dafür an: Sowohl im Osten der USA als auch in Puerto Rico habe die Zerstörung von über 98 Prozent der Primärwälder keineswegs die Hälfte aller Vogelarten aussterben lassen. Vier Jahrhunderte der Waldrodung "resultierten in der Auslöschung nur einer Waldvogelart" von 200 in den USA und von sieben der sechzig in Puerto Rico heimischen Arten, versichert er.

Solche Kritik missverstehe die Theorie vom Fläche-Arten-Verhältnis, entgegnet Stuart L. Pimm von der Columbia-Universität in New York. "Die Zerstörung von Lebensräumen funktioniert wie eine Plätzchenform, mit der man schlecht durchmengten Teig aussticht," schrieb er vor zwei Jahren in Nature. "Arten, die nur in dem ausgestochenen Gebiet vorkommen, werden ausgerottet, solche mit größerem Verbreitungsgebiet dagegen nicht."

Von den 200 Waldvogelarten der amerikanischen Ostküste lebten laut Pimm bis auf 28 alle auch anderswo. Außerdem sei der Wald schrittweise abgeholzt worden und schrittweise nachgewachsen, wenn Ackerland wieder sich selbst überlassen wurde. Deshalb war sogar auf dem Höhepunkt der Rodungen – um 1872 – die Hälfte der ursprünglich bewaldeten Fläche immer noch oder wieder von Wäldern bedeckt. Für eine 50-prozentige Reduktion sagt die Fläche-Arten-Theorie voraus, dass 16 Prozent der endemischen Arten vernichtet würden: In diesem Fall wären das vier von 28 Vogelarten. Und genauso viele sind auch ausgestorben. Lomborg lässt eine dieser Arten unberücksichtigt, weil sie eine Unterart gewesen sein könnte, und zwei weitere, weil nicht sicher sei, dass sie wirklich der Entwaldung zum Opfer fielen.

Aber selbst wenn die Fläche-Arten-Beziehung Bestand haben sollte, verweist Lomborg auf offizielle Statistiken, wonach die Entwaldung sich verlangsamt hat und nun deutlich unter einem Prozent pro Jahr liegt. So schätzte die Food and Agriculture Organization der U.N. vor kurzem, dass der Waldbestand zwischen 1990 und 2000 weltweit nur noch um durchschnittlich 0,2 Prozent pro Jahr geschrumpft ist: 11,5 Millionen Hektar wurden gefällt, und 2,5 Millionen Hektar sind nachgewachsen.

In den meisten tropischen Gebieten betrug die jährliche Entwaldungsrate allerdings ein halbes Prozent, und dort lebt die überwiegende Mehrheit der seltenen und bedrohten Arten. Obwohl sich Artenschützer also "hin und wieder mit den Zahlen vertun, vielleicht auch verführt von ihrem Eifer, die Öffentlichkeit aufzurütteln", träfen ihre Schätzungen doch im Großen und Ganzen zu, urteilt Carlos A. Peres, ein brasilianischer Ökologe an der Universität von East Anglia in England.

Heikle Hochrechnungen

Ökologen haben auch mit anderen Methoden versucht, die künftige Entwicklung der Aussterberaten zu erfassen. May und seine Mitarbeiter verfolgten zu diesem Zweck, wie sich Wirbeltier- und Pflanzenarten über einen Zeitraum von vier bzw. zwei Jahren durch die Gefährdungsgrade der IUCN-Datenbank bewegten. Diese kurzfristigen Änderungen projizierten sie weit in die Zukunft. Daraus leiteten sie ab, dass die Aussterberaten in den nächsten 300 Jahren 12- bis 55-fach steigen werden.

Zu ähnlichen Schlüssen kam Georgina M. Mace, wissenschaftliche Leiterin der Zoologischen Gesellschaft London. Sie verglich Modellrechnungen miteinander, in denen die Überlebenswahrscheinlichkeiten für einige sehr gut bekannte Arten berechnet wurden. Der Entomologe Nigel E. Stork vom Naturhistorischen Museum in London wiederum stellte fest, dass in Großbritannien das Extinktionsrisiko für Vögel etwa zehnmal so hoch ist wie für Insekten. Indem er solche Verhältniszahlen auf den Rest der Welt extrapolierte, gelangte er zu der Prognose, dass bis zum Jahr 2300 etwa 100000 bis 500000 Insektenarten aussterben würden. Lomborg dagegen kommt mit demselben Ansatz zu dem Schluss, dass "die Extinktionsrate für alle Tierarten unter 0,208 Prozent pro Dekade und wahrscheinlich unter 0,7 Prozent in 50 Jahren bleiben wird."

Für jeden Wissenschaftler bedeutet es einen geradezu heldenmütigen Akt, derart langfristige und umfassende Voraussagen auf der Grundlage einer so dünnen und wackeligen Datenbasis zu machen. Dies gilt umso mehr, als die Angaben über Bedrohungsgrade nach Mays Meinung "wohl mehr über die Zufälle der Zählungen, die Vorlieben der Taxonomen und die Unwägbarkeiten der Datenerfassung als über die tatsächlichen Änderungen des Status einer Art aussagen."

Allerdings sprechen auch theoretische Untersuchungen dafür, dass ein Massenaussterben, sofern es noch nicht begonnen hat, doch unmittelbar bevorsteht. Kevin Higgins von der Universität von Oregon in Eugene präsentierte auf der Konferenz in Hilo ein Computermodell, welches das Schicksal einer Population aus künstlichen Organismen verfolgt, indem es Mutationsraten, Fortpflanzungserfolg und ökologische Interaktionen der "Tiere" simuliert. Wie er dabei herausfand, sind "Mutationen in kleinen Populationen so unscheinbar, dass die natürliche Selektion sie nicht herausfiltert. Dies verkürzt die Zeit bis zum Aussterben ganz dramatisch." Wenn Lebensräume schrumpfen und Populationen sich dadurch verkleinern, "könnte dies zu einer Zeitbombe werden, zu einem Aussterben, das unter der Oberfläche stattfindet," warnt Higgins. Vielleicht gehören "viele der Arten, die heute in Schwierigkeiten sind, in Wirklichkeit schon zu den Todgeweihten", wie David S. Wood-ruff, Ökologe an der Universität von Kalifornien in San Diego, im vergangenen Mai in den Proceedings of the National Academy of Sciences schrieb. Aber den Beweis zu führen, dass die Zeitbombe da draußen in der Wildnis bereits tickt, dürfte nicht leicht werden.

Was geschieht wohl mit den Feigenbäumen, die mit 900 Arten die häufigste Pflanzengattung der Tropen bilden, wenn die eine parasitische Wespenart verloren geht, die sie jeweils befruchtet? Oder was wird aus den 79 Prozent der Bäume auf Samoa, die das Kronendach des Regenwalds bilden, wenn Jäger die Flughunde töten, von denen ihre Fortpflanzung abhängt? Eine der größten Befürchtungen vieler Naturschützer ist, dass die Gebäude ganzer Ökosysteme einstürzen, wenn nur ein paar tragende Säulen entfernt werden.

Andere misstrauen dieser Metapher. "Mehrere jüngere Studien scheinen zu zeigen, dass gewisse Redundanzen in Ökosystemen vorhanden sind", sagt Melodie A. McGeoch von der Universität Pretoria in Südafrika. Zwar gibt sie zu, dass die Redundanzen von heute schon morgen die letzte Reserve sein könnten. Dennoch erklärt sie: "Es leuchtet wirklich nicht ein, warum die Mehrheit der Arten untergehen sollte, wenn die Selektionsdrücke geringfügig höher sind, als sie es ohne den Menschen wären. Man kann schon davon ausgehen, dass die Evolution für eine gewisse Zähigkeit der Lebensgemeinschaften sorgt."

Unerwartete Schonfrist?

Wenn es die natürliche Auslese nicht tut, dann vielleicht die künstliche. Das scheinen jüngste Untersuchungen von Werner Greuter von der Freien Universität Berlin, Thomas M. Brooks von Conservation International und anderen zu lehren. Greuter verglich die aktuellen Aussterberaten von Pflanzen in drei ökologisch verwandten Regionen. Dabei entdeckte er, dass die am längs-ten besiedelte und am stärksten gestörte Region – der Mittelmeerraum – die geringsten Verluste aufwies. In Kalifornien sowie in Süd-afrika gab es mehr Extinktionen und in Westaustralien die meisten. Dieser scheinbar paradoxe Befund ließe sich damit erklären, dass Arten, die mit der Landnutzung durch den Menschen nicht zurechtkommen, schon bald nach Einführung der Landwirtschaft aussterben. Die verbleibenden Spezies wären dann besser dafür gerüstet, sich gleichsam vor den Pfeilen zu ducken, die wir nach ihnen werfen. Das durch die Menschheit verursachte Artensterben sollte sich also mit der Zeit abschwächen.

Das hätte beträchtliche Implikationen. Unsere Ahnen könnten in seit langem besiedelten Gegenden wie Europa und Asien schon vor Jahrtausenden mehr Arten vernichtet haben, als wir glauben mögen. Auf der anderen Seite bleibt uns vielleicht eine längere Schonfrist, als befürchtet, um Katastrophen dort zu verhindern, wo Menschen schon seit einer ganzen Weile Teil der Ökosysteme sind. Allerdings hätten wir dann auch weniger Zeit als erhofft, um solche Katastrophen in den wenigen Regionen der Wildnis zu verhüten, die noch unberührt geblieben sind.

"Es stellt sich die Frage, wie wir mit der Unsicherheit umgehen sollen, denn es gibt einfach keinen Weg, sie zu beseitigen", erklärt Winemiller. Angesichts dieser Situation hält er es für falsch, die Problematik des Artensterbens als Aufhänger für Naturschutzbewegungen zu verwenden. "Wenn sich [die alarmierenden Prognosen] als falsch erweisen, was bleibt dann?"

Die Naturschützer stünden dann nur noch mit einer Hand voll schwacher politischer und wirtschaftlicher Argumente da. Deshalb verschanzen sich einige hinter weit vorgezogenen Verteidigungslinien. "Wenn wir nicht sagen, dass der Verlust auch nur einer Art inakzeptabel ist, haben wird keine feste Position, die wir verteidigen können. Wir würden dann immer weiter zurückgedrängt, während die Verluste sich anhäufen", argumentierte Brooks auf der Tagung in Hilo. Aber Verluste seien unvermeidlich, hält Wilson dagegen, solange die Weltbevölkerung nicht zu wachsen aufhöre.

Er nennt das den Flaschenhals. "Wir müssen durch das Gerangel um die verbleibenden Ressourcen hindurch, bis wir – vielleicht irgendwann im 22. Jahrhundert – in eine Ära des Bevölkerungsrückgangs kommen. Unsere Aufgabe ist es, so viel Artenvielfalt wie möglich mit hinüber zu retten". Die Biologen sind jedoch uneins über die Frage, ob die wenigen Sympathie weckenden Arten, die jetzt als gefährdet gelten, bestimmen sollen, was durch den Flaschenhals gelangt.

Geschäfte zugunsten der Natur

"Das Argument, dass alles andere auch gerettet wird, wenn man nur Vögel und Säugetiere schützt, hält einer genaueren Überprüfung nicht stand", sagt May. Ein vernünftigeres Ziel sei es "zu versuchen, möglichst viel von der Evolutionsgeschichte zu bewahren." Weitaus wertvoller als ein Panda oder ein Nashorn sind nach Ansicht von May lebende Fossilien wie der Tuatera (im Deutschen auch Brückenechse genannt) – ein großes, leguanartiges Reptil, das ausschließlich auf Inseln vor der Küste Neuseelands vorkommt. Es ist in nur zwei Arten von einer Tiergruppe übrig geblieben, die vor derart langer Zeit vom Stammbaum der Reptilien abzweigte, dass dieses Paar nun eine Gattung, eine Ordnung und fast eine Unterklasse ganz für sich allein einnimmt.

Woodruff beruft sich dagegen auf ein noch allgemeineres Prinzip. "Einige von uns verfechten einen Wechsel von der Rettung von Dingen, den Ergebnissen der Evolution, zur Rettung des zu Grunde liegenden Vorgangs, nämlich der Evolution selbst", schreibt er. "[Sie] wird uns letztendlich die kostengünstigste Lösung für das gesamte Problem des Naturschutzes bescheren."

Es gibt immer noch einige wenige große Gebiete, in denen allein die natürliche Auslese bestimmt, welche Arten Erfolg haben und welche zu Grunde gehen. "Warum sollen wir nicht funktionierende Ökosysteme retten, die bisher noch nicht ausgeplündert wurden?", fragt Winemiller. "Orte wie die Plateauregion Guyanas in Südamerika enthalten viel mehr Arten als einige der so genannten Hotspots." Solche Gebiete zu retten hieße Landflächen zu kaufen, die groß genug sind, um ganze Ökosysteme zu umschließen und ihnen noch genügend Raum zu lassen, sich bei wechselnden Klimabedingungen nord- oder südwärts zu verlagern. Dies dürfte nicht unmöglich sein; denn völlig unerschlossenes Land ist relativ billig. In den gekauften Arealen müsste dann jegliche Nutzung durch den Menschen verboten werden.

"Wie die Erfahrung lehrt, ist es viel einfacher, einem Vorstandsvorsitzenden oder einem Milliardär die Wichtigkeit des Themas nahe zu bringen, als die amerikanische Öffentlichkeit zu überzeugen", meint Wilson. "Mit einem Ted Turner, Gordon Moore oder Craig McCaw kommt man fast so weit wie mit einem ziemlich großzügigen Batzen aus dem Fördertopf einer Industrienation." (Gordon Moore war Gründer und langjähriger Vorstandsvorsitzender von Intel, Ted Turner ist US-Medienmogul und Gründer von CNN, Craig McCaw hat sich als Pionier der drahtlosen Telekommunikation einen Namen gemacht. Sie alle zählen zu den fünfzig reichsten Personen auf der Welt.)

"Vielleicht sogar weiter", bestätigt Richard E. Rice, Chefökonom bei Conservation International (CI). Mit Geldern von Moore, McCaw, Turner und anderen Spendern überbot CI Unternehmen der Holzindustrie, als es um den Kauf von Waldland in Surinam und Guyana ging. In Bolivien, so berichtet Rice "erhielten wir eine Fläche von der Größe Rhode Islands für die Hälfte dessen, was ein Haus in meiner Gegend kostet." Und Nature Conservancy war in der Lage, für nur 1,5 Millionen Dollar ein Stück Regenwald so groß wie der Yellowstone Nationalpark zu erwerben. Ende Juli letzten Jahres vergab Peru an eine Umweltorganisation die erste "Naturschutzkonzession" des Landes: im Wesentlichen eine verlängerbare Pacht für das Recht, das Land – in diesem Fall 130000 Hektar Wald - nicht zu er-schließen. Peru habe bis jetzt etwa 60 Millionen Hektar seiner Staatswälder für solche Konzessionen bereitgestellt, sagt Rice. Ähnliche Verträge werden mit Guatemala und Kamerun angestrebt.

"Sogar ohne massive Unterstützung durch die Öffentlichkeit und ohne eine wirklich wirksame Politik der US-Regierung wenden sich die Dinge zum Besseren", sagt Wilson mit einer Mine, die vorsichtigen Optimismus widerspiegelt. Vielleicht ist es ja wirklich noch zu früh zum Verzweifeln.

Literaturhinweise


"Life Counts – eine globale Bilanz des Lebens". Von M. Gleich et. al. (Hg.). Berlin 2000.

Des Lebens ganze Fülle. Von E. O. Wilson. Claassen, München 1999.

Ende der biologischen Vielfalt? Von E. O. Wilson (Hg.). Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1992.


STECKBRIEF


- Warnungen namhafter Ökologen zufolge verursacht die Menschheit ein Artensterben, wie es die Erde seit dem Untergang der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren nicht mehr gesehen hat. Aber Paläontologen und Statistiker ziehen die Prognosen in Zweifel.

- Es ist schwer zu ermitteln, wie schnell derzeit Arten verschwinden. Modelle, die auf der Geschwindigkeit der Entwaldung in den Tropen oder auf dem Wachstum der roten Listen basieren, sagen steigende Extinktionsraten voraus. Aber die einseitige Fokussierung auf Pflanzen und Wirbeltiere, die nur eine Minderheit unter den vielzelligen Lebewesen darstellen, relativiert solche Vorhersagen. Weil 90 Prozent aller Arten noch keinen Namen haben, geschweige denn gezählt wurden, ist ihre Gefährdung unmöglich zu überprüfen.

- Angesichts der Unsicherheit über den Rückgang der biologischen Vielfalt und deren ökonomischen Wert debattieren Wissenschaftler darüber, ob seltene Arten im Mittelpunkt der Naturschutzbemühungen stehen sollten. Andere schlagen vor, lieber relativ unberührtes – und billiges – Land zu retten. Hier könne die Evolution unbeeinflusst vom Menschen weitergehen.


Die Palette des Lebens


Wie schlimm ist das momentane Artensterben? Die Antwort hängt im Wesentlichen davon ab, wie viele Arten es insgesamt gibt. Je mehr es sind, desto mehr erlöschen jedes Jahr durch natürliche Ursachen oder entstehen neu. Auch wenn die Biologen den Stammbaum des Lebens in groben Umrissen kennen, sind sie noch sehr unsicher darüber, wie viele Zweige von jedem Ast ausgehen. Und bei den Bakterien, Viren und Archaeen (einem Organismenreich aus einzelligen Lebewesen, das erst vor wenigen Jahrzehnten entdeckt wurde) gibt es überhaupt nur ganz vage Vorstellungen über die Anzahl der Äste.

Vögel, Fische, Säugetiere und Pflanzen sind dagegen gut bekannt. Als der Zoologe Robert M. May von der Universität Oxford sich ein Bild von den Arbeitsfeldern der etwa 5000 Taxonomen weltweit verschaffte, stellte er fest, dass jeweils etwa gleich viele von ihnen Wirbeltiere, Pflanzen und Wirbellose – also den überwältigenden Rest des Tierreichs – untersuchen. "Man möchte gerne glauben, dass diese Gewichtung eine vernünftige Einschätzung der Bedeutung der betreffenden Organismengruppen widerspiegelt", sagt er. "Doch in meinen Augen ist das völliger Blödsinn! Egal, ob Sie sich dafür interessieren, wie sich Ökosysteme entwickelt haben, wie sie zur Zeit funktionieren oder wie sie vermutlich auf Klimaänderungen reagieren werden: Sie erfahren sehr viel mehr darüber, wenn Sie sich Mikroorganismen im Boden statt der allseits beliebten Säugetiere ansehen."

In jeder Gruppe außer den Vögeln, konstatiert Peter Hammond vom Natural History Museum in London, werden heute in nie da gewesenem Tempo bisher unbekannte Arten entdeckt. Dies sei einigen neuen internationalen Projekten zu verdanken. So wurden bei einer alle Taxa umfassenden Inventur der Artenvielfalt im Great Smoky Mountains Nationalpark in North Carolina und Tennessee in den ersten 18 Monaten bereits 115 neue Arten gefunden – 80 Prozent davon Insekten oder Spinnentiere. Letztes Jahr gründeten 40 Wissenschaftler das "All Species Project", eine Vereinigung mit dem (vermutlich utopischen) Ziel, alle lebenden Arten, Mikroorganismen eingeschlossen, innerhalb der nächsten 25 Jahre zu katalogisieren.

Ziel anderer Projekte wie "Global Biodiversity Information Facility" und "Species 2000" ist der Aufbau von Datenbanken im Internet. Hier sollen Artbeschreibungen niedergelegt werden, die bis jetzt noch in den Universitäten und Museen der Welt verstreut sind. Wenn man Artenvielfalt ganz pragmatisch als die Anzahl der Lebensformen definiert, von denen wir wissen, dann wächst sie zurzeit in atemberaubendem Tempo.


Warum Artenvielfalt sich nicht bezahlt macht: die Argumentationsprobleme der Naturschützer


Auf dem internationalen Entomologenkongress in Foz do Iguaçu (Brasilien) im vergangenen Sommer suchte Ebbe Nielsen, der Direktor der Nationalen Insektensammlung Australiens in Canberra, nach Gründen, weshalb bisher so wenig zur Rettung der bedrohten Arten auf der Welt geschehen ist – und das trotz der Konvention über biologische Vielfalt (CBD), die 1992 in Brasilien verabschiedet und von 178 Staaten unterzeichnet wurde. "Sie und ich können sagen, die Aussterberaten seien zu hoch und wir müssten [mit dem Vernichten von Arten] aufhören, aber um Politiker zu überzeugen, brauchen wir Gründe, die auch ihnen einleuchten", sagt er. "In den Entwicklungsländern ist der ökonomische Druck so groß, dass die Leute alles nutzen, was sie finden können, um bis morgen zu überleben. Solange das der Fall ist, wird es dort keinerlei Unterstützung für die Erhaltung der Artenvielfalt geben."

Jedenfalls so lange nicht, bis es profitabler werden könnte, einen Wald stehen und ein Feuchtgebiet feucht bleiben zu lassen, als dieses Land in Farmen, Äcker oder Parkplätze umzuwandeln. Leider haben viele von den Argumenten, mit denen Umweltschützer zu begründen suchen, warum jede der vielleicht zehn Millionen Arten auf der Erde einen wirtschaftlichen Nutzen habe, inzwischen an Überzeugungskraft verloren.

Absicherung gegen Krankheit und Hunger

"Ein streng utilitaristisches Argument lautet: Das enorme genetische Reservoir, das in der Vielfalt der Populationen und Arten steckt, bildet letztendlich das Rohmaterial für die biotechnologische Revolution von morgen", erklärt Robert May von der Universität Oxford. "Es ist die Quelle neuer Medikamente." "Oder neuer Nahrungsmittel – für den Fall, dass mit den 30 Nutzpflanzenarten, die 90 Prozent der Kalorien für die menschliche Ernährung liefern, oder mit den 14 Tierarten, die 90 Prozent unserer Nutztiere ausmachen, irgendetwas passiert", ergänzt Edmund O. Wilson von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts).

"Einige Leute, die das behaupten, glauben vielleicht sogar daran", fährt May fort. "Ich nicht. In 20 bis 30 Jahren werden wir neue Medikamente" nicht aus neu entdeckten Pflanzen oder Mikroorganismen gewinnen, sondern "im Labor einem Zielmolekül auf den Leib schneidern, wie das heute schon ansatzweise geschieht."

Vor zehn Jahren erhielt das Nutzen-argument Auftrieb durch Berichte, dass die Firma Merck 1,14 Millionen Dollar an InBio, eine Naturschutzorganisation in Costa Rica, für neue chemische Substanzen aus Arten des Regenwaldes gezahlt hätte. Der Vertrag sah Tantiemen an InBio vor, falls aus einer der Substanzen ein Medikament hervorgegangen wäre. Aber dazu kam es nicht, und Merck kündigte 1999 die Vereinbarung. 1989 wurde Shaman Pharmaceuticals gegründet, um traditionell genutzte Heilpflanzen zu vermarkten. Zwar kam sie bis zu weit fortgeschrittenen klinischen Studien, machte dann aber Konkurs.

Wie Wilson in "Des Lebens ganze Fülle" schreibt, lagern 90 Prozent der bekannten Rassen der wichtigsten Nutzpflanzen in Samenbanken. Unter diesen Umständen sind Nationalparks wohl kaum die preiswerteste Rückversicherung gegen eine eventuelle Katastrophe in der Landwirtschaft.

Ökosysteme als Dienstleister

"Das potenziell stärkste Argument", meint May "ist im weiteren Sinne utilitaristisch: Ökosysteme leisten uns Dienste, deren Wert wir erst schätzen lernen, wenn sie nicht mehr da sind." Beispielsweise dienen Tropenwälder der Klimaregulation, und unsere heimischen Wälder fungieren als Erholungsgebiete. Desgleichen kann sich die Artenvielfalt einer Region als Touristenattraktion auch wirtschaftlich auszahlen. "Wir wissen nicht, wie sehr man diese Systeme vereinfachen kann, ohne dass sie ihre Funktion verlieren", bekennt May. "Wie schon Aldo Leopold, der Vater der Wildreservate, vor mehr als einem halben Jahrhundert sagte: Oberste Regel des intelligenten Herumbastelns ist, alle Teile zu behalten."

Laut Geoffrey Heal, Ökonom an der Columbia-Universität in New York, ist das Problem mit diesem Argument, dass "es keinerlei Sinn macht, den Wert eines Lebenserhaltungssystems danach bemessen zu wollen, was sein Ersatz kosten würde." Ökonomen könnten nur solchen Dingen einen Wert zuweisen, für die es einen Markt gibt. Wenn beispielsweise alles Öl verschwände, könnten wir auf andere Brennstoffe ausweichen, die 50 Dollar pro Barrel kosten. Aber für den heutigen Preis des Erdöls spielt das keine Rolle: Er liegt viel niedriger.

Neuere Experimente deuten darauf hin, dass sich die Biomasse auf einer gegebenen Landfläche und damit deren Fähigkeit zur Bindung von Kohlendioxid verringert, wenn ein Großteil der dort lebenden Arten verschwindet. Allerdings lässt sich derzeit nicht beurteilen, ob das auch für ganze Ökosysteme gilt. "Möglicherweise würde eine schrecklich vereinfachte Welt – wie diejenige in dem Kultfilm "Blade Runner" – so funktionieren, dass wir darin überleben könnten", räumt May ein.

Appell an die Verantwortung

Die Wissenschaft weiß so wenig über die Millionen Arten da draußen, ganz zu schweigen von den komplexen Aufgaben, die jede einzelne in ihrem Ökosystem erfüllt, dass die mögliche ökonomische Bedeutung bedrohter Spezies leicht unerkannt bleibt. Ein moralischer Appell könnte da die letzte Hoffnung sein – jedenfalls haben Appelle an das Verantwortungsbewusstsein der Entscheidungsträger bisher am meisten bewirkt. Aber ist es nicht problematisch für Wissenschaftler, zu diesem Mittel zu greifen?

Sie tun es jedenfalls, und zwar auf verschiedene Weisen. Für Wilson "ist jede Art ein Millionen Jahre altes Meisterstück der Evolution, codiert durch fünf Milliarden genetische Buchstaben und vorzüglich an die ökologische Nische angepasst, die es besetzt." Aus diesem Grund "trägt", wie der Biologe David Ehrenfeld in seinem Buch "Die Arroganz des Humanismus" schreibt, "jede lang dauernde Existenz in der Natur ... das unantastbare Recht auf Fortdauer eben dieser Existenz in sich."

Die öffentliche Anerkennung eines solchen Rechts dürfte allerdings viel Erziehungsarbeit und Überredungskunst erfordern. Laut einer Umfrage vom letzten Jahr kannte nur ein Viertel der Amerikaner den Begriff "Biodiversität". Zwar äußerten sich immerhin drei Viertel besorgt über den Verlust von Arten und Lebensräumen, aber das ist ein Rückgang gegenüber 87 Prozent im Jahr 1996. Und May merkt an, dass die Vorstellung von der Verantwortung für die biologische Vielfalt "ein Luxus" ist, den sich nur entwickelte Länder leisten können. "Würden wir in tiefster Armut leben und versuchen, fünf hungrige Mäuler zu stopfen, fände diese Idee bei uns weniger Anklang."

Es gibt einen weiteren Vorbehalt. Wenn Wissenschaftler "im Namen der biologischen Vielfalt missionieren" – wie Wilson, Lovejoy, Ehrlich und viele andere das getan haben –, sollten sie bedenken, dass "das gefährlich sein kann", meint David Takacs von der California State University in Monterey Bay. "Parteinahme untergräbt leicht den Eindruck von Neutralität und Objektivität. Diese Werte sind es aber, die Laien überhaupt dazu bringen, auf Wissenschaftler zu hören." Und dennoch: Wenn nicht einmal die, die bedrohte Arten am besten kennen und am meisten lieben, offen für sie eintreten dürfen, wer soll es dann?

Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2002, Seite 62
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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