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Ökonomie: Der Wert des Geldes

Ein 300 Jahre alter Brief offenbarte ein mathematisches Paradoxon - und bereitete so der modernen Wirtschaftstheorie den Weg: Welchen Wert hat Geld?
Beispiel: Glücksspiel

Vor ziemlich exakt drei Jahrhunderten, im September 1713, schrieb der Schweizer Mathematiker Nikolaus Bernoulli einen Brief an einen Mathematikerkollegen in Frankreich, den Edelmann Pierre Rémond de Montmort. Darin schilderte Bernoulli ein harmlos klingendes Paradoxon über ein Glücksspiel. De Montmort fand das Problem schließlich derart bemerkenswert, dass er den Brief innerhalb weniger Monate in der zweiten Auflage seiner Abhandlung Essai d'analyse sur les jeux de hazard (Essay über die Analyse von Glücksspielen) veröffentlichte. Die beiden waren sich damals wohl nicht im Klaren darüber, doch mit ihrem Briefwechsel legten sie die Basis für die Entscheidungstheorie und damit für die gesamten Wirtschaftswissenschaften.

Das Paradoxon beschreibt die Diskrepanz zwischen dem, was Mathematiker von einem unsicheren Ereignis in der Zukunft erwarten – basierend auf der Wahrscheinlichkeitstheorie –, und dem, was uns der gesunde Menschenverstand dazu rät. Mit diesem Problem sehen wir uns auch heute noch konfrontiert: Immer dann beispielsweise, wenn jemand entscheidet, ob er eine Hausratversicherung abschließt, ein Bankmanager festlegt, welchen Zinssatz er von einem Kunden verlangt, oder ein Investor überlegt, ob die zu erwartenden Renditen ein riskantes Geschäft rechtfertigen.

Erwartungswerte

Bernoullis Aufgabe lautete wie folgt: Wenn Person A verspricht, Person B eine Münze zu geben, wenn diese beim ersten Wurf eines Würfel sechs Augen wirft, zwei Münzen, wenn ihr das beim zweiten Wurf gelingt, vier Münzen, wenn sie erst beim dritten Wurf eine Sechs würfelt, acht, wenn es beim vierten Wurf passiert und so weiter – von welchem Gewinn kann B dann ausgehen? De Montmort könne bei diesem "simplen" Problem auf "etwas sehr Interessantes" stoßen, meinte Bernoulli.

Beispiel: Glücksspiel |

Das mathematische Problem, das Nikolaus Bernoulli als so interessant betrachtete, formulierte er zunächst als Würfelspiel. Die Suche nach Antwort stieß Überlegungen an, die bis heute eine Rolle spielen.

"Els Daus" (Die Würfel), Gemälde von Simó Gómez Polo (1845-1880) aus dem Jahr 1874

Die Wahrscheinlichkeitstheorie steckte damals noch in den Kinderschuhen. Der Begriff des "Erwartungswertes" wurde 60 Jahre zuvor in einem Briefwechsel zwischen zwei französischen Hobbymathematikern geprägt: dem Philosophen Blaise Pascal in Paris und dem Richter Pierre de Fermat in Toulouse. Die beiden hatten festgestellt, dass sich der Erwartungswert eines unsicheren Ereignisses berechnen ließ, indem man die möglichen Werte mit den Wahrscheinlichkeiten ihres Auftretens multiplizierte.

Im November 1713 schrieb De Montmort abwiegelnd, dass Bernoullis Denkaufgabe keinerlei Problem darstelle und durch einfaches Aufsummieren zu lösen sei. De Montmort verkannte dabei jedoch den entscheidenden Punkt. Im Februar des folgenden Jahres erwiderte Bernoulli mahnend, dass "Sie gut daran getan hätten, eine Lösung zu suchen, denn dann hätten Sie eine sehr kuriose Beobachtung machen können."

Bernoulli vereinfachte das Problem, indem er statt eines Würfels nun eine Münze werfen ließ. Solange sich die Kopfseite der Münze nicht zeigte, sollte sich der Gewinn immer weiter verdoppeln. Ein Beispiel: Peter bietet Paul eine Goldmünze, wenn die Kopfseite bereits beim ersten Wurf erscheint. Zeigt sich beim ersten Wurf eine Zahl und erst beim zweiten Kopf, bekommt Paul zwei Dukaten. Ist das Ergebnis bei den ersten beiden Würfen Zahl und beim dritten Wurf Kopf, erhält Paul vier Dukaten. Wirft er hintereinander dreimal Zahl und dann Kopf, gewinnt er acht Dukaten, und so weiter. Mit welchem Gewinn darf Paul rechnen?

Nach Pascal und Fermat lässt sich der Gewinn wie folgt berechnen: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Münze bereits beim ersten Wurf ihre Kopfseite zeigt, beträgt 1/2. Will man die Kopfseite erst beim zweiten Wurf sehen, so sinkt die Wahrscheinlichkeit dafür auf 1/4. Und soll sie erst nach zwei Würfen mit dem Ergebnis Zahl auftauchen, so liegt die Wahrscheinlichkeit nur noch bei 1/8, und so fort. Der zu erwartende Gewinn ergibt sich nun aus der Summe der einzelnen Ausschüttungen (1, 2 , 4, 8 ... ) multipliziert mit den Wahrscheinlichkeiten (1/2, 1/4, 1/8, 1/16 …).

Ein unendlich hoher Gewinn

Das Ergebnis ist überraschend. Jedes der Produkte – 1∗1/2, 2∗1/4, 4∗1/8 und so weiter – ergibt genau 1/2. Geht man nun von der reellen – wenn auch extrem geringen – Chance aus, dass der Spieler unzählige Male nacheinander eine Zahl wirft und das Ergebnis Kopf ausbleibt, muss der Wert 1/2 unendlich oft addiert werden. Der zu erwartende Gewinn wächst in diesem Fall ins Unendliche. Ungläubig schrieb de Montmort: "Ich kann nicht glauben, dass ... der Vorteil für Paul unendlich sein soll." Danach ruhte die Angelegenheit für 14 Jahre.

Im Mai 1728 schaltete sich der 23-jährige Mathematiker Gabriel Cramer aus Genf ein und schrieb aus London: "Mathematiker bewerten Geld im Verhältnis zu seiner Menge – und Personen mit einem gesunden Menschenverstand im Verhältnis zum Nutzen, den sie daraus ziehen." Dies war eine weit reichende Einsicht. Einen Millionär mache ein weiterer Dukat auf seinem Konto nicht glücklicher, begründete Cramer. In der Annahme, dass jede Geldsumme über 224 (das entspricht der Zahl 16 777 216) dem Besitzer keinen zusätzlichen Nutzen bringe, summierte er Bernoullis Reihe nur bis zu diesem Punkt und erhielt so einen endlichen Betrag. Man solle maximal 13 Dukaten bezahlen, so Cramers Fazit, um an dem Spiel teilzunehmen.

Cramer erkannte allerdings bald eine Schwachstelle in seinem Argument. Ein zusätzlicher Dukat müsse stets von Nutzen sein, egal ob ein Bettler ihn gewinnt oder eine reiche Person. Er fand einen Ausweg. Der Nutzen einer zusätzlichen Goldmünze sei niemals null, falle aber immer geringer aus als für die vorherige – mit dem Vermögen steige also auch der Nutzen, doch dessen Zuwachsrate nehme immer weiter ab. Der Nutzen steigt mit der Quadratwurzel des Vermögens an, spekulierte Cramer und schätze den zu erwartenden Gewinn nun auf etwas mehr als 2,9 Dukaten.

Bernoulli kam auf eine geringfügig andere Lösung. Der Grund für das Paradoxon sei nicht, dass der Nutzen für den Spieler ab einer bestimmten Gewinnsumme zu klein ausfalle, schrieb er, sondern dass der Spieler sehr geringe Gewinnchancen einfach außer Acht ließe. Demgemäß setzte Bernoulli alle Wahrscheinlichkeiten kleiner als 1/32 gleich null und erhielt einen zu erwartenden Gewinn von 2,5 Dukaten. Obwohl Cramers Argumentation genauso legitim war, zeigte er sich in seiner Antwort reuevoll.

Endliche Ressourcen

An dieser Stelle der Geschichte zog Bernoulli seinen jüngerer Cousin Daniel hinzu – ein Mathematiker und Physiker, den man heute unter anderem durch das nach ihm benannte Strömungsgesetz kennt. Dessen wortgetreue Rückmeldung bleibt leider unbekannt, da der entsprechende Brief verloren ging. Nikolaus’ verärgerte Reaktion lässt allerdings vermuten, dass sein Cousin wohl Partei für Cramers Idee ergriffen hatte. Ein Gewinn über 224 Dukaten sei nicht interessant für Paul, argumentierte Daniel offenbar, denn womöglich wäre Peter nicht vermögend genug, um nahezu 17 Millionen Dukaten zu zahlen – sollte sich die Kopfseite der Münze denn tatsächlich erst nach 25 Würfen oder später zeigen. Paul weiß also, dass sein Gewinn nicht über diesen Betrag steigen wird. Nikolaus wies die Argumentation seines Vetters ab, ebenso wie er es bei Cramer getan hatte.

Frustriert suchte Daniel weiter nach einem Ausweg aus dem Paradoxon und stieß schließlich auf eine weitere, elegantere Lösung. Im Juli 1731 schickte er ein Manuskript an Nikolaus und erklärte darin, dass Fermats und Pascals ursprünglicher Ansatz – der Erwartungswert ergebe sich aus dem Produkt der möglichen Ergebnisse und ihrer Wahrscheinlichkeiten – die falsche Herangehensweise sei. Denn wenn dem so wäre, schrieb er, würden mathematische Regeln die Entscheidungen von Menschen beeinflussen und alle wären sich einig über die richtigen Entscheidungen.

Daniel entwickelte Cramers Idee weiter und regte an, dass "der Wert eines Gegenstands nicht auf dessen Preis beruhen darf, sondern auf dem Nutzen, der sich daraus ziehen lässt". Anstatt die möglichen Gewinne eines Glückspiels mit den Wahrscheinlichkeiten ihres Auftretens zu multiplizieren, behauptete er, müsse der Nutzen jedes möglichen Gewinns mit seiner Wahrscheinlichkeit multipliziert werden. Eine logarithmische Funktion, so Daniel, würde den Nutzen von Vermögen richtig wiedergeben. Der mittlere Nutzenwert, umgerechnet in den entsprechenden Geldwert, entspreche dann dem, was das Glücksspiel dem Spieler wert sei. Nikolaus lehnte diese Erkenntnisse erneut ab.

Riskante Geschäfte

Daniel ließ sich nicht entmutigen und feilte in den nächsten sieben Jahren weiter an seiner Argumentation. 1738 wurde dann sein 18-seitiger Artikel über Risikobewertung in den Denkschriften der Akademie der Wissenschaften von Sankt Petersburg veröffentlicht. Die Lösung des "Sankt-Petersburg-Paradoxons", wie man das Problem auch nennt, gilt noch immer als einer der grundlegendsten wissenschaftlichen Beiträge in den Wirtschaftswissenschaften. 1896 wurde die Publikation ins Deutsche übersetzt, 1954 erschien sie in englischer Sprache in der Zeitschrift Econometrica.

Daniel trug den Nutzenwert gegenüber dem Geldwert auf – das Ergebnis ist heute als Nutzenfunktion bekannt (siehe Grafik "Riskantes Geschäft"). Die Kurve steigt zwar an – schließlich ist mehr Geld immer besser als weniger –, tut dies aber mit zunehmendem Vermögen immer weniger, denn zusätzliches Geld nützt einer reichen Person weniger als einem Bettler. Die abflachende Kurve legt nahe, dass es sich lohnt, auf Geld zu verzichten und dadurch Risiken zu vermeiden.

Riskantes Geschäft | Der konkave Verlauf der Nutzenfunktion (hier der natürliche Logarithmus) hat zur Folge, dass jeder zusätzliche Dukat seinem Besitzer weniger Nutzen bringt als der vorherige.

Die Folgen dieses simplen Graphen sind beachtlich. Die konkave Form der Nutzenfunktion drückt die Risikoaversion der Menschen aus: Wir ziehen es vor, einen kleinen, aber festen Geldbetrag zu erhalten, anstatt ein unsicheres Geschäft einzugehen. Dies wiederum hat zur Folge, dass Hausbesitzer teils viel Geld bezahlen, um ihr Hab und Gut zu versichern, dass Investoren eine höhere Rendite für risikoreichere Anlagen erwarten und dass die Kreditzinsen für einen Arbeitslosen höher ausfallen als für einen Berufstätigen.

Einer der ersten Wissenschaftler, der Daniels Nutzentheorie aufgriff, war der angesehene französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace. 1795 hielt er im Rahmen seiner Vorlesung über Wahrscheinlichkeitstheorie an der École normale supérieure in Paris unter anderen auch einen Vortrag über den 'Erwartungsnutzen'. 1812 veröffentlichte er die Vorlesung in seinem richtungsweisenden Werk Théorie analytique des probabilites (Analytische Theorie der Wahrscheinlichkeiten).

Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt die Nutzentheorie Zuspruch aus einem unerwarteten Lager. Der Arzt Ernst Heinrich Weber und der Psychologe Gustav Theodor Fechner fanden heraus, dass Menschen ihren Körper, etwa ihr Gewicht, nach ähnlichen Mustern beurteilen, wie ihr Vermögen. Je mehr Gewicht man schon mit sich herumträgt, desto stärker muss die Gewichtszunahme sein, um sie zu bemerken.

Ökonomie als mathematische Wissenschaft

Zunächst ignorierten Ökonomen Daniel Bernoullis Theorie jedoch weit gehend. Das änderte sich erst 1944 als der Mathematiker John von Neumann und der Ökonom Oskar Morgenstern die Nutzen- und Entscheidungstheorie auf eine axiomatische Basis stellten – in ihrem Bestreben, die Ökonomie von reinen "Plausibilitätsbetrachtungen" hin zu einer mathematischen Wissenschaft weiterzuentwickeln. Die Nutzenfunktion besitze Beulen und Dellen, schlugen einige Jahre später der Ökonom Milton Friedman und der Statistiker Leonard Savage vor. Anlass dazu gab ihnen die Tatsache, dass viele Glücksspieler gleichzeitig eine Hausratversicherung abschließen. 1952 änderte der Ökonom Harry Markowitz die Nutzenfunktion dann so ab, dass die Menschen ihr gegenwärtiges Vermögen als Ausgangspunkt betrachten und entweder risikoscheu oder risikofreudig sind – je nachdem, ob die potenziellen Verluste oder Gewinne relativ klein, mittel oder groß ausfallen.

Die Nutzentheorie spiegele nicht immer das Verhalten der Menschen wider, bemerkte etwa zur gleichen Zeit der Ökonom Maurice Allais. Konfrontiert mit sehr ungleichen Auswahlmöglichkeiten – beispielsweise der garantierten Zusage für eine Million Dollar gegenüber der unsicheren Aussicht auf entweder Hunderte von Millionen Dollar oder keinen einzigen Cent – fällen Menschen nicht unbedingt eine "rationale" Entscheidung. Widersprüche wie diese führten den Soziologen und Ökonomen Herbert Simon in den 1950er Jahren zu der Aussage, dass Menschen nicht in der Lage seien, alle relevanten Informationen zu erfassen und zu verarbeiten. Infolgedessen versuchen sie nicht, ihren Erwartungsnutzen zu maximieren, sondern setzen sich stattdessen bescheidenere Ziele, die sie auch zufrieden stellen.

1979 entwickelten die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky ihre Prospect Theory, auch Neue Erwartungstheorie genannt, wobei sie zwar auf Daniel Bernoullis Ideen aufbauen, in einigen Punkten jedoch abweichen: Verluste schmerzen mehr als Gewinne einem guttun, und Entscheidungen hängen davon ab, wie die Fragen formuliert sind. Zudem nehmen wir Wahrscheinlichkeiten kleiner wahr, als sie tatsächlich sind, mit Ausnahme von sehr kleinen Wahrscheinlichkeiten, die wir größer wahrnehmen.

Auch drei Jahrhunderte später hat Nikolaus Bernoullis Brief nicht an Aktualität verloren. Zwar lieferte er keine Lösung für das verblüffende Paradoxon und lehnte die Ideen von Cramer und seinem Cousin Daniel ab. Doch mit seiner Aufforderung an den Freund, sich eingehend mit der zu Grunde liegenden Mathematik zu beschäftigen, stieß er eine völlig neue Denkweise über Risiko, Unsicherheit und die Bedeutung von Geld und Vermögen an.

Der Artikel erschien unter dem Titel "Economics: Value judgements" in Nature 500, S. 521-523, 2013.

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