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Physik 2010: Auf in neue Dimensionen

Dieses Jahr gewannen Physiker mit Klebeband und Bleistift den Nobelpreis, brachten mit bloßen Augen sichtbare Dinge in einen Quantenzustand und zündeten beinahe den ersten Mikrostern im Labor.
Lasergetriebene Trägheitsfusion
Das Rennen um das Teilchen Gottes, das Higgs-Teilchen, ist immer noch unentschieden. Dennoch blicken die Teilchenphysiker am CERN auf ein ungewohnt erfolgreiches Jahr zurück: Im März fanden die ersten Kollisionen bei einer Rekordenergie von sieben Teraelektronvolt im weltgrößten Teilchenbeschleuniger LHC statt, in den folgenden Monaten stieg die Kollisionsrate um mehr als das Tausendfache.

Melodien aus Atomen | Forscher und Musiker haben die Datenströme des LHC in Töne übersetzt: Das Resultat kann sich durchaus hören lassen!
Inzwischen konnten die Nachweisgeräte alle bekannten Teilchen des Standardmodells der Teilchenphysik nachweisen. Falls der Beschleuniger weiterhin so große Fortschritte macht, rechnen die Wissenschaftler damit, dass die Experimente spätestens im nächsten Jahr in Bereiche vorstoßen, in denen eine neue Physik möglich wäre.

Neben Protonen ließen die Physiker im LHC auch Bleiatomkerne aufeinanderprallen und stellten so einen neuen Hitzerekord auf: Sie erzeugten subatomare, zehn Milliarden Grad Celsius heiße Mikro-Feuerbälle – fast zwei Millionen Mal heißer als die Oberfläche der Sonne. 

Dies seien die höchsten Temperaturen und größten Dichten, die jemals in einem Experiment erreicht worden sind, hieß es. Mit diesem "Mini-Urknall" tasten sich die Forscher wieder etwas näher an den Urknall heran.

Melodien aus Atomen

Inzwischen ruht der LHC, wird gewartet und soll im Februar wieder mit Protonenkollisionen loslegen. Bis dahin kann man sich die bereits eingeholten Mengen an Messdaten ansehen – oder anhören. Möglich macht das eine von Physikern, Toningenieuren und Künstlern speziell entwickelte Software. Natürlich würde sich auch das sehnsüchtig erwartete Higgs-Boson durch eine charakteristische Melodie verraten, sollte es eines Tages tatsächlich in die Detektoren einschlagen.

Aber auch über längst bekannte Teilchen fanden Physiker diese Jahr erstaunliche Dinge heraus: Protonen fallen vier Prozent kleiner aus als bisher angenommen. Das ergaben die bisher präzisesten Messungen des Kernradius – jener Bereich, in dem sich die meiste Ladung aufhält. Warum die Ergebnisse derart von mit anderen Methoden gewonnenen Werten abweichen, wissen die Forscher bisher allerdings noch nicht. Ob tatsächlich Naturkonstanten geändert oder aber physikalische Theorien umgeschrieben werden müssen, sollen zukünftige Messungen klären.

Mechanischer Oszillator | Das hier mit einem Elektronenmikroskop abgebildete Plättchen ist rund 30 Mikrometer lang. Forscher brachten es in den quantenmechanischen Grundzustand.
Um die Größe geht es auch in einem anderen beeindruckenden Experiment, das Physiker dieses Jahr vorstellten. Die Forscher brachten eine mit bloßem Auge zu erkennenden mechanischen Oszillator in seinen quantenmechanischen Grundzustand – den Zustand niedrigster Energie – und verschränkten ihn anschließend mit einem supraleitenden Quantenbit. Auf diese Weise konnten sie das Plättchen in einen Zustand befördern, in dem es gleichzeitig ruhte und schwang.

Anders als andere Gruppen, die dasselbe Ziel verfolgen, nutzten die Wissenschaftler enorm hochfrequente Schwingungen und nahmen damit gewissermaßen eine Abkürzung. Denn hierbei müssen längst nicht so tiefe Temperaturen erreicht werden, um den Grundzustand zu erreichen. Mit rund 30 Mikrometern ist das Metallplättchen das bisher größte Objekt, das nachweislich den quantenmechanischen Gesetzen gehorcht. Schrödingers Katze lässt grüßen.

Katzenphysik

Apropos. Auch Katzen machten dieses Jahr Schlagzeilen – als Meister der Hydrodynamik. Physiker filmten die Vierbeiner mit Hochgeschwindigkeitskameras und hielten fest, dass diese beim Trinken ein perfektes Gleichgewicht zwischen Trägheit und Schwerkraft ausnutzen, um die aufgenommene Milch- oder Wassermenge zu maximieren. Statt ihre Zunge als Kelch einzusetzen, reißen die Tiere mit ihr und ausgefeilter Technik einen möglichst großen Flüssigkeitszylinder in ihr Maul – und das ohne zu kleckern.

Cutta Cutta trinkt | Mit Hochgeschwindigkeitskameras filmten Forscher, wie Katzen trinken: Die pelzigen Gesellen schaufeln sich das Wasser nicht ins Maul, sondern beißen regelrecht in eine zuvor erzeugte Flüssigkeitssäule.
Auf die richtige Technik kam es auch beim diesjährigen Nobelpreis für Physik an. Graphen – eine Monolage Graphit – ist zwar schon lange bekannt, doch erst 2004 gelang es den frisch gekürten Nobelpreisträgern Andre Geim und Konstantin Novoselov, derzeit beide an der University of Manchester, diese zweidimensionale Form des Kohlenstoffs gezielt herzustellen und zu untersuchen.

Ihre Methode – mit gewöhnlichem Klebeband möglichst dünne Lagen von einem größeren Stück Graphit abzuziehen – war zwar nicht neu. Allerdings besteht ein einziger Millimeter des Minerals aus rund drei Millionen aufeinandergestapelten, leicht gegeneinander versetzten Graphenebenen. Geim und Novoselov perfektionierten, wohl nicht zuletzt mit viel Geduld, die Tesafilm-Technik und konnten tatsächlich einzelne, mikrometergroße Graphenflocken isolieren.

Die Wunderfolie

Mit diesen Proben stellten sie die bemerkenswerten elektronischen Eigenschaften von Graphen, die bisher nur in der Theorie existierten, unter Beweis. Durch die Publikation ihrer Ergebnisse weckten sie das Interesse zahlreicher Forschergruppen und trieben so die Entwicklung auf diesem Gebiet voran. Immer mehr Besonderheiten der "Wunderfolie" wurden zu Tage gefördert. Sie leitet elektrischen Strom und Wärme nicht nur auffallend gut, sie ist auch das dünnste und dafür härteste bislang bekannte Material und enorm dehn- und biegbar – um nur einige Beispiele zu nennen.

Andre Geim und Konstantin Novoselov
Wissenschaftler erhoffen sich deshalb eine Menge innovativer Anwendungen. Etwa Transistoren, die kleiner und schneller sind als heutige Modelle aus Silizium. Auch könnte Graphen zu enorm empfindlichen Sensoren führen, die sogar einzelne Moleküle ausmachen. Da Graphen durchsichtig ist und gleichzeitig den elektrischen Strom leitet, würde es sich auch für Solarzellen oder transparente Touchscreens eignen. Im Juni haben Wissenschaftler Letztere in der Rohversion bereits vorgestellt..

Ein anderer Physik-Nobelpreis, der im Jahr 2001, würdigte drei Wissenschaftler, weil sie Atome einige Jahre zuvor in einen bis dahin nur theoretisch existenten Zustand versetzt hatten: ein Bose-Einstein-Kondensat. Hierin befinden sich alle Teilchen in demselben quantenmechanischen Zustand. Infolgedessen benehmen sie sich wie ein einziges Objekt und lassen sich durch eine einzige quantenmechanische Wellenfunktion beschreiben. Dadurch ergeben sich interessante Eigenschaften und damit Anwendungsmöglichkeiten – beispielsweise ein Atomlaser.

Tropfen aus Licht

Im November brachten Forscher nun erstmals auch eine Wolke aus Photonen dazu, sich wie ein einziges Lichtquant zu verhalten. Bisher war dieses Vorhaben daran gescheitert, das die Anzahl der Lichtteilchen im Normalfall eng an die Temperatur gekoppelt ist. Ein Bose-Einstein-Kondensat lässt sich aber nur bei extremer Kälte erzeugen – knapp über dem absoluten Nullpunkt – und auf dem Weg dahin gehen beständig Photonen verloren. Dieser Prozess verhindert schließlich das Kondensieren.

Lasergetriebene Trägheitsfusion | An der National Ignition Facility des Livermore Labors in Kalifornien werden 192 Laserstrahlen in einen kleinen hohlen Goldzylinder gerichtet. Darin befindet sich ein kugelförmiges Pellet mit dem Treibstoff für die Kernfusion, das von der Strahlung auf eine Dichte und Temperatur komprimiert wird, wie sie im Zentrum von Sternen herrschen. Dann setzt spontan Kernfusion ein.
Nun gelang es mit einem Trick, die beiden Parameter zu entkoppeln. Dadurch kühlt sich das System ab, die Zahl der Photonen bleibt jedoch gleich und es entsteht ein "Tropfen aus Licht". Da der Zustand hochgradig monochromatisches, also einfarbiges Licht – ganz ähnlich wie bei einem Laser – erzeugt, spekulieren die Wissenschaftler eines Tages mit diesem Verfahren Laser herzustellen, die kohärentes Licht geringer Wellenlänge aussenden, etwa im Ultraviolett- oder Röntgenbereich.

Mit UV-Licht aus gleich 192 Lasern – allerdings gewöhnlicher Bauart – feuerten Forscher dieses Jahr auf einen weniger als einen Zentimeter großen, hohlen Goldzylinder, in dessen Zentrum sich eine wenige Millimeter große Kapsel gefüllt mit Deuterium und Tritium befand. Das erklärte Ziel: Es den Sternen gleich tun und Energie durch die Fusion von Wasserstoff erzeugen – ohne Emission von Treibhausgasen, Ausbeutung begrenzter Rohstoffe und stark radioaktiven Abfall.

Ein Stern im Labor

Mit ersten Testschüssen demonstrierten sie, dass das Prinzip im Prinzip funktioniert. Bei voller Laserleistung soll das Plasma dann mehr als 100 Milliarden Atmosphären Druck und eine Temperatur von mehr als 100 Millionen Grad erreichen – genug um eine Fusion zu zünden und mehr Energie zu gewinnen als die Laserstrahlen anliefern. In zwei Jahren, so heißt es jetzt, könnte dieser Schritt gelingen.

Alles nur Einbildung? | Elektromagnetische Felder, wie sie bei Blitzeinschlägen auftreten, könnten noch in 100 Meter Entfernung das Hirn stimulieren – und Wahrnehmungen auslösen, die an Kugelblitze erinnern. Eine Erklärung für das rätselhafte Phänomen.
Aber selbst wenn der "Mikrostern" aufleuchtet, ist das nur für kurze Dauer. Um damit kontinuierlich Energie zu gewinnen, müsste der gesamte Vorgang bis zu zehn Mal pro Sekunde wiederholt werden. Das scheitert momentan allein daran, dass die Laser nach jedem Schuss zwei Stunden abkühlen müssen – von den enormen Kosten mal ganz abgesehen.

Über mangelnde Arbeit können sich Physiker also nicht beklagen. Auch wenn man ihnen dieses Jahr ein großes Rätsel vielleicht sogar abnahm – zumindest teilweise. Denn welcher Mechanismus hinter den so genannten "Kugelblitzen" steckt, wissen Forscher bis heute nicht. Einige Wissenschaftler schlugen im Mai vor, dass viele der mysteriösen Lichterscheinungen in Wahrheit auf das Konto von Sinnestäuschungen gehen, ausgelöst durch elektromagnetische Kräfte, die Hirnzellen im Sehsystem zum Feuern bringen.

Denn die Magnetfelder bestimmter lang anhaltender Blitze mit sich wiederholenden Entladungen würden überraschend stark elektromagnetischen Feldern ähneln, die in der transkraniellen Magnetstimulation zum Einsatz kommen. Bei diesem medizinischen Verfahren manipulieren Hirnforscher gezielt die Aktivität einzelner Hirnregionen. Bei vielen Probanden löst das visuelle Halluzinationen in verschiedenen Formen und Farben aus.

Ein Drittel bis der Hälfte der Sichtungen von Kugelblitzen ließen sich vielleicht so erklären, glauben die Wissenschaftler. Ihren Berechnungen zufolge, könnten selbst Blitze, die in über 100 Metern Entfernung einschlagen, noch einen Puls erzeugen, der die vermuteten Effekte auslösen würde. Augenzeugen können sich übrigens gerne melden. Und vielleicht dazu beitragen, den Physikern das Leben ein bisschen leichter zu machen.

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