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Porträt: Der Seelenvermesser

Mit Erfindungsreichtum und handwerklichem Geschick entwickelte der italienische Physiologe Angelo Mosso vor 130 Jahren einen Apparat, um den Blutfluss beim Denken zu messen. Auf diesem Grundprinzip beruhen bildgebende Verfahren bis heute.
Mann der Tat

Das Gerät ächzt. Ab und zu knarren die Holzbalken. Kein Wunder, schließlich liegt ein erwachsener Mann darauf. Die "Maschine zum Wiegen der Seele" sieht tatsächlich aus wie eine Waage. Erbaut hat sie Angelo Mosso, ein Pionier der modernen Neurowissenschaft, im Jahr 1884.

Ungeachtet der hochtrabenden Bezeichnung für sein Forschungsinstrument war der italieni­sche Wissenschaftler ein bodenständiger, praktisch veranlagter Mensch. Zu Recht war er davon überzeugt, die Blutzufuhr zum Kopf sei eng mit der Hirnfunktion verbunden. Die Balkenwaage sollte ihm dabei helfen, den Zusammenhang zwischen Hirndurchblutung und kognitiver Leis­tung zu beweisen.

Die Probanden in Mossos Labor in Turin legten sich vorsichtig auf das Gerät und verharrten einige Minuten lang still und reglos, bis die Waage im Gleichgewicht schwebte. Sobald der Forscher ihnen eine Rechenaufgabe stellte, glitt die Kopfseite nach unten: Um das Gehirn während des kognitiven Aufwands mit genug Sauerstoff und Energie zu versorgen, pumpte der Körper zusätzliches Blut in das Denkorgan. Diese winzige Flüssigkeitsmenge schien zu ge­nügen, um die hochsensible Waage aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Alle modernen Experimente mittels bildgebender Verfahren basieren auf Mossos Idee, mentale Ereignisse wie Denken oder Wahrnehmen mit der Blutversorgung des Gehirns zu verknüpfen. So messen Neurowissenschaftler heutzutage etwa mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie regionale Unterschiede in der Hirndurchblutung und setzen sie in Beziehung zu geistiger Aktivität.

Ein Jahrhundert vor der Erfindung der mo­dernen Bildgebung ließen Mossos grafische ­Aufzeichnungen der Hirntätigkeit die damaligen Zeitgenossen jubeln: Bald könne die Psyche anhand von physiologischen Untersuchungen entschlüsselt werden. 1908 war der Italiener gar für den Medizinnobelpreis nominiert.

Mosso stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Als Sohn einer Schneiderin und eines Schreiners am 30. Mai 1846 in dem Städtchen Chieri bei Turin geboren, half er von klein auf in der Tischlerei seines Vaters mit – zu seinem großen Vorteil, wie sich später herausstellen sollte: Dank des Handwerks, das sich Angelo beim Vater abgeschaut hatte, konnte er Jahre später zahlreiche Untersuchungsgeräte eigenhändig herstellen ...

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  • Quellen

Field, D. T., Inman, L. A.: Weighing Brain Activity with the Balance: A Contemporary Replication of Angelo Mosso's Historical Experiment. In: Brain 137, S. 634-639, 2014

James, W.: The Principles of Psychology. Henry Holt, New York 1890

Mosso, A.: Applicazione della bilancia allo studio della circolazione sanguigna dell'uomo. In: Atti della Reale Accademia dei Lincei - Memorie della Classe di Scienze Fisiche, Matematiche e Naturali XIX, S. 531-543, 1884

Sandrone, S., Bacigaluppi, M.: Learning from Default Mode Network: The Predictive Value of Resting State in Traumatic Brain Injury. In: Journal of Neuroscience 32, S. 1915-1917, 2012

Sandrone, S. et al.: Angelo Mosso (1846-1910). In: Journal of Neurology 259, S. 2513-2514, 2012

Sandrone, S. et al.: Weighing Brain Activity with the Balance: Angelo Mosso's Original Manuscripts Come to Light. In: Brain 137, S. 621-633, 2014

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