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Räumliche Geometrie: Die seltsamen Kristallklötzchen des Arthur Schoenflies

Flacher und spitzer Schoenflies (154 kB)

Raumfüller und Kristalle

In der letzten Folge hatte ich Ihnen das Rhombendodekaeder einerseits und den Oktaederstumpf andererseits vorgestellt. Beide sind Raumfüller, das heißt, mit vielen Exemplaren eines solchen Körpers lässt sich der Raum lückenlos voll stapeln. Beide lassen sich als Voronoi-Zellen ("Vorgärten") eines Kristallgitters interpretieren. Man stapele den Raum mit gewöhnlichen Würfeln voll, nehme die Mittel- und Eckpunkte aller Würfel (für den Oktaederstumpf) oder auch nur die Mittelpunkte aller weißen Würfel in einer Schwarzweiß-Schachbrett-Würfelpackung (für das Rhombendodekaeder) und lasse die so ausgewählten Gitterpunkte sich um den Platz prügeln. Das läuft darauf hinaus, dass jeder Gitterpunkt alles um sich herum für sich kriegt, was ihm näher liegt als jedem anderen Gitterpunkt. Das ist der Vorgarten dieses Punktes.

Nachdem die beiden Kristallgitter eng miteinander verwandt sind, sollten ja auch die beiden Vorgartenkörper etwas miteinander zu tun haben. Das ist in der Tat der Fall. Wahrscheinlich gibt unter den Kristallographen Fachleute, die das auch wissen; aber sie sagen es nicht so laut. Jedenfalls weiß ich es nicht aus einem Lehrbuch, sondern bin darauf gestoßen, als ich bei einer Führung im Mathematischen Institut der Universität Göttingen ein paar merkwürdige Gipsklötzchen zu sehen bekam.

Die Klötzchen stehen dort in einer Vitrine und gehen auf Arthur Schoenflies (1853 – 1928) zurück. Schoenflies ist als "Vater der Kristallographie" berühmt geworden. Eine heute noch viel verwendete Einteilung der Kristalle in Klassen geht auf ihn zurück.

Professor Samuel Patterson, der die Führung durchführte, erzählte mir, die Klötzchen seien, wahrscheinlich auf Geheiß von Schoenflies, von einer Firma namens Schilling hergestellt worden und auch in deren "Catalog mathematischer Modelle" (Halle 1902) aufgeführt gewesen. Was Schoenflies selbst damit im Sinn hatte, müsste seinen Werken zu entnehmen sein. Nur sind die leider sehr umfangreich. Herr Patterson hat keinen Hinweis gefunden, ich auch nicht. Natürlich habe ich die Texte nicht Wort für Wort studiert ... Wer möchte, findet in den dreiteiligen "Abhandlungen über Translationsgruppen" (Mathematische Annalen Band 28, 29 und 34) sowie den Büchern "Krystallsysteme und Krystallstructur" (Leipzig 1891) sowie "Theorie der Kristallstruktur" (1923) reichlich Beschäftigung. Aber auch so bin ich für jeden Hinweis dankbar.

Der flache und der spitze Schoenflies

Flacher und spitzer Schoenflies | Versuchen Sie, Teile der Oberflächen unserer bekannten Raumfüller zu entdecken! Die roten Flächen der hier rotierenden Körper gehören zum Oktaederstumpf, die blauen zum Rhombendodekaeder.

Hier sind die Helden der Geschichte. Die Oberflächen habe ich rot und blau eingefärbt, damit es hinterher schöner aussieht. Ich nenne sie den flachen und den spitzen Schoenflies und hoffe, dass der große Meister mir die respektlose Bezeichnung nicht übel nehmen würde.

Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass bei beiden Klötzen der rote Teil der Oberfläche ein Stück vom Oktaederstumpf ist. Beim flachen Schönflies ist es ein Sechseck mit drei halben Quadraten und drei drittel Sechsecken dran, beim spitzen Schoenflies ein Quadrat mit vier drittel Sechsecken. Dagegen gehören die blauen Teile der Oberfläche zu einem Rhombendodekaeder. Beim flachen Schoenflies ist es die Umgebung einer stumpfen Ecke und beim spitzen die Umgebung einer spitzen Ecke.

Oktaederstumpf aus vier flachen Schoenfliesen | Aus einem Oktaederstumpf werden unter Brechung der Oktaedersymmetrie vier flache Schoenfliese.

Mehr noch: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die beiden Raumfüller Oktaederstumpf und Rhombendodekaeder aus den Klötzen zusammenzusetzen. Man füge vier flache Schoenfliese mit den blauen Seiten aneinander, und es entsteht ein Oktaederstumpf!

Andersherum betrachtet: Wenn man einen Oktaederstumpf durch ebene Schnitte, die bis zum Mittelpunkt reichen, so raffiniert zersägt, dass die Quadrate entlang einer Mittelinie geteilt werden, dann erhält man vier flache Schoenfliese. Aber dieser Zerteilungsakt hat die Symmetrie des Oktaederstumpfs gebrochen. Man hätte die Quadrate ja auch alle entlang der jeweils anderen Mittellinie halbieren können, und dann hätte die Säge von den sechs Seiten des Sechsecks die drei anderen Seiten zerlegt und die zuvor zersägten heil gelassen.

Eigentlich hat der Oktaederstumpf die Symmetrie des Würfels (oder des Oktaeders, was dasselbe ist), das heißt, alle die Drehungen und Spiegelungen, die den Würfel in sich selbst überführen, lassen auch den Oktaederstumpf unverändert. Nach der Zersägung ist davon nur noch die Symmetrie des Tetraeders übrig geblieben.

Oktaederstumpf aus sechs spitzen Schoenfliesen | Sechs spitze Schoenfliese, mit ihren rhombendodekaeder-artigen (blauen) Flächen aneinandergesetzt, ergeben ebenfalls einen Oktaederstumpf.

Wenn man sechs spitze Schoenfliese mit den blauen Seiten aneinander setzt, entsteht ebenfalls ein Oktaederstumpf; diesmal ohne Symmetriebrechung.

Nichts hindert einen, mit den so zusammengesetzten Oktaederstümpfen den Raum irgendwie voll zu stopfen. Aber das ist uncool. Es soll ja schon irgendwie regelmäßig sein.

Eine Möglichkeit, es regelmäßig zu tun, geht so: Man nehme einen Oktaederstumpf (es kommt nicht darauf an, wie er zusammengesetzt ist), setze auf seine sechseckigen Flächen flache Schönfliese und auf seine quadratischen Flächen spitze Schoenfliese. Siehe da, es entsteht ein ziemlich großes Rhombendodekaeder!

Rhombendodekaeder aus Schoenfliesen | Ein Oktaederstumpf als Kern zusammen mit einer Schale aus spitzen und flachen Schoenfliesen wird zu einem Rhombendodekaeder.

Und da dieses ein Raumfüller ist, darf man diese Struktur beliebig oft wiederholen. An den spitzen Ecken der Rhombendodekaeder-Raumfüllung entstehen Oktaederstümpfe aus sechs spitzen Schoenfliesen, an den stumpfen Ecken entstehen Oktaederstümpfe aus vier flachen Schoenfliesen, mit anderen Worten: Die Raumfüllung durch Oktaederstümpfe wird durch diese Konstruktion in einem Aufwasch mit erzeugt.

Nur in dem Oktaederstumpf, mit dem wir angefangen haben und der jetzt in der Mitte des Rhombendodekaeders sitzt, steckt noch jede Menge Willkür. Drei Anordnungen kommen in Frage: sechs spitze Schoenfliese, vier flache sorum und vier flache andersrum. Ob sich durch geschickte Wahl dieser Anordnungen noch mehr interessante Strukturen herstellen lassen? Ob Schoenflies sich etwas Spezielles dabei gedacht hat? Ob Paare von Klötzen, geeignet zusammengefügt, als Raumfüller oder ähnliches dienen können? In der Vitrine in Göttingen stehen einige solcher Paare.

Vielleicht machen Sie noch bedeutende Entdeckungen, wenn Sie sich ein ausreichendes Sortiment von Schoenfliesen zusammenbasteln und damit spielen. Eine Bastelanleitung samt vorbereiteten Bastelbögen finden Sie weiter unten.

Kommentare und Anregungen sind wie immer stets willkommen!


Herzlich Ihr

Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft

Bastelanleitung für spitze und flache Schoenfliese

Kopieren Sie die drei Vorlagen A, B und C (Bastelbogen A, Bastelbogen B und Bastelbogen C – jeweils PDF, 119 Kilobyte) so oft wie angegeben auf Karton der angegebenen Farbe (viermal A rot, dreimal B blau, einmal C rot). Nehmen Sie den stärksten Karton, der noch gutwillig durch den Kopierer geht; das läuft in der Regel auf 160 bis 170 Gramm Papiergewicht hinaus. Natürlich müssen Sie sich nicht unbedingt an die Farben halten.Ritzen Sie an einem Lineal entlang mit einem scharfen Messer die inneren Linien jedes Bauteils, schneiden Sie dann alle Bauteile aus, schneiden Sie zusätzlich die Linien ein, die mit einem Scherensymbol gekennzeichnet sind, und knicken Sie sie entlang der vorgeritzten Linien. Kleben Sie dann jedes rote Bauteil mit sich selbst zu einer kleinen "Wanne" zusammen, indem Sie die kleinen Dreiecke unter die jeweils benachbarte freie Kante kleben. Entsprechend machen Sie aus den blauen Bauteilen drei- beziehungsweise vierflächige Hütchen. Dann sehen Sie schon, wie jeder blaue "Deckel" auf den richtigen roten "Boden" passt. Sie müssen immer einen Randstreifen des einen Teils unter eine freie Kante des anderen Teils kleben. Am besten kleben Sie erst einen Randstreifen an, lassen diese Klebung trocknen, beschmieren dann alle übrigen Randstreifen mit Klebstoff und drücken das gesamte Teil in die richtige Form.Aus diesem Material ergeben sich zwölf flache und sechs spitze Schönfliese. Daraus lässt sich genau eines der beschriebenen Rhombendodekaeder zusammensetzen. Das reicht für ein erstes Herumprobieren und stellt nur mäßige Anforderungen an die Geduld des Verfertigers. Mehr Bauklötzchen machen allerdings auch wesentlich mehr Spaß. Ich empfehle: Tun Sie sich zu mehreren zusammen und bauen Sie die doppelte, dreifache, n-fache Menge, je nach Personenzahl und Durchhaltevermögen. Wenn Sie eine Gruppe von Klötzchen vorübergehend zusammenhalten wollen: Kleben Sie die beliebten ablösbaren Klebezettel ("PostIt") auf benachbarte, in einer Ebene liegende Außenflächen.

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