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Räumliche Geometrie: Wackelpolyeder und ein Lampenschirm

Der nachgebaute Lampenschirm

Die Entdeckung

Manchmal ist die Deutsche Bahn ja wirklich menschenverbindend. Als wir es uns kurz hinter Mannheim im Zug bequem machen, fällt mein Blick auf ein merkwürdiges, von ebenen Flächen begrenztes Gebilde, das ein mitreisendes Ehepaar gerade auf der Gepäckablage verstaut. Meine dreist-neugierige Frage "Was ist das denn?" findet geneigte Ohren, und ich darf das Objekt genauer in Augenschein nehmen. Es handelt sich um einen Lampenschirm aus dem üblichen Papier: gelblich, ziemlich steif, mit schmutzabweisender Beschichtung und durchscheinend – was man so Lampenschirmpapier nennt. Überraschender als das Material ist die Konstruktion: Das Ding hat nicht nur kein metallenes Innengestell, wie das sonst üblich ist, sondern ist aus einem einzigen großen Bogen Lampenschirmpapier gefertigt, der nirgendwo geschnitten wurde. Obendrein scheint das gute Stück aus lauter ebenen Flächen zu bestehen, mit einer Symmetrie, die sich erst auf den zweiten Blick erschließt.

In den sechziger Jahren war dieser Lampenschirm wohl mal richtig modern. Irgendwann wurden die Besitzer seiner überdrüssig und verbannten ihn auf den Speicher, wo ihn vor kurzem der studierende Sohn entdeckte und voll cool fand. Während mir die Leute das erzählen, fragt mich ein weiterer Mitreisender, dem meine Neugier nicht verborgen bleibt: "Haben Sie eine E-Mail-Adresse?" Auf die Antwort "Ja" zückt er seine Digitalkamera, und als ich von der Reise zurück bin, habe ich schon ein paar Schnappschüsse elektronisch zugeschickt bekommen. Herzlichen Dank an Frank Rennemann, wenn auch arg spät (die Geschichte ist schon zwei Jahre her).

Lampenschirm – das Original | Ein Lampenschirm, bei Mitreisenden im Zug entdeckt

Mit Bordmitteln – ein Blatt Papier, das ich an die Kanten anlege, und einem Stift, mit dem ich die Kantenlängen auf das Papier übertrage und die Konstruktion skizziere – mache ich mich an die Analyse. Das erste Ergebnis: Man kann sich vorstellen, dass das Objekt aus einem rechteckigen Stück Lampenschirmpapier gefertigt ist, dessen kurze Seiten miteinander fest verbunden sind, sodass eine zylindrische Röhre entsteht. Aber insgesamt ist der Lampenschirm nicht zylinder-, sondern eher kugelförmig. Zu diesem Zweck sind oberer und unterer Rand abwechselnd ein- und auswärts gefaltet, wie Plisseeröckchen, und dann mit jeweils einem Faden zugebunden, sodass das obere und das untere Loch der Zylinderröhre sich schließen. An die soeben beschriebenen Falten schließen sich weitere an, sodass der ganze Lampenschirm in lauter ebene Flächen zerfällt – ein Polyeder eben. Das erregt mein geometrisches Interesse: Immerhin scheint es da ein Polyeder zu geben, das man aus einem einzigen Stück Papier falten kann und von dem die meisten Ecken nicht am Rande des Papierstücks liegen.

Die letzte Bedingung ist die überraschende; denn ein einzelnes Stück Papier so herzurichten, dass es sich zu einem kompletten Polyeder falten lässt, ist keine Kunst. Man denke sich einfach das fertige Polyeder aus Papier und schneide es entlang gewisser Kanten auf, bis das Papier flach auf dem Tisch liegt, aber noch nicht in mehrere Teile zerfällt. Das nennt man eine Abwicklung; sie gelingt auf jeden Fall, wenn das Polyeder konvex ist, also keine einspringenden Ecken oder gar durchgehende Löcher hat. Nur addieren sich gerade bei konvexen Polyedern die (in den Flächen gemessenen) Winkel, die einer Ecke anliegen, zu weniger als 360 Grad: Beim Würfel sind es 3x90=270 Grad für die drei Quadrate, die jeder Ecke anliegen, beim Dodekaeder 3x108=324 Grad für die drei Fünfecke, und so weiter. Wenn also die Flächen, die einer Ecke anliegen, in der Abwicklung überhaupt noch beisammen sind, dann muss an dieser Ecke eine Lücke gähnen, so weit, wie der Winkelsumme noch an 360 Grad fehlen. Insbesondere muss diese Ecke am Rande des Papierstücks liegen.

Anders ausgedrückt: Wenn in der Abwicklung eines Polyeders eine der Polyederecken nicht am Rand des Papiers liegt, sondern irgendwo mittendrin, muss die Winkelsumme in dieser Ecke 360 Grad betragen. (Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn sich in der Ecke sechs gleichseitige Dreiecke treffen.) Dann können aber die Kanten, die von dieser Ecke ausgehen, nicht alle nach außen und nicht alle nach innen zeigen; vielmehr muss es aus- und einspringende Kanten geben. Wer aus der Abwicklung das fertige Polyeder zusammenbauen will, muss also das Papier teilweise so falten, dass die Kante zum Betrachter weist, teilweise so, dass sie vom Betrachter weg weist ("Bergfalz" und "Talfalz" nennen das die Bastler).

Eine einspringende Kante bleibt ihr Leben lang einspringend, auch wenn sie an der anderen Ecke ankommt. Daraus ergeben sich ziemlich viele Bedingungen, die nicht so leicht zu erfüllen sind. Ich kenne nur zwei Beispiele. Sie bestehen aus gleichseitigen Dreiecken und haben Abwicklungen mit einer ganzen Menge innerer Eckpunkte. Es handelt sich um den Dreiecks-Achtzigflächner und die Oktaederkuppel; beide habe ich in Folge 6 ("Dreieckskörper") dieser Serie beschrieben.

Die Analyse

Bei dem Lampenschirm treffen sich in der Tat in jeder inneren Ecke der Abwicklung einspringende und ausspringende Kanten, und zwar interessanterweise stets drei von der einen und eine von der anderen Sorte. Die Flächen sind nämlich viereckig, Trapeze, um genau zu sein, und treffen sich zu viert in jeder inneren Ecke. Das kenne ich noch nicht. Gibt es da etwa ein systematisches Verfahren zu finden? Polyeder mit viereckigen Seitenflächen und ganz vielen Ecken mit Winkelsumme 360 Grad? Vielleicht sogar neuartige Lampenschirme?

Mit richtig erwachter Neugier schaue ich mir das Objekt an und entdecke, dass es, sehr grob gesprochen, wie eine (geschälte) Apfelsine mit 16 Apfelsinenschnitzen aufgebaut ist. Es gehen nämlich vom Nordpol bis zum Südpol der Kugel 16 durchgehende Knicklinien ("Längengrade"). Allerdings besteht jeder Längengrad aus mehreren Kanten, die abwechselnd ein- und ausspringend sind. Mit "Nordpol" und "Südpol" meine ich die Punkte, an denen sich die oben beschriebenen Plisseefalten treffen. Das erste und das letzte Stück jedes Längengrads sind solche Plisseefalten. Es gibt zwei Sorten Längengrade, die sich abwechseln; die einen beginnen und enden mit ausspringenden Kanten, die anderen mit einspringenden. Einen Apfelsinenschnitz nenne ich das Stück zwischen zwei benachbarten Längengraden. Jeder Schnitz ist das Spiegelbild seines unmittelbaren Nachbarn; Spiegelebene ist jeweils die Ebene des Längengrades, der die beiden Nachbarn trennt. Jeder Schnitz besteht aus mehreren Trapezen. Obendrein ist das Ganze symmetrisch bezüglich der Äquatorebene.

Im abgewickelten Zustand, sprich auf dem noch ungefalteten Lampenschirmpapier, entspricht offensichtlich ein Schnitz einem schmalen rechteckigen Streifen Papier. Sechzehn solcher Streifen, immer abwechselnd Bild und Spiegelbild aneinandergelegt, ergeben die Abwicklung des ganzen Schirms. Innerhalb jedes Streifens verlaufen weitere, schräge Knicklinien, durch die der Streifen in Trapeze zerfällt. Alles, was man für die Konstruktion wissen muss, sind Anfangs- und Endpunkte dieser Knicklinien, die obendrein auf dem linken bzw. rechten Rand des Streifens liegen müssen.

Das macht, na ja, vier bis acht Unbekannte, je nachdem, wie kompliziert das ganze Ding gebaut ist, und eine ganze Menge Gleichungen. Wie viele, ist noch nicht ganz klar, denn einige der Bedingungen werden bereits automatisch durch die Konstruktion aus Streifen und die Spiegelsymmetrie erfüllt. Wenn es mehr Gleichungen als Unbekannte sind, gibt es vielleicht nur ausnahmsweise eine Lösung. Aber eine muss es geben – ich habe ja den Lampenschirm gesehen. Und so schwer kann die gar nicht zu finden sein; die Geometrie ist ja einigermaßen übersichtlich.

Ich mache mich frohgemut ans Werk – und scheitere. Und nach einigem Nachdenken wird mir klar: Das ist nicht einer der beliebten kleinen Rechenfehler, sondern das kann überhaupt nicht funktionieren. Wieso?

Das erste Trapez, das am Äquator liegt, macht noch keinen Ärger. Ich lege einfach zwischen zwei benachbarte Symmetrieebenen, die einen Schnitz begrenzen, eine weitere, ebenfalls vertikal stehende Ebene. Die muss nicht tangential zum Äquator stehen, sondern darf durchaus "schräg" sein. Die beiden Symmetrieebenen schneiden aus dieser Ebene einen Streifen heraus (mit parallelen Seiten, versteht sich); den schneide ich oben und unten irgendwie schräg ab (aber symmetrisch bezüglich der Äquatorebene) und habe mein erstes Trapez.

Aber das nächste! Das soll nämlich nicht vertikal stehen (sonst hätte es gar keinen Knick gegenüber seinem Nachbarn). Aber es muss zwei parallele Seiten haben, denn es stammt ja aus dem Streifen, und diese parallelen Seiten müssen auf zwei benachbarten Symmetrieebenen liegen. Das aber kann nicht sein. Die einzige Möglichkeit, dass zwei parallele Strecken auf zwei nicht-parallelen Ebenen liegen, ist, dass sie parallel zur Schnittgeraden der beiden Ebenen liegen. Das ist in unserem Fall eine Vertikale. Also stünden alle Trapeze vertikal, die Streifen hätten sämtlich keine inneren Knicke, und bei dem ganzen Spiel käme nichts weiter heraus als ein verknitterter Zylinder, bei dem alle Knitterlinien parallel zur Zylinderachse verlaufen.

Wie jetzt? Habe ich soeben bewiesen, dass es diesen Lampenschirm nicht gibt? Irgendwie schon. Aber ich habe ihn doch gesehen. Noch schlimmer: Ich habe meine groben Messungen aus dem Zug genommen, daraus eine Abwicklung konstruiert und den Lampenschirm nachgebaut. Es funktioniert! Also was ist: Ist die Realität falsch oder die Theorie?

Die Konstruktion

Der nachgebaute Lampenschirm | Gegenüber dem Original etwas verkleinert, was sich als weniger gute Idee herausstellte.

Die beruhigende Antwort ist: Weder noch. Ein Blick in die Literatur zeigt, dass mein Problem nicht neu ist. Es gibt Gebilde, die sehen aus wie Polyeder, sind es aber streng genommen nicht. Das geläufigste Beispiel ist der Blasebalg, wie man ihn vom Akkordeon oder von der Fußpumpe für die Luftmatratze kennt.

Man ist es gewohnt, dass Polyeder starr sind: Stellen Sie sich die Flächen eines Polyeders als steife Platten vor, dann dürfen die Kanten durchaus als Scharniere ausgeführt sein, wie in dem Plastikspielzeug, das ich in Folge 6 beschrieben habe. Das fertige Polyeder ist trotzdem nicht in sich beweglich – in der Regel!

Die Abwicklung des Lampenschirms | Durchgezogene Linien sind Bergfalze, langgezogene sind Talfalze. Für einen Lampenschirm der richtigen Größe ist diese Vorlage fünf- bis sechsfach zu vergrößern. Nehmen Sie lieber die Teilvorlage (siehe nächstes Bild) und verwenden Sie diese mehrfach. Eine hochauflösende Skizze als PDF laden Sie sich bitte unter Weitere Links im Netz herunter.

Es gibt echte Ausnahmen. Deren schönste ist das bewegliche Polyeder von Klaus Steffen. Man kann beweisen, dass es selbst in einer idealen Welt, wo Papier sich nicht biegt und Scharniere kein bisschen Spiel haben, seine Gestalt verändern kann. Und dann gibt es jede Menge falsche Ausnahmen: Polyeder, die nur dadurch beweglich sind, dass sich die Flächen unmerklich deformieren oder an den Kanten nicht ganz genau aufeinander treffen. Jeder Blasebalg ist eine solche falsche Ausnahme. Walter Wunderlich, ein inzwischen verstorbener Professor an der TU Wien, hat dieses Phänomen mit seinem "Vierhorn" in die einfachste und klarste Form gebracht (siehe den zitierten Artikel von A. K. Dewdney).

Schablone für den Nachbau des Lampenschirms | Drucken Sie diese Zeichnung zweimal aus und kleben Sie die beiden Blätter so aufeinander, dass Punkt A auf A' zu liegen kommt und B auf B'. Achten Sie darauf, dass dabei durchgehende gerade Linien entstehen. Besorgen Sie sich ein Blatt Lampenschirmpapier der Größe 60x140 cm (gibt's mit 60 cm Breite von der Rolle) und übertragen Sie darauf mit der Stecknadel die Eckpunkte der Schablone, und zwar achtmal nebeneinander. Ritzen Sie (sehr vorsichtig!) mit einem scharfen Messer die Linien entsprechend der Vorlage im vorigen Bild, und falten Sie sie (Berg- und Talfalze entsprechend der Vorlage). Befestigen Sie mit Klebstoff oder Heftnadeln die äußerste rechte Kante der gesamten Abwicklung an der äußersten linken, sodass die beschriebene Zylinderröhre entsteht. Pieken Sie ein Loch in jedes der obersten Trapeze, ziehen Sie einen Faden durch alle Löcher und ziehen Sie den Faden zusammen, sodass nur noch die Zuleitungsschnur für die Glühbirne durch das Loch passt. Desgleichen am unteren Ende; aber da ist es besser, den Faden etwas weniger strammzuziehen, damit genügend Licht aus dem Loch fällt.

Eine hochauflösende Skizze als PDF laden Sie sich bitte unter Weitere Links im Netz herunter.

Zu diesen falschen Ausnahmen zählt offensichtlich auch unser Lampenschirm. Er ist insbesondere in sich beweglich: Wenn man das Papier richtig geknickt hat (was leider nicht ganz einfach ist), kann man ihn durch mehr oder weniger starkes Zuziehen des Fadens an den Polen mehr oder weniger kugelähnlich machen. Eine mögliche Daseinsform für all diese Trapeze ist schließlich der mehr oder weniger verknitterte Zylinder. Wenn es von dieser Form keinen gangbaren Weg zur Endform gäbe, wäre der Lampenschirm überhaupt nicht konstruierbar.

Damit ist auch klar: Die Maße der Trapeze, die ich eigentlich mit viel Aufwand an Algebra ausrechnen wollte: Die müssen nur ungefähr stimmen. Es schadet nicht besonders, dass meine groben Messungen im Zug ein paar Millimeter daneben lagen. Erst bei großen Abweichungen würde unangenehm auffallen, dass die Flächen sich krumm legen oder diese oder jene Kante zum Zerreißen gespannt ist.

Na schön. Aus dem geometrischen Kabinettstückchen, das ich Ihnen eigentlich vorführen wollte, ist nichts geworden. Aber immerhin gibt es eine Bauanleitung für einen etwas ungewöhnlichen Lampenschirm.

Kommentare und Anregungen sind wie immer stets willkommen!

Herzlich Ihr

Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft

Literaturhinweise:
A. K. Dewdney: Starre und wacklige Stabwerke. Mathematische Unterhaltungen, Spektrum der Wissenschaft 3/1992, S. 12. Nachgedruckt in Digest 2/2002 "Mathematische Unterhaltungen", S. 40.

Ian Stewart: Flexible Polyeder und die Blasebalg-Vermutung. Mathematische Unterhaltungen, Spektrum der Wissenschaft 6/1999, S. 110.
Stewart hat an einer Stelle durch unscharfe Ausdrucksweise einen Fehler gemacht (und ich habe ihn beim Redigieren nicht bemerkt, o weh!). Siehe die detaillierte Diskussion unter http://www.math.niu.edu/~rusin/known-math/98/flexible.vol

Rotating rings and flexible frameworks. Kapitel aus Peter Cromwell: Polyhedra, S. 237 ff.

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