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Anleitung zur Risikointelligenz

Wenn wir Risiken bewerten, liegen wir oft daneben. Denn wir lassen uns leicht von Statistiken täuschen, schenken Experten blindes Vertrauen und hören zu wenig auf unser Bauchgefühl, so Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Der Psychologe gibt Tipps, wie wir es besser machen können.

Vor allem im Gesundheitssystem, klagt er, würden die Menschen durch irreführende Informationen verwirrt. Ein Beispiel sei das Mammografie-Screening, eine Reihenuntersuchung zur Früherkennung von Brustkrebs. In zahlreichen Broschüren liest man, das Screening verhindere 20 Prozent der Todesfälle durch Brustkrebs. Eine beeindruckende Zahl, aber leider nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich sterben von 1000 Frauen, die am Screening teilnehmen, binnen zehn Jahren rund vier an Brustkrebs. Von 1000 Frauen, die nicht am Screening teilnehmen, sterben im gleichen Zeitraum etwa fünf daran.

Und was bedeutet es, wenn eine Frau beim Mammografie-Screening einen positiven Befund erhält? Diese Frage stellte Gigerenzer 160 Gynäkologen. Das erschreckende Ergebnis: Die Mehrheit der Ärzte glaubte, der Befund zeige an, dass die Betroffene beinahe gewiss Brustkrebs habe. Eine fatale Fehleinschätzung. Unterziehen sich 1000 Frauen zehn Jahre lang dem Screening, werden rund 100 von ihnen positiv getestet. Von diesen 100 sind nur etwa zehn tatsächlich erkrankt, wie der Autor darlegt.

Gigerenzer beleuchtet, warum Ärzte oft verblüffend schlecht über Risiken Bescheid wissen und weshalb sie ihren Patienten häufig überflüssige Behandlungen angedeihen lassen. Nicht nur Unkenntnis, auch Interessenkonflikte und defensives Entscheidungsverhalten spielten dabei eine Rolle. Deshalb sei es im Gesundheitssystem überaus wichtig, Risiken transparent und verständlich zu kommunizieren. Mit einfachen Mitteln, etwa dem Wiedergeben natürlicher Häufigkeiten und dem Präsentieren von Faktenboxen, könne man für deutlich mehr Klarheit sorgen, als wenn man die Beteiligten mit relativen Häufigkeiten und Fünf-Jahres-Überlebensraten verwirre, wie bislang oft der Fall.

Auch das Finanzwesen knöpft der Autor sich vor. Sehr eindrücklich beschreibt er etwa, warum Banken mit ihren prognostizierten Wechsel- und Aktienkursen regelmäßig danebenliegen. Die Fachleute, schreibt Gigerenzer, machten immer wieder denselben Fehler: Sie wendeten komplexe mathematische Modelle, die für eine Welt bekannter Risiken gelten, auf ungewisse Szenarien an. Heraus kämen nutzlose Vorhersagen, die in ihrer Treffsicherheit oft sogar unter Zufallsniveau lägen.

In einer Welt der Ungewissheit genügt es nicht, auf Experten zu zählen und sich in der trügerischen Sicherheit aufwändiger Risikoberechnungen zu wiegen, so das Fazit. Vielmehr sollten wir uns auch auf Faustregeln und Intuition verlassen und stets kritisch nachfragen, wenn wir etwas nicht verstanden haben. Viele dieser Punkte hat Gigerenzer schon in früheren Werken herausgearbeitet, etwa in "Bauchentscheidungen" (2007). Sein neues Buch ist aber durch einen wesentlich stärkeren Fokus auf medizinische Probleme gekennzeichnet und räumt hier mit verhängnisvollen Irrtümern auf. Ein erhellendes Werk, das zu gesunder Skepsis ermuntert.

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