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Rollentausch: Die Welt mit anderen Augen sehen

Ab und an in eine andere Rolle schlüpfen oder eine Reise in ein fremdes Land unternehmen: Das hilft uns, Herausforderungen aus einem neuen ­Blickwinkel zu betrachten, und fördert unsere Kreativität.
Perspektivwechsel

Künstler verstecken sich seit jeher gern hinter Decknamen. Manchmal geschieht das aus ganz pragmatischen Gründen: Nicholas Kim Coppola wollte vermeiden, dass ihm bloß auf Grund seines berühmten ­Onkels, des Regisseurs Francis Ford Coppola ("Der Pate", "Apocalypse Now"), Jobs zugeschus­tert werden. Daher benannte er sich um in Nicholas Cage – und wurde als Schauspieler und Produzent selbst berühmt. Häufig ist der Künstlername auch griffiger; man vergleiche etwa Udo Jürgen Bockelmann mit – kurz und knackig – Udo Jürgens. Oft könnte man sogar schwören, das Pseudonym sei der eigentlich richtige Name. Oder haben Sie schon mal von Samuel Langhorne Clemens gehört? Dafür ist Ihnen Mark Twain aber sicher ein Begriff.

Wohl kein Prominenter trieb das Spiel mit dem Namen weiter als Fernando Pessoa, einer der ­bedeutendsten Dichter des modernen Por­tugal. ­Pessoas Pseudonyme waren keine bloßen ­Pseudonyme, es waren "Heteronyme". Ein Heteronym ist mehr als ein ­Alternativ-Name, es ist ein Alternativ-Ich.

Pessoas Heteronyme, von denen er über 70 schuf, waren von ihm erfundene Persönlichkeiten, in deren Haut er zeitweise schlüpfte. Teils besaßen sie sogar eigene Geburtsdaten, Macken, Vorlieben, Abneigungen und natürlich einen ganz eigenen Schreibstil. In einem Brief an seinen Freund Adolfo Casais Monteiro schrieb ­Pessoa, er könne seine anderen Ichs geradezu vor sich sehen:

"Ricardo Reis wurde 1887 in Porto geboren (ich erinnere mich nicht an den Tag und den Monat, aber irgendwo habe ich die Daten), er ist Arzt und lebt im Moment in Brasilien [...]. Álvaro de Campos kam am 15. Oktober 1890 in Tavira zur Welt [...]. Er ist, wie Sie wissen, Schiffbauingenieur (in Glasgow), aber im Moment ist er hier in Lissabon, ohne zu arbeiten. Caeiro ist von mittlerer Statur [...]. Ricardo Reis ist ein wenig, aber nur sehr wenig kleiner, robuster und hager. Álvaro de Campos ist groß (1,75 m, zwei cm größer als ich selber), mager und geht leicht gebückt."

Selbstverständlich kannten sich Pessoas Heteronyme auch untereinander und standen in engem Kontakt. Ricardo Reis schrieb beispielsweise über Gedichte, die Caeiro und de Campos verfasst hatten, und umgekehrt kritisierte Álvaro de Campos auch mal Pessoa selbst. Ein Bekannter Pessoas berichtet, der Dichter habe ihm bei einer Begegnung auf der Straße einmal gesagt: "Sie sprechen heute mit Álvaro de Campos", wobei auch seine Stimme anders als sonst geklungen haben soll.

Tatsächlich war es schwer zu sagen, wo bei Pessoa das Spiel aufhörte und der Wahn begann. Unabhängig davon spricht vieles für die Vermutung, dass seine außergewöhnliche literarische Produktivität von seinem eigentümlichen Ego-Hopping abhing: Seine drei Haupt-Heteronyme erfand er in einem Schaffensrausch, zeitgleich mit mehreren großen Gedichten. Oder besser ­gesagt: Erst als Reis, Caeiro und de Campos von Pessoa Besitz ergriffen, schufen sie einige seiner Meisterwerke.

Pessoas ungewöhnlicher Schaffensprozess deutet darauf hin, dass unsere Kreativität manchmal von einer Instanz gebremst wird, die uns näher nicht stehen und von der wir abhängiger nicht sein könnten: von unserem eigenen Ich ...

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  • Quellen

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Maddux, W., Galinsky, A.: Cultural Borders and Mental Barriers: The Relationship Between Living Abroad and Creativity. In: Journal of Personality and Social Psychology 96, S. 1047-1061, 2009

Polman, E., Emich, K. J.: Decisions for Others Are More Creative Than Decisions for the Self. In: Personality and Social Psychology Bulletin 37, S. 492-501, 2011

von Zimmermann, C. (Hrsg.): Fakten und Fiktionen. Narr, Tübingen 2010

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