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Geschichte eines mathematischen Außenseiters

Benoît B. Mandelbrot (1924 – 2010) ist als "Vater der Fraktale" weltberühmt geworden. Die fantastisch geformte, stachlige Teilmenge der komplexen Ebene, die heute seinen Namen trägt, hat unzählige Profis wie Amateure zu computergrafischen Anstrengungen animiert, weil ihre Umgebung sich mit leichter Mühe so einfärben lässt, dass die unglaublichsten Strukturen zu Tage treten. Der Begriff "Fraktal" ist zu einem neuen Paradigma in der Mathematik und ihren Anwendungen avanciert; es soll Zeiten gegeben haben, in denen in jeder zweiten wissenschaftlichen Veröffentlichung zur Physik das Wort "Fraktal" vorkam. Mittlerweile sind die merkwürdigen Gebilde mit Rauheit auf jeder Größenskala, bei denen jeder beliebig kleine Teil dem Ganzen in einem gewissen Sinne ähnlich ist und die so merkwürdige Dimensionen wie 1,26186 aufweisen, im Schulunterricht angekommen.

In seiner Autobiografie, die postum von seiner Familie und engen Freunden vervollständigt wurde, beschreibt Mandelbrot seinen Lebensweg als ebenso rau und chaotisch wie ein Fraktal. In der Tat ist es ungewöhnlich, wenn ein Mathematiker die erste Fassung seines Hauptwerks erst mit 51 Jahren veröffentlicht und seine erste unbefristete Professorenstelle mit 75 antritt. Mandelbrot hat in seiner Karriere reichlich einstecken müssen – und später reichlich ausgeteilt. In seinem Buch drückt er sich dagegen stets sehr milde aus.

Bei der Schilderung der Kindheit und Jugend wird dem deutschen Leser unweigerlich etwas anders zumute. Um dem wachsenden Antisemitismus zu entgehen, zieht seine polnisch-jüdische Familie bereits 1936 nach Frankreich, wo Benoîts Onkel Szolem Mathematikprofessor ist, muss aber bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs um ihr Leben fürchten. Wenn der kleine Benoît nicht sehr viel Glück und zahlreiche selbstlose Helfer gehabt hätte, wüssten wir vielleicht heute noch nicht eine Vielzahl der augenscheinlich verschiedensten Phänomene unter dem gemeinsamen Konzept "Fraktal" zu verbinden.

Den üblen Erfahrungen seiner Jugend zum Trotz hat Mandelbrot keine Vorbehalte gegenüber den Deutschen gezeigt. Im Gegenteil: Mit Heinz-Otto Peitgen und seinen Kollegen von der Universität Bremen hat er bei der Popularisierung seiner Werke eng zusammengearbeitet (Spektrum der Wissenschaft 9/1989, S. 52).

Obgleich Benoît den Umständen entsprechend nur sehr unregelmäßig die Schule besucht, besteht er die französische Reifeprüfung und die Eingangsprüfungen zu den Elitehochschulen mit traumhaften Punktzahlen. Damit steht ihm eine akademische Karriere in Frankreich offen; aber er kann sich nicht damit anfreunden. Zu dieser Zeit dominieren André Weil und seine prominenten Kollegen, die sich unter dem Pseudonym "Nicolas Bourbaki" zusammengetan haben, die französische Mathematik. Sie propagieren einen extremen Formalismus; Denken in geometrischen Bildern und Analogien ist verpönt. Wie sehr diese Ausrichtung Mandelbrot zuwider war, spricht er erst viel später im Buch aus, indem er in einem ganz anderen Kontext André Weil als seine Nemesis bezeichnet.

Mandelbrot verbringt unruhige Lehr- und Wanderjahre an vielen Orten. Dabei arbeitet er mit mehreren Leuten zusammen, die später berühmt werden: dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget in Genf, dem Molekularbiologen Max Delbrück am Caltech in Pasadena und dem Computerpionier John von Neumann in Princeton. 1951 gelingt es ihm, das Gesetz von George Kingsley Zipf zur Verteilung von Worthäufigkeiten in geschriebenen Texten zu verallgemeinern: eine erste Entdeckung von Ordnung im Chaos, die eben nicht auf ein Zusammentreffen zufälliger unabhängiger Ereignisse (und damit auf die allgegenwärtige gaußsche Glockenkurve) hinausläuft.

Als ihm 1958 das Thomas J. Watson Research Center der IBM einen Sommerjob anbietet, nimmt er an – und bleibt 35 Jahre, bis die Firma ihre wissenschaftlichen Aktivitäten gänzlich einstellt. In diese Zeit fallen seine großen Werke, allen voran "Die fraktale Geometrie der Natur" (Spektrum der Wissenschaft 7/1988, S. 114). Aus verschiedenen Gründen "sammelte sich eine Halde unvollendeter Entwürfe an, die schwer in den Griff zu bekommen war". Auf den dringlichen Rat seines Freundes Mark Kac verarbeitet er in drei Schritten "eine erhebliche Menge an Originalarbeiten … in Kombination mit einer fraktalen Grundsatzerklärung und einer Fallsammlung" zu dem Buch, das seinen Weltruhm begründet, die Collegegebühren seiner beiden Söhne finanziert und heute noch nachgedruckt wird.

Die Mathematik kannte die Fraktale, wenn auch nicht unter diesem Namen, schon lange vor Mandelbrot. Allerdings pflegte man bis weit ins 20. Jahrhundert diese Kopfgeburten wegen ihrer verstörenden Eigenschaften als "Monster" zu verabscheuen (Spektrum der Wissenschaft 3/1992, S. 72). Mit seinen Fallbeispielen führt Mandelbrot den Nachweis, dass Fraktale zahlreiche Dinge aus der Natur wie Gebirge, Blitze, Wolken, Küstenlinien, Bäume und Blutgefäße weit besser modellieren als die wohlgeformten Standardfiguren der klassischen Geometrie. Hier kommen seine Stärken zum Tragen: das Denken in Bildern und das Entdecken von Analogien zwischen scheinbar weit entfernten Gegenstandsbereichen.

Die Mathematiker alter Schule pflegen ein eher distanziertes Verhältnis zur physischen Realität; es dürfte auch ihren Neid erregt haben, dass Mandelbrot mit seinen bunten Bildern im Gegensatz zu ihnen die öffentliche Aufmerksamkeit bis zur Tagespresse auf sich zog. Diese Vorbehalte scheinen inzwischen weit gehend verschwunden: Man liest mittlerweile auch in mathematischen Fachveröffentlichungen das Wort Fraktal ohne Gänsefüßchen.

Gegen Ende seines Lebens schließt sich ein merkwürdiger Bogen: von der Weltwirtschaftskrise, die seine frühe Kindheit überschattete, bis zur aktuellen Finanzkrise. Für die Schwankungen von Börsenkursen hat er beizeiten das mathematische Modell der Multifraktale entwickelt (Spektrum der Wissenschaft 5/1999, S. 74); im Buch deutet er vorsichtig an, dass die Finanzwelt sich vielleicht anders entwickelt hätte, wenn sie sich nicht das konkurrierende mathematische Modell von Black und Scholes mit deren berüchtigter Formel zu eigen gemacht hätte. Aber darüber scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 08/2013

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