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Kommentare - - Seite 1

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  • Wie wär´s mal mit angewandter Chemie?

    15.04.2013, Marcus Wolf
    Im Rückblick (April 2013) auf den bewusst inszenierten und medial ausgeschlachteten Hype fällt mir (Chemiker) auf, dass bis in die jüngste Gegenwart hinein die chemischen Grundlagen für die Emergenz enrgetischer und genetischer Moleküle nicht einmal ansatzweise diskutiert werden. Das war nicht immer so - immerhin hat bereits Frank. H. Westheimer, einer der Pioniere der Aufklärung biochemisch relevanter Reaktionsmechanismen, in seiner Veröffentlichung "Why Nature Chose Phosphates" (F.H. Westheimer, Science, 235 (1987), 1173-1178.) ausgiebig die Beobachtung diskutiert, dass Poly-Arsenate und Arsenat(V)-Ester, im Vergleich mit Poly-Phosphaten und Phosphat-Estern um Grössenordnungen schneller hydrolysiert werden und dementsprechend viel zu geringe Halbwertszeiten haben, um für phosphorylierungs-analoge Energieübertragungen oder DNA-analoge Moleküle verwendbar zu sein. In aquatischen Lebensräumen können also nur solche Moleküle eine biochemisch signifikante Rolle spielen, welche eine hinreichend lange Lebensdauer haben. Die Argumentation Westheimers begibt sich immerhin auf die chemische Spur, ohne aber die chemischen Grundlagen ab initio anzuwenden - was in diesem Falle aber erfolgreich anwendbar gewesen wäre.

    Wie man als chemisch informierter Fachgenosse argumentieren könnte, möchte ich hier kurz entwickeln. Am Ende wird man sehen, dass auch die Biologen hätten erkennen müssen, dass die Arsenat-Hypothese keine chemischen Grundlagen haben kann.

    Am Anfang steht die Beobachtung (oder die Kenntnisnahme der experimentellen Beobachtungen), dass die Arsen(V)-säure, H3AsO4, signifikant stärker sauer ist als die Ortho-Phosphorsäure, H3PO4 (siehe die Literaturübersicht in J. Phys. Chem. Ref. Data, Vol. 31, No. 2, 2002). Auch wenn die Qualität und Konsistenz der Literaturdaten bei weitem nicht an die Genauigkeit der pKs-Werte für die Phosphorsäure heranreichen (von den Referenten wird eine Revision der experimentellen Bestimmung ausdrücklich nahegelegt - gerührt hat sich auf diesem Gebiet aber seit 2002 anscheinend nichts), so zeichnet sich hier wieder einmal eine beobachtbare Auswirkung des Periodensystems an. Was meine ich damit?

    Nehmen wir einmal an, die experimentell bestimten pKs-Werte der Arsensäure sind richtig bestimmt und erweisen sich in einer sorgfältigen experimentellen Revision tatsächlich als negativer als die analogen pKs-Werte der Phosphorsäure. Die unmittelbare, molekülchemisch richtige Erklärung dafür wäre dann, dass die Elektronendichte an den Oxid-Liganden des Arsenat-Anions geringer ist als an den Oxid-Liganden des Phosphat-Ions, die O-H -Bindungen in der Arsensäure und den Hydrogenarsenat(V)-Anionen also schwächer sind als beim leichteren, homologen Phosphat(V)-Anion. Das Zentralatom im Arsenat(V)- muss also stärker elektronegativ sein als das Zentralatom im Phosphat(V)-Anion. Daraus folgt auch, dass die Abschirmung des Zentralatoms gegen Nucleophile wie OH- -Ionen oder Wasser im Arsenat(V)- schwächer ausfallen muss, als im Phosphat(V)-Anion. Zusätzlich kommt das grössere Molekülvolumen des [AsO4]3- ins Spiel, so dass das Zentralatom im [AsO4]3- grundsätzlich leichter nucleophil angegriffen werden sollte, als das Zentralatom im [PO4]3-.

    Spätestens hier beginnt der Chemiker, in seinen Lieblings-Lehrbüchern zu blättern. Die Standard-Didaktik geht gerne über den Umstand hinweg, dass der Trend der Elektronegativitäten in den Gruppen der p-Block-Elementen eben nicht monoton abnehmend ist, genauer: nicht bei den Elementen Ga, Ge, As und Se. Hier wird gerne von einer "Anomalie" in der Periodizität der p-Block-Elemente gesprochen. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich diese Redensweise aber auch nur wieder als Erklärungs- und Theoriedefizit mancher Wissenschaftsgenossen.

    Die chemisch richtige Erklärng liegt in der 3d-Orbitalkontraktion der Elemente Sc bis Zn. Die effektive Kernladung Zeff ist wegen der bekannten Richtungs- und Winkel-abhängigen Quantisierung (Anzahl der Knotenebenen für die Quantenzahl l=3) der 3d-Orbitale stark genug, dass die 4p-Orbitale der unmittelbar folgenden Elemente, insbesondere für die Atomrümpfe Ga3+, Ge4+, As5+, Se6+ und Br7+ stark kontrahiert sind. Da die Elektronegativität seit Linus Pauling immer als die variable Eigenschaft von Atomen in chemischen Verbindungen betrachtet wird, kann die experimentelle Beobachtung der Säurestärke von Arsensäure in wässrigen Medien als eines der stärksten Argumente für die 3d-Orbitatalkontraktion betrachtet werden. Dass die Natur Phosphat und nicht Arsenat als energetisch und genetisch relevantes Molekül bevorzugt, lässt sich stimmig mit den Subtilitäten des Periodensystems in Zusammenhang bringen. Diese Hypothese lässt sich, sozusagen "Ab Initio", aus dem Fundus des Periodensystems und des Elektronegativitäts-Begriffs, entwickeln. Vorausgesetzt, man könnte über diese chemische Information verfügen und wollte sie ehrlicherweise auch zur Sprache bringen.

    Der Arsenat-Hype war keine Tragödie und kein vermeidbarer Unfall, sonder die Konsequenz einer Degeneration, zumindest im Mainstream der wissenschaftlichen Gemeinde. Das kommt dabei heraus, wenn den Erzählungen der Kommunikationstheoretiker die Deutungshoheit über naturwissenschaftliche Argumente zugestanden wird. Skandalös wird der Fall nicht durch eine schlecht ausgebildete Biologin, sondern dadurch, dass im Nachgang kaum jemand aus der wissenschaftlich informierten Gemeinde den offensichtlichen PR-Motivationen der soziologisch operierenden NASA-Administratoren in den Weg treten wollte.
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