Direkt zum Inhalt

Kommentare - - Seite 1

Ihre Beiträge sind uns willkommen! Schreiben Sie uns Ihre Fragen und Anregungen, Ihre Kritik oder Zustimmung. Wir veröffentlichen hier laufend Ihre aktuellen Zuschriften.
  • Notwendigkeit der Verbreitung der theoretischen Grundlagen von selbstorganisierenden Systemen

    02.10.2014, Prof. Regine Reichwein
    Den Artikel „Begrabt das Zwei-Grad-Ziel“ von David G. Victor und Charles F. Kennel finde ich nicht nur wegen seiner vielen Anregungen für neue Fragestellungen außerordentlich wichtig. Die Autoren weisen indirekt auch darauf hin, dass sich allmählich – nicht nur im Bewusstsein der wissenschaftlich arbeitenden Menschen – ein neues Denken bei allen – nicht nur bei denjenigen, die sich über die Zukunft des Planeten Sorgen machen – ausbreiten sollte.
    Es ist inzwischen durch viele Veröffentlichungen bekannt, dass selbstorganisierende Systeme von hoher Komplexität sind und dass alle zur Selbstorganisation beitragenden Variablen miteinander wechselwirken. Daher sind die entstehenden Prozesse nicht gezielt kontrollierbar und meist nur in Echtzeit beobachtbar.
    In solchen Systemen sind Versuche, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge herzustellen – wie in den reduktionistischen wissenschaftlichen Ansätzen üblich –, nicht geeignet, längerfristig tragfähige Aussagen zu machen.

    Wenn die Autoren fordern, dass wir im Zusammenhang mit dem Klimawandel neue Ziele brauchen, und dass es an der Zeit sei, endlich eine große Zahl verschiedener „Lebenszeichen“ der Erde zu erfassen und zu verfolgen, halte sicher nicht nur ich das für eine sinnvolle wissenschaftliche Aufgabe.

    Nur vermisse ich an dem Artikel den Versuch der Autoren, deutlich zu machen, dass wir aufgrund der Besonderheiten dieser nichtlinearen dynamischen bzw. selbstorganisierenden Systeme in unseren wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten prinzipiell beschränkt sind.

    Unbestimmtheit und die damit einhergehenden Unsicherheiten sind mit hoher Wahrscheinlichkeit – noch – nicht geeignet, Menschen zu einem achtsamen Verhalten im Umgang mit den Ressourcen der Umwelt und zu einer Akzeptanz notwendiger Grenzen des industriellen Wachstums zu veranlassen. Zurzeit wollen nicht nur Politiker verlässliche Grundlagen für ihre Entscheidungen und Sicherheiten für die Richtigkeit ihres Handelns haben.
    Die meisten Menschen haben Schwierigkeiten im Umgang mit Unbestimmtheit und bisher waren es wenigstens Erkenntnisse in den Wissenschaften, die Sicherheit versprachen.
    Auch wenn es um selbstorganisierende Systeme geht, werden solche Sicherheit versprechenden Erkenntnisse – manchmal wider besseres Wissen – weiterhin formuliert, aber leider sind sie prinzipiell nicht möglich.

    Zwar kann man sich einigermaßen darauf verlassen, dass die solchen Systemen zugrunde liegenden Prinzipien ihre Gültigkeit behalten – ähnlich wie bei den grundlegenden physikalischen Gesetzen –, aber sichere Aussagen für die zukünftige Entwicklung von einzelnen Prozessen sind nicht möglich.

    Ich denke, dass wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Verpflichtung haben, die neuen Einschränkungen und Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung im Zusammenhang mit selbstorganisierenden Systemen immer dann, wenn sie auftreten, auch deutlich zu machen.
    (Siehe dazu u. a. Reichwein „Lebendig sein“, 2010 und Reichwein „Verantwortlich handeln“, 2014).
    In einer Welt, in der nicht nur die lokalen, sondern auch die globalen Prozesse Auswirkungen auf jede einzelne Person haben, kann man sich der Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit nicht entziehen, ohne das es zu erheblichen Verzerrungen in der persönlichen Wirklichkeit und zu destruktiven Wirkungen im gesamten Umfeld kommt.
    Sinnvolle Ziele der Erkenntnisgewinnung und des Handelns lassen sich jedoch ohne bestehende Sicherheiten definieren. Das haben die Autoren deutlich gezeigt.
    Aber die Öffentlichkeit muss ebenfalls meiner Ansicht nach ebenso wie die Entscheidungsträger lernen, dass man auch dann versuchen kann, sinnvoll zu handeln, wenn man nicht sicher sein kann, das anvisierte Ziel auch zu erreichen. Selbst Versuche – die in Bezug auf das gewünschte Ziel erfolglos waren – haben ihren eigenständigen Wert und spielen meist eine bedeutende Rolle in den stets auch damit einhergehenden Wechselwirkungsprozessen.
    Allgemein gesagt, es geht nicht nur darum, das „Zwei-Grad-Ziel“, sondern auch die Vorstellung „sicherer“ Erkenntnisse in Bezug auf die Entwicklungen selbstorganisierender Systeme zu begraben.
    Bei den beiden Autoren möchte ich mich für ihre differenzierte, engagierte und komplexe Darstellung der auf uns zukommenden Probleme im Zusammenhang mit dem Klimawandel ausdrücklich bedanken.

    Regine Reichwein
Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.