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Kommentare - - Seite 1

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  • Gläubiger versus Wissenschaftler

    19.04.2011, Martin Overbeck, Wolfenbüttel
    Bei dieser Rezension drängt sich mir der Verdacht auf, dass hier ein Gläubiger (Christ?) von dem eigentlichen wissenschaftlichen Inhalt des Buches und den Ergebnissen ablenken will. Wenn – wie Gerald Wolf behauptet – nichts Neues, Besseres oder Brauchbareres bei diesem Buch herausgekommen ist, warum schreibt er dann eine Rezension für "Spektrum"?

    Es gibt bis heute keine allgemein anerkannte wissenschaftliche Definition des Phänomens Religion. Dies ist aber nicht wenig erstaunlich, wie der Rezensent Wolf hinsichtlich der Glaubensvielfalt festhält, sondern höchst erstaunlich, wie der Autor des Buches feststellt. Immerhin gibt es seit Jahrhunderten theologische Lehrstühle, jede Menge gläubige Naturwissenschaftler und seit neuestem auch Religionswissenschaftler, die exakt diese Definition erbringen müssten, so sie könnten oder wollten. Als Biologe sollte Herr Wolf wissen, dass man auch trotz Millionen Arten von Lebewesen sagen kann, was Biologie ist.

    Wolf fällt ein vernichtendes Urteil über das Buch und den Autor, wenn er sagt, dass weder eine bessere noch ein brauchbarere Definition dabei herausgekommen ist. Brauchbar für wen oder was? Im Vergleich zu den bisherigen Definitionen, die mit dem nicht messbaren, nicht erklärlichen Transzendenten spielen, kommt bei Andreas Kilian sogar eine erstaunlich präzise und streng biologische Definition des Begriffs Religion heraus, mit der Naturwissenschaftler arbeiten können. Es ist weltweit die erste biologische Definition dieses Phänomens! Möge bitte die Wissenschaft selbst entscheiden, ob diese brauchbarer ist.

    Auch der suggestive Hinweis, dass mit dem Zitat von Ambrose Bierce doch schon alles gesagt sei, ist nicht die Hälfte der Wahrheit. Wolf zitiert Kilians Definition erst gar nicht, obwohl sie wesentlich weiter greift.

    Richtig bemerkt Wolf, dass Kilian verhältnismäßig wenig auf neurobiologische Ergebnisse eingeht. Dies ist aber nicht verwunderlich, da der Schwerpunkt des Buches auf verhaltensbiologischen Aspekten liegt.

    Der Rezensent lobt zwar den klug formulierten Text und die Logik des Autors, stellt ihn aber in die Ecke von Richard Dawkins und Daniel Dennett. Hier gehört Andreas Kilian nun wirklich nicht hin, denn der konsequent wissenschaftlich-biologische und nicht polemische Ansatz bildet eine eigenständige Forschungsarbeit.

    Verwunderlich ist auch, dass dem Biologen Kilian eine fehlende Antwort auf die Sinnfrage vorgeworfen wird. Herr Wolf, selber Biologe und Mediziner, sollte eigentlich wissen, dass die Evolution gerichtet, aber nicht zielgerichtet verläuft. Herr Kilian arbeitet als Biologe also vollkommen korrekt, wenn er nicht auf den Sinn von evolutiven Ereignissen oder "letzten" Sinnfragen eingeht, sondern stattdessen nach dem Zweck der Argumentationsebene Religion fragt. Und eine mögliche Antwort ist korrekterweise die Interpretationshoheit, nach der alle Vertreter der Religionen streben.

    Völlig untragbar ist der persönliche Angriff des Rezensenten auf den Autor. Suggestivfragen nach persönlichen Problemen des Autors sind unter der Gürtellinie und gehören nicht in eine Zeitschrift wie "Spektrum der Wissenschaft". Hier disqualifiziert sich der Rezensent.

    Am Ende unterstellt Herr Wolf die Überflüssigkeit des Buches, wenn er resümiert, was der Mensch damit anfangen soll, wo er doch einen rettenden Strohhalm der herzerwärmenden Lebenslügen haben will. Nun, möge dies jeder Leser selbst entscheiden, ob er wissenschaftlich und intellektuell kühl, aber hochkarätig mitdiskutieren möchte. Argumente und Ergebnisse findet er bei Kilian.

    Auch die Behauptung, dass man unter diesem Titel ebenfalls die "großen und letzten" Fragen der Quantenmechanik und Astrophysik hätte beschreiben können, weist in die Ecke Überflüssigkeit. Herr Wolf übersieht offensichtlich den Unterschied zwischen Ursache und Wirkung in dem Titel "Die Logik der Nicht-Logik" und der Alternative des Zufalls in "Logik" oder "Nicht-Logik".

    Mit seiner Behauptung, dass die Gottesfrage auch unter Einhaltung streng wissenschaftlicher Kriterien hier mitspielt, erhärtet sich noch einmal der Verdacht, dass der Rezensent wohl selber gläubig ist. Wissenschaftler arbeiten bekanntlich nicht mit dieser Hypothese. Sie sollte auch bei dem biologisch-kulturellen Phänomen Religion sowie dessen Definition außen vor bleiben können.
    Stellungnahme der Redaktion

    O Gott!, drängt es mich als Atheisten auszurufen.



    Herr Overbeck hat die Formulierung wie auch die Intention der Rezension missverstanden. Einen Großteil meines Textes habe ich auf die Würdigung des Buchinhaltes verwendet, wobei ich im Sinne Kilians - anders als von Herrn Overbeck dargestellt - weit mehr dem Religionsskeptiker als dem Gläubigen das Wort rede. Das Ringen um eine neue Definition mag dem Autor zwar ein wichtiges Anliegen gewesen sein, im Buch aber nimmt es verhältnismäßig wenig Raum ein. Weit mehr Respekt ist der Leistung Kilians für die Analyse des Phänomens Religion zu zollen – ich stelle ihn insoweit in eine Reihe mit Dawkins und Dennett!



    Dass nach wie vor eine allgemein akzeptierte Definition für Religion fehlt, hat Gründe, die ähnlich auch für die begriffliche Abgrenzung von Obst und Gemüse gelten. (Üblich ist "essbare Früchte" versus "essbare Nichtfrüchte". Aber das passt schon für Gurke und Tomate nicht. Ähnlich hängt von der Enge oder der Weite der Religionsdefinition ab, ob man den Schamanismus und den Buddhismus hinzurechnet.) Oder sollten die vom Autor entwickelten Begriffsbestimmungen wirklich einen solchen (von mir verkannten) Durchbruch bedeuten?



    1. Religion (Definition »allgemein«, S. 205): Angstminderndes Konzept aus Betrug und Selbstbetrug, um seine Egoismen besser ausleben zu lassen.


    2. Religion (Definition »biologisch«, S. 176 und 205): Durch ego-zentrierte neuronale Module hervorgerufene Erschaffung, individuelle Bereitstellung und tradierte Aufrechterhaltung einer nicht-logischen Argumentationsebene, um seine individuellen Egoismen mit und gegen seine Gruppenmitglieder rechtfertigen, durchsetzen und befriedigen zu können.



    Beide Definitionen sind wenig spezifisch und vernachlässigen zudem ein durchaus auch evolutionsbiologisch begründbares sozialstrategisches Prinzip: den Altruismus. Der Begriff kommt bezeichnenderweise im Sachregister des Buches gar nicht vor, im Gegensatz zu dem des Egoismus, für den hier zig Seiten angegeben werden. Bei allen Problemen und Gefahren, die den Religionen durch egoistisch Motivierte oder Verleitete innewohnen, darf nicht übersehen werden, dass es viele Menschen gibt, die in ihrer Haltung zum Glauben von Selbstlosigkeit, Edelsinn und Herzensgüte geprägt sind. Wer zum Zynismus neigt, mag freilich selbst im Uneigennutz den Eigennutz entdecken - das »egoistische« Stiften von Mit-Freude etwa oder das Überwinden von Mit-Leid durch Mildtätigkeit. Anders als die Religionsdefinition des Autors zeugt die von Ambrose Bierce zitierte (zugegeben, ein Bonmot eher) wenigstens von Witz.



    Herr Overbeck verübelt, dass ich auf den wunderschönen Titel von Kilians Werk auch für Bücher zur Quantenmechanik oder zur Astrophysik rekurriere. Jeder denkende Mensch, zumal jeder Naturwissenschaftler, muss fasziniert sein, wenn er vernimmt, dass es auf diesen Feldern mit den Prinzipien unserer gewohnten Logik ebenfalls hapert. Und wie sympathisch: Die jeweiligen Fachvertreter kokettieren damit sogar!



    Meine persönliche Haltung ist in einem Interview nachzulesen, das am 20. April in "Christ und Welt" (Beilage zu "Die Zeit") erschienen ist.



    Prof. Dr. Gerald Wolf, Magdeburg

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