Direkt zum Inhalt

Kommentare - - Seite 1

Ihre Beiträge sind uns willkommen! Schreiben Sie uns Ihre Fragen und Anregungen, Ihre Kritik oder Zustimmung. Wir veröffentlichen hier laufend Ihre aktuellen Zuschriften.
  • Keine Angst vor Selbstbezüglichkeit

    28.05.2015, Jürgen Klüver, Essen
    Ob es sich bei der Paradoxie der angekündigten Hinrichtung wirklich um eine im strengen Wortsinne handelt, kann man dahingestellt sein lassen. Sie thematisieren am Schluss jedoch allgemeiner das Problem der Selbstbezüglichkeit und teilen anscheinend die landläufige Meinung, dass Selbstbezüglichkeit strikt zu vermeiden ist. Angeblich führt sie notwendig in Paradoxien oder – Ihr Beispiel im Kasten – sie lässt beliebige Schlussfolgerungen zu. Diese Meinung ist ehrwürdig, aber deswegen noch lange nicht richtig. Dabei wird nämlich regelmäßig übersehen, dass die berühmten Paradoxien der Selbstbezüglichkeit – der Barbier rasiert alle, die sich nicht selbst rasieren, was ist die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten – immer nur aus einer Kombination von Selbstbezüglichkeit und Negation entstanden sind. Schon das logische Gegenstück des selbstbezüglichen Satzes "dieser Satz ist falsch", also nicht wahr, ist der ebenfalls selbstbezügliche Satz "dieser Satz ist wahr" und da ist weit und breit keine Paradoxie zu sehen.

    Ihr Beispiel mit dem Osterhasen, nebenbei gesagt, "war kein Heldenstück, Octavio". Der "Beweis" ergibt sich nicht aus der Selbstbezüglichkeit des Satzes, sondern daraus, dass Sie einfach eine unsinnige Implikation aufstellten. Genauso können Sie die Existenz des Osterhasen ableiten aus "wenn Dortmund deutscher Fußballmeister 2015 ist, dann gibt es einen Osterhasen". Da (leider) Dortmund nicht Meister ist, ist nach Ihrer Logik die Existenz des Osterhasen bewiesen und zwar ganz ohne Selbstbezüglichkeit. Dass dies eine korrekte Implikation ist, liegt natürlich, wie Sie selbst bemerkt haben, am Prinzip des "ex falso quodlibet". Das hat aber per se mit Selbstbezüglichkeit nichts zu tun; insbesondere kann Ihre Prämisse "der Satz ist wahr" durchaus wahr sein. Dann ist nicht nur der Osterhase nicht bewiesen, sondern die ganze Implikation ist falsch.

    Selbstbezüglichkeit (Selbstreferentialität) ohne Negation ist nicht nur nichts, was unbedingt zu vermeiden wäre, sondern im Gegenteil etwas ungemein Hilfreiches, wenn man komplexe Systeme wie Kognition oder soziale Systeme modellieren will. Das Bewusstsein kann selbstreferentiell über sich nachdenken, soziale Systeme können sich durch Eigeneinschätzung verändern etc. Wenn man, so wie ich, derart komplexe Systeme modellieren will, kommt man um Selbstreferentialität nicht herum. Das geht jedoch auch ohne grundsätzliche Probleme, weil es völlig widerspruchsfrei möglich ist, formale Systeme wie z. B. künstliche neuronale Netze oder evolutionäre Algorithmen so zu konstruieren und implementieren, dass sie sich ständig auf sich selbst beziehen und sich ggf. sogar strukturell selbstbezüglich verändern. Mit derartigen komplexen Programmen arbeiten wir ständig. Nebenbei bemerkt hat bereits Douglas Hofstadter in "Gödel, Escher, Bach" vor mehr als 30 Jahren auf derartige Möglichkeiten hingewiesen; er konnte sie freilich damals noch nicht realisieren.

    M.a.W.: Meine Behauptung, dass Selbstbezüglichkeit ohne Negation nicht nur nichts zu Vermeidendes ist, sondern im Gegenteil eine wesentliche Bereicherung der Möglichkeiten, algorithmische Modellierungen komplexer Systeme durchzuführen, wird durch die praktische Existenz derartiger Programme sehr konstruktiv bestätigt. Man sollte also die Angst vor der Selbstbezüglichkeit dahin stecken, wohin sie schon lange gehört, nämlich auf den Müllhaufen überholter Ideen.

    Stellungnahme der Redaktion

    Na ja. Ich würde mal sagen, Selbstbezüglichkeit ist wie Dynamit: ein überaus wirksames Werkzeug – gut für ein ganzes Kultbuch namens "Gödel, Escher, Bach" –, das jedoch besonderer Vorsicht beim Umgang bedarf, weil seine Anwendung gelegentlich und unbeabsichtigt katastrophale Folgen hat. Deswegen ist es sinnvoll, es in gewissen Kontexten zu verbieten – was seine Nützlichkeit im Allgemeinen nicht in Frage stellt. Ich habe in dem Artikel ja zitiert, dass sich die Fachleute uneins sind, wie weit in diesem speziellen Fall ein Verbot gehen soll.


    Der Satz "Wenn Dortmund deutscher Fußballmeister 2015 ist, dann gibt es einen Osterhasen" ist zwar zweifellos wahr, aber nutzlos. Insbesondere kann man aus ihm nicht die Existenz (oder auch Nichtexistenz) des Osterhasen erschließen, weil die Prämisse falsch ist. Dagegen ist bei dem Satz S aus dem Artikel die Prämisse nicht offensichtlich falsch. Sie erscheint als wahr, wenn man in eine der Fallen der Selbstbezüglichkeit tappt. Und es gibt kein einfaches Kriterium, korrekte von inkorrekten Anwendungen der Selbstbezüglichkeit zu unterscheiden. Dass eine Negation im Spiel ist, ist jedenfalls kein brauchbares Kriterium. Der Satz vom Osterhasen enthält keine Negation. Andererseits ist Gödels Satz eine korrekte Anwendung der Selbstbezüglichkeit, enthält jedoch eine Negation: "Ich bin wahr, aber unbeweisbar."


    Man fühle sich frei, mit Selbstbezüglichkeit zu arbeiten – aber bitte vorsichtig!


    Christoph Pöppe, Redaktion

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.