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Sprache: Abschied vom Baukastenprinzip

Viele Neuroforscher hielten es bislang für selbstverständlich, dass unser Denkorgan Grammatik anders verarbeitet als etwa die Bedeutung von Wörtern. Mit dieser Ansicht räumen die Linguisten Ina Bornkessel-Schlesewsky und Matthias Schlesewsky nun auf.
Eine Frage der Ordnung
Irrungen und Wirrungen prägten seit jeher die Neurolinguistik. Das überrascht wenig – versucht doch diese Wissenschaftsdisziplin die ­Verbindungen zwischen zwei hochkomplexen Systemen aufzuklären: Sprache und Gehirn. Wir wissen zwar, dass das eine aus dem anderen hervorgehen muss – wie das genau funktioniert, bleibt jedoch rätselhaft.
Zu einem herausragenden Beispiel für weit verbreiteten Irrglauben zählt die Annahme, im Gehirn gäbe es sprachliche Zentren, wobei insbe­sondere Areale im Frontalhirn eine tragende Rol­le spielten. Diese Idee geht auf Franz Josef Gall (1758-1828) zurück, den Begründer der Phrenologie. Glaubt man einer oft kolportierten Anekdote, so fiel ein Student Galls nicht nur durch sein herausragendes verbales Gedächtnis auf – er hatte zudem weit vorstehende Augen.
Wie wir heute wissen, dürfte Letzteres vermutlich durch eine Schilddrüsenerkrankung ver­ursacht worden sein. Gall nahm jedoch an, dass die beiden Phänomene direkt miteinander zusammenhingen: Die Fähigkeit zur Worterkennung und -spei­cherung müsse demnach im Stirnlappen lokalisiert sein – je talentierter eine Person, desto voluminöser die entsprechende Hirnregion. Der erhöhte Platzbedarf drücke daher die Augen regelrecht aus dem Schädel heraus.
Galls Annahme eines Sprachzentrums im Frontallappen stieß nicht nur unter seinen Zeitgenossen auf viele Anhänger, zu denen etwa der französische Arzt und Anthropologe Pierre Paul Broca (1824-1880) zählt – dem Namensgeber des Broca-Areals. Sie findet sich bis heute auch in Lehrbüchern der Neurologie, und selbst renommierte Forscher wie der israelisch-kanadische Linguist Yosef Grodzinsky von der McGill University in Montreal oder der Neurowissenschaftler Kuniyoshi Sakai von der Universität Tokio vertreten sie. Es gab jedoch immer wieder auch prominente Geg­ner der so genannten Lokalisationstheorie. Basierend auf eigenen Arbeiten wandte sich etwa Sigmund Freud (1856-1939) in seinem 1891 erschienenen Buch "Zur Auffassung der Aphasie" vehement gegen diese Sichtweise. Leider verhallten seine Argumente ungehört oder wurden in späteren Diskussionen immer im Kontext der psychoanalytischen Denkweise diskreditiert.
Aus dieser Lokalisationsperspektive entstand eine Auffassung, die sich ähnlich hartnäckig hielt und seit etwa 60 Jahren vertreten wird: Die Grammatik lasse sich hirnphysiologisch von ­anderen Aspekten der Sprache strikt trennen ...

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  • Quellen
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Bornkessel-Schlesewsky, I., Schlesewsky, M.: Processing Syntax and Morphology. A Neurocognitive Perspective. Oxford University Press, Oxford 2009

Bornkessel-Schlesewsky, I., Schlesewsky, M.: The Role of Prominence Information in the Real-Time Comprehension of Transitive Constructions: A Cross-Linguistic Approach. In: Language & Linguistics Compass 3, S. 19-58, 2009

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Hagoort, P. et al.: The Syntactic Positive Shift (SPS) as an ERP Measure of Syntactic Processing. In: Language and Cognitive Processes 8, S. 439-483, 1993

Kolk, H. H. J. et al.: Structure and Limited Capacity in Verbal Working Memory: A Study with Event-Related Potentials. In: Brain and Language 85, S. 1-36, 2003

Kuperberg, G. R. et al.: Electrophysiological Distinctions in Processing Conceptual Relationships within Simple Sentences. In: Cognitive Brain Research 17, S. 117-129, 2003

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